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Zaungäste des Fortschritts oder: Meine Quarantäne

Wer kommt gut damit zurecht, von seinem Staat in Isolationshaft genommen zu werden? Und wer leidet erheblich, zerbricht vielleicht sogar daran? Es kommt sicher darauf an, wie man seinen Charakter in der Zeit "vorher" entwickelt hat. Mit Corona schlägt eigentlich die Stunde der Introvertierten. Sie haben gelernt, gut mit dem Daheimsein, dem Alleinsein, mit Büchern und ihren eigenen Gedanken zurecht zu kommen. Die meisten anderen können sich nur durch das noch reichlich vorhandene digitale Angebot "retten", das ihnen die Angst vor der inneren Leere nimmt. Ist andauernde menschliche Gesellschaft überhaupt so erstrebenswert, vor allem wenn man überwiegend von "Normopathen" umgeben ist? Gerade unter den Dichtern und Denkern gab es etliche, die die Wonnen der Einsamkeit ständiger Umtriebigkeit vorzogen. Götz Eisenberg erinnert an einige von ihnen.

Corona-Tagebuch, Teil 5

Von Götz Eisenberg

In gewisser Weise habe ich gut reden. Im Grunde hat sich für mich durch die Corona-Regeln nichts oder nicht viel geändert. Ich lebe seit ewigen Zeiten in einer selbst auferlegten, freiwilligen Quarantäne - als Eremit, umgeben von Bücherregalen. Lesen und Schreiben, meine Haupttätigkeiten, kann man nur in ruhiger Abgeschiedenheit betreiben. Zwischendurch gehe ich in der Stadt und ihrer Umgebung umher und sammle Eindrücke, von denen ich schreibend und denkend zehre. Seitdem ich begriffen habe, dass Theoriebildung nicht nur in Bibliotheken und an Schreibtischen stattfindet, sonder auch auf der Straße, treibe ich mich viel herum - mit offenen Augen und Ohren. Die Stadt ist meine ständige Empirie, Ethnologie des Inlands meine Lieblingsdisziplin. Linke Theoriebildung krankt seit eh und je daran, dass es ihr nur ungenügend oder gar nicht gelingt, ihre Begriffe nach unten, zu den Erfahrungen der Menschen und ihrem Alltagsleben hin zu öffnen.

Der Maulwurf ist das Wappentier der Revolution. "Brav gewühlt, alter Maulwurf!", begrüßt Marx sein Wiederauftauchen nach einer längeren Latenzperiode. Große Teile seiner Existenz spielen sich unterirdisch ab. Er wühlt unter der Erde und ist dann an der Oberfläche unsichtbar. In diesen Phasen ist es unsere Aufgabe, uns hinzusetzen und an der Theorie der Veränderung zu arbeiten und sie auf den jeweils neuesten Stand zu bringen. "Kritik", hat der Genosse Hans-Jürgen Krahl, der vor 50 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, gesagt, "ist das theoretische Leben der Revolution". Gerhard Zwerenz hat sein "sous terre" in seinem Roman Kopf und Bauch so beschrieben: "Meine eigene Lösung: Bücher schreiben. Die Revolution in den Kopf zurücknehmen, aus dem sie gekommen ist. Dort schützen, aufbewahren, für neue Gelegenheiten trainieren." Wichtig ist der Zusatz: Für neue Gelegenheiten trainieren, die Revolution nicht aus dem Blick und aus dem Sinn verlieren. Aktives Warten, so paradox es für undialektische Ohren klingen mag.

Aber wird dürfen uns eben nicht nur hinsetzen und Bücher wälzen, sondern müssen die Augen aufmachen und beobachten, was die Leute bewegt, wovon sie träumen und wonach sie sich sehnen. Solange Menschen nicht frei sind, werden sie träumen - tagsüber und nachts. Wir müssen rausbekommen, wovon eine Kassiererin träumt, wenn sie wie in Trance unsere Einkäufe über den Scanner zieht. Damit wir dann, wenn eines Tages der Maulwurf wieder seinen Mulm aufwirft, imstande sind, den Menschen zu interpretieren, was mit ihnen los ist, und den Gedanken für alle verständlich auszusprechen, nach dem sich ihre Wirklichkeit drängt. Wir müssen nach Lage der Dinge natürlich auch damit rechnen, dass die Maulwürfe aussterben und wir auf verlorenem Posten stehen. Damit kann, damit will ich mich aber noch nicht abfinden.

Die Fähigkeit zum Alleinsein

Privilegiert sind wir, bin ich aber auch noch aus einem anderen Grund. Besondere lebensgeschichtliche Umstände haben mich zum Solitär werden lassen, zu einem Ein-Mann-Indianerstamm. Eine klassenspezifische Sozialisation hat uns zeitig zum Lesen und Stillsitzen angehalten. Früh floh ich aus einer für mich unerträglichen familiären Situation in die Welt des Imaginären und des Lesens. Ich träumte vor mich hin und las. Unsere Generation hat insgesamt noch gelernt, sich in Texte zu versenken, und sich mit Innerlichkeit, unseren und anderer Leute Beweggründen auseinanderzusetzen. Wir konnten die "Fähigkeit zum Alleinsein" erwerben, von der beim englischen Psychoanalytiker Winnicott die Rede ist. In seinem Buch Reifungsprozesse und fördernde Umwelt hat er die Bedingungen beschrieben, unter denen sich die Fähigkeit zum Alleinsein ausbilden kann. Die Fähigkeit, allein sein zu können, kann sich nur entwickeln, wenn ein Kind die verlässliche, leibliche Anwesenheit von Erwachsenen erlebt, die in den frühen Stadien des Lebens als Hilfs-Ich fungieren und Schutz vor der ansonsten aufflackernden Angst gewähren.

Später wird ein solches Kind fähig, auf die wirkliche Anwesenheit der Mutter oder Mutterfigur zu verzichten, weil es eine aus stabilen Bildern zusammengesetzte innere Umwelt errichtet hat, die die äußere Stützung tendenziell überflüssig macht. Schon diese wenigen Andeutungen vermitteln uns eine Ahnung, dass diese Fähigkeit keineswegs selbstverständlich erworben wird, sondern etwas ist, das selten ist. Zumal in der sogenannten Medien- und Informationsgesellschaft, in der Computer, Handys und flackernde Bildschirme schon die frühe Umwelt der Kinder bestimmen, werden die Bedingungen für die Ausbildung der Fähigkeit zum Alleinsein schwächer werden oder gar absterben. Für unsere heutigen Handyjunkies und digitalen Somnambulen scheint es nichts Bedrohlicheres zu geben, als einmal für eine Stunde von ihm getrennt und allein zu sein. Aus dem Alleinsein steigen Ängste und Gefühle der Leere auf, die durch permanentes Online-Sein gebannt werden. Im Sinne Pascals wachsen der Zerstreuung in Gestalt der digitalen Gerätschaften mächtige Instrumente zu.

Was das Schlimmste wäre: Wenn sich über dem Land und den in Wohn-Haft gehaltenen Leuten ein Funkloch ausbreiten würde. Die Leute würden massenhaft psychisch dekompensieren und die Gewalt würde eskalieren. In Zeiten einer Pandemie regiert die erzwungene Einsamkeit. Wohl dem, der gelernt hat, allein sein zu können und der Begegnung mit den eigenen Untiefen und Abgründen standzuhalten, von denen bei Pascal die Rede ist. Die Langweile ist als Quelle innerer Einkehr und von Träumereien nicht zu verachten.

Hölderlins Turm

Ein weiteres Privileg, von dem ich berichten muss und das meine Lage von der vieler anderer unterscheidet, ist meine Wohnsituation. Ich lebe in einer geräumigen Altbauwohnung, in der die Decken hoch sind und einem nicht so schnell auf den Kopf fallen. Der Hausbesitzer hat sich die neoliberale Aufforderung, Wohneigentum ausschließlich zum Zweck der Bereicherung zu benutzen, nicht zu eigen gemacht. Die Miete ist also bezahlbar und ich habe Platz, auch wenn ich mir diesen durch Bücher- und Papierstapel deutlich verringert habe. Eben hat der Postbote ein weiteres Buch gebracht. Er kam die Treppe hinauf und war, oben angekommen, etwas aus der Puste. "Das tut mir gut, jetzt, wo das Fitness-Studio geschlossen ist", sagte er lachend. Die Unterschrift auf dem Touchscreen ersparte er mir, "wegen Corona".

"Dichterisch wohnet der Mensch", heißt es bei Hölderlin, dessen 250. Geburtstag dieser Tage  begangen wurde. Er lebte, nachdem er die Torturen des Irrenhauses überstanden hatte und zum hoffnungslosen Fall erklärt worden war, 36 Jahre lang im Turm des Tischlermeisters Zimmer in Tübingen. Man kann den Rhythmus seiner Schritte, mit denen er das Turmzimmer durchmaß, in seinen Gedichten wiederfinden. Ich habe einmal miterleben dürfen, wie der französische Germanist Pierre Bertaux das während eines Vortrags demonstrierte. Hölderlin war sicher ein Pascal’scher Meister des Inhäusigen. Er blieb in seinem Zimmer und nahm am Getriebe des Fortschritts nicht teil, der für ihn eine Form des Krieges war. Robert Walser, der sich Hölderlin sehr nah fühlte und selbst die zweite Hälfte seines Lebens in einer Anstalt verbrachte, schrieb über dessen Zeit im Turm: "Ich bin überzeugt, dass Hölderlin die letzten dreißig Jahre seines Lebens gar nicht so unglücklich war wie es die Literaturprofessoren ausmalen. In einem bescheidenen Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Martyrium. Die Leute machen nur eines daraus!"

An anderer Stelle schreibt Walser: "Hölderlin hielt es für angezeigt, das heißt für taktvoll, im vierzigsten Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüßen, wodurch er zahlreichen Leuten Anlass gab, ihn aufs unterhaltendste, angenehmste zu beklagen." Walser macht die Psychiatrisierung und Entmündigung Hölderlins nicht mit und setzt ihn als Subjekt und Autor seiner Lebensgeschichte ins Recht. Er hat eine Wahl getroffen und es vorgezogen, die Menschen und ihre Geschäftemacherei zu meiden. Hölderlin wie Walser zogen es vor, "Zaungäste des Fortschritts" zu sein, wie Adorno es einmal einfühlsam formulierte. Auf seine dezente Art verbat sich Walser auch die eigene Pathologisierung: "Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich."

In einem Brief an den Freund Christian Ludwig Neuffer aus dem November 1798 schrieb Hölderlin: "… ich fürchte, das warme Leben in mir zu erkälten an der eiskalten Geschichte des Tags, und diese Furcht kommt daher, weil ich alles, was von Jugend auf Zerstörendes mich traf, empfindlicher als andere aufnahm, und diese Empfindlichkeit scheint darin ihren Grund zu haben, dass ich im Verhältnis mit den Erfahrungen, die ich machen musste, nicht fest und unzerstörbar genug organisiert war." Dieser Satz könnte auch von Robert Walser stammen. Seit ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, begleitet er mich durchs Leben in der sozialen Kälte. Ich kenne diese Furcht und halte Hölderlins Erklärung für plausibel. Auch meine seelische Hornhaut ist für diese Welt nicht dick und stabil genug. Albert Camus empfand ähnlich und notierte kurz vor seinem Tod in seinem Tagebuch: "Das Unglück, in das Alter der Verantwortungen einzutreten, ohne den Verlust der Sensibilität, der mit ihm einherzugehen pflegt und der dann erlaubt, diese Verantwortungen ohne besondere Rücksicht auf die anderen zu übernehmen."

Ganz anders als das dichterische Wohnen Hölderlins und kläglich sieht die Realität des heutigen Wohnens aus. Man zwängt die Menschen in Wohnmaschinen aus Beton. Man kann einen Menschen mit einer schlechten Wohnung genauso töten wie mit einem Messer, heißt es bei Brecht. Wenn man Menschen über längere Zeit in solche Wohn-Schachteln sperrt, darf man sich nicht wundern, wenn sie aus dem Fenster springen, krank werden oder aufeinander losgehen. Die Aggressionen drehen sich im Kreis und richten unter den Eingesperrten ihre Verheerungen an.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 01.04.2020.

Veröffentlicht am

02. April 2020

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