Das Virologen-OrakelSatire wird schwierig, wenn das, was man sich in seinen morbiden Vorstellungen ausmalt, ständig von der Wirklichkeit eingeholt wird. Götz Eisenberg berichtet in dieser Folge seines Tagebuchs u.a. von einer durch den Krieg um Klopapier motivierten Gewalttat. Corona-Vorsicht betrachtet er als eine Frage der Mathematik. Dennoch stellt er als kritischer Zeitgenosse die Frage: Wollen die Mächtigen mit ihren Notstandsmaßnahmen nur exekutieren, wonach sie sich schon lange gesehnt haben? Corona-Tagebuch 2Von Götz Eisenberg Inzwischen ist alles gedämpft und es herrscht spürbar weniger Verkehr. In der Nacht sind deutlich weniger saufende und grölende Jungmänner durch die Straße gezogen. Sehr wohltuend. Aber noch haben nicht alle den Ernst der Lage erkannt. Man sollte den Unbelehrbaren die Tagesschaubilder eines nächtlichen Militärkonvois zeigen, der in einer norditalienischen Stadt die Särge von Corona-Toten zu den Krematorien bringt. Wer über solche Bilder nicht das Fürchten lernt, dem ist, wie im Märchen der Brüder Grimm, nicht zu helfen. Ein Freund schreibt mir: "Ein wesentliches Problem für den gemeinen Idioten ist nun mal, dass ein Virus eben sinnlich nicht zu erfassen, also weder zu sehen, noch zu riechen, zu hören, zu fühlen oder zu schmecken und daher - im Idealfall - lediglich für den Verstand zu ‚greifen’ ist. Und leider hapert es bei viel zu vielen Leuten schlichtweg an Letzterem. Zumal die momentanen Maßnahmen ja keine Frage von Panikmache oder Aktionismus sind, sondern schlichtweg - von solchen Kleinigkeiten wie Empathie und Dezenz mal abgesehen - eine Frage der Mathematik, sprich der exponentiellen Ausbreitung. Aber auch das will offenbar nur schwer in diverse Vakuumschädel … obwohl da wahrlich Platz genug wäre." Schon Ludwig Wittgenstein wunderte sich, dass man bei allen Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, auf ein Gehirn stieß. Der Klopapier-WahnsinnIm Supermarkt verlieren sich ein Dutzend Kunden. Vor der Kasse halten die Leute von sich aus Abstand. Niemand wagt zu husten, man kommuniziert mit Blicken und stummen Gesten. Vielleicht haben die mahnenden Worte der Kanzlerin und die gebetsmühlenartig wiederholten Verhaltensanweisungen der Virologen doch etwas bewirkt. Ein Mann fragt die Kassiererin in höflichem Ton, wann denn wieder Klopapier reinkäme. Er habe sich, als die Klopapier-Hysterie ausbrach, bewusst zurückgehalten. Nun habe er aber die letzte Rolle angebrochen und brauche dringend Nachschub. Die Kassiererin wusste es nicht. Draußen beim Rudelfick der Einkaufswagen treffe ich ihn wieder, und er klagt mir nochmal sein Leid. Er könne sich an Zeiten erinnern, da man Zeitungspapier in kleine Rechtecke zerrissen, auf eine Schnur gezogen und als Klopapier verwendet habe. Seine Frau sei aber eine Ecke jünger als er und ihr dürfe er mit solchen Vorschlägen nicht kommen. Mich wundert es, dass man noch nichts davon gehört hat, dass Heckscheiben von Autos eingeschlagen wurden, um dort unter gehäkelten Hauben verborgene Klopapierrollen zu rauben. Die Schwierigkeit von Satire besteht darin, dass sie immer häufiger von der Realität eingeholt und überholt wird. Kaum hatte ich diese läppische Bemerkung gemacht, wurde vom ZDF-Landesstudio NRW diese Meldung verbreitet: "In Würselen bei Aachen wurde in der vergangenen Nacht ein Auto aufgebrochen. Die Beute: zwei Pakete Klopapier zu je acht Rollen." Hoffentlich hat Martin Schulz, der ja aus Würselen stammt, ein Alibi. Bei der Notlage der SPD kann man nicht wissen. Neue LeitwissenschaftAm Schwanenteich schieben zwei junge Mütter ihre Kinder vor sich her. Sie unterhalten sich über die neuen Virologen-Gurus. "Ich finde den Drosten von der Charité voll cool", sagt die eine. Ihre Freundin pflichtet ihr bei, findet aber auch "den Kekulé mega". Die wahren Herrscher im Land sind zur Zeit die Virologen, die befragt werden, wie einst das Orakel von Delphi. Die Virologie hat die Betriebswirtschaft als Leitwissenschaft vorübergehend abgelöst. Bis vor vier Wochen kannte ich keine Vertreter dieses Faches, nun sieht man einen von ihnen jeden Abend in irgendeiner Talkshow. Sie avancieren zu Popstars, was sie sagen, ist Gesetz. Die Medizin wird erneut zur "Polizey-Wissenschaft", was sie zu Beginn der Moderne schon einmal gewesen ist. In den Medien gibt es nur noch ein Thema. Die Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze, der Syrien-Krieg, der Rechtsradikalismus kommen gar nicht mehr oder nur noch am Rande vor. Die Forderungen der AfD sind weitgehend erfüllt. Die Grenzen sind dicht, keine Fremden kommen mehr ins Land. Was will der Rechtsradikale mehr? Die AfD wird überflüssig und beginnt, sich zu zerlegen. Bei aller Berechtigung der über uns verhängten Maßnahmen, muss man doch festhalten, dass im Namen der Seuchenbekämpfung auch allerhand alte Macht- und Kontrollgelüste befriedigt werden. Der Staat führt sein Repressionspotenzial vor: Man kann plötzlich machen, was man immer schon mal machen wollte. Wir müssen unbedingt darauf dringen, dass nach dem Abklingen der Pandemie die autoritären und sozial-disziplinarischen Geschütze, die man im Kampf gegen das Virus in Stellung gebracht hat, wieder abgezogen und verschrottet werden. Die Notfallmaßnahmen dürfen sich nicht verstetigen und auf keinen Fall Teil einer neuen Normalität werden. Bei meiner Beschäftigung mit den Parallelen zwischen den Pestepidemien der frühen Neuzeit und dem, was man Corona-Krise nennt, bin ich auf ein Buch von Daniel Defoe aus dem Jahr 1722 gestoßen, das "Die Pest zu London" heißt. Defoe lässt einen Sattler auftreten, der sich während der Pestepidemie des Jahres 1665 bemüht, das Haus so selten wie möglich zu verlassen und unablässig seine Sünden beichtet. "Weiter beschäftigte ich mich in solchen Tagen mit Bücherlesen und schrieb in meinem Tagebuch nieder, was mir täglich vorkam …" Die Nähe zu einem Mann aus dem 17. Jahrhundert berührt mich. Bis auf das Beichten werde ich es einstweilen so halten wie dieser Sattler. Wir deuten solche Epidemien allerdings nicht mehr als göttliches Strafgericht und müssen uns selbst einen Reim auf das unbegreifliche Geschehen machen. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 25.03.2020. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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