Corona im GefängnisWie geht es in Zeiten von "Social Distancing" eigentlich den Strafgefangenen, die der unfreiwilligen Gemeinschaft mit anderen nicht ausweichen können? Sind sie der Epidemie hilflos ausgeliefert? Ist es - so könnte der brave Bürger fragen - um "solche" überhaupt schade? Oder freuen sie sich diebisch, weil alle Bürger, auch die unschuldigen, derzeit einen Knast mit Hafterleichterungen bewohnen? Der Autor kann sich die Situation in Gefängnissen gut vorstellen, denn er war über Jahrzehnte als Gefängnispsychologe tätig. Hier erzählt er die berührende Geschichte eines psychisch auffälligen Gefangenen, der in besonderer Weise Natur und Pflanzen liebte - hinter Gittern ein rares Gut. Mustafa, so sein Name, warnte davor, die Natur können gegen den Menschen "zurückschlagen". War der Mann ein Verrückter oder doch eher ein Weiser, ein Prophet? Corona-Tagebuch, Teil 12Von Götz Eisenberg Wer, wie ich, mehr als drei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht hat - wenn auch als Mitarbeiter, nicht als Insasse - wird es nicht so schnell los. Ich bin jetzt seit vier Jahren in Rente, wie man so sagt, aber ich bin in meinen Träumen und meinen Gedanken noch oft im Gefängnis. Gerade in den letzten Wochen habe ich oft darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn das Virus die Mauern überspringt und es dann für Gefangene wie Personal kein Entrinnen gibt. Man kann ja weder die einen noch die anderen einfach so nach Hause schicken. In Italien haben die Einschränkungen der Rechte der Gefangenen, die man im Zuge der Krise angeordnet hat, zu Gefängnisrevolten geführt, bei deren Niederschlagung etliche Häftlinge zu Tode kamen. Deutschland ist, wie Ulrich Sonnemann einmal bemerkte, das "Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten", und so wird es hier zu solchen Eskalationen voraussichtlich nicht kommen. Gestern stieß ich bei meiner immer noch andauernden Lektüre von Camus Die Pest auf eine Passage, in der es um die Lage im Gefängnis der von der Pest heimgesuchten Stadt Oran geht. Nicht der Gedanke an das Gefängnis schreckte die Kriminellen ab, sondern der Umstand, "dass eine Gefängnisstrafe infolge der extrem hohen Sterblichkeit im städtischen Kerker einem Todesurteil gleichkam. Natürlich war dieser Glaube nicht unbegründet. Aus einleuchtenden Gründen wütete die Pest besonders unter jenen, die die Gewohnheit hatten in Gruppen zu leben, unter Soldaten, Mönchen oder Gefangenen. Trotz der Isolierung bestimmter Sträflinge ist ein Gefängnis eine Gemeinschaft, und die Tatsache, dass in unserem Stadtgefängnis die Wärter genauso wie die Gefangenen der Krankheit ihren Tribut entrichteten, beweist dies. Vom höheren Standpunkt der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Sträfling alle verurteilt, und zum ersten Mal vielleicht herrschte im Gefängnis absolute Gerechtigkeit." Es ist an der Zeit, an einen Gefangenen zu erinnern, dem ich das Bild von der Gehirnantilope verdanke. Er hatte sich in eine Mitarbeiterin des Gefängnisses verliebt und schrieb ihr sehnsuchtsvolle Briefe. Gebeten, das sein zu lassen und die Dame nicht weiter mit seinen Liebesbekundungen zu behelligen, schrieb er, er könne dagegen nichts ausrichten, denn seine Gehirnantilope springe unablässig zu ihr hin, gleichgültig wie hoch die Zäune seien, die ihn von ihr trennten. Er wurde dem Psychiater der Haftanstalt vorgeführt und als psychotisch diagnostiziert - was er wohl auch tatsächlich war. Entweder er war es schon vor der Inhaftierung, und das Gericht, das ihn verurteilt hatte, hatte das nicht erkannt oder nicht erkennen wollen, oder er hatte die Psychose erst unter der Haft ausgebrütet, was gelegentlich vorkommt. Mustafa P. stammte ursprünglich aus Albanien und hatte eine lange Haftstrafe wegen eines Tötungsdeliktes zu verbüßen. Er behauptete, den Mord habe sein Bruder begangen und er habe die Schuld auf sich genommen, weil dieser Frau und Kinder und ein florierendes Geschäft habe. Er beklagte sich nicht und nahm das Urteil und die Strafe auf sich. Für das Gefängnis war das Urteil rechtskräftig und er somit schuldig. Irgendwann wurde er zur Arbeit in der Hofkolonne eingesetzt, was für ihn den Vorteil bot, sich außerhalb des Zellentraktes auf dem Anstaltsgelände bewegen und Gartenarbeiten verrichten zu können. Wenn es geregnet hatte und Regenwürmer über den Hof krochen, sammelte er sie ein und trug sie in der Hand an einen sicheren Ort. Zum Konflikt mit seinem Chef kam es, als Musfafa sich weigerte, Gras und sogenanntes Unkraut aus den Ritzen des Pflasters auf dem Hof zu entfernen. Seine Begründung: Dieses Gras habe soviel Mühe gehabt, sich durch die kleinen Spalten zu zwängen, und er habe es zu schützen und zu respektieren. Der Mensch betoniere immer größere Flächen zu und verhindere so den Austausch der Elemente Wasser und Erde und Luft. Er wässerte in gewissen Abständen seine Zelle, indem er die Wände mit Wasser bespritzte. Manchmal übertrieb er es, und Wasser drang unter der Tür hindurch auf den Gang. Das zog Disziplinarkonferenzen und sogenannte Hausstrafen nach sich. Er ließ von dieser Praxis der Befeuchtung trotz wiederholter Bestrafungen nicht ab, so dass irgendwann eine Konferenz einberufen und beraten wurde, wie weiter mit ihm verfahren werden sollte. Irgendjemand kam auf die glorreiche Idee, ihm einen Zimmerspringbrunnen zu genehmigen und zu besorgen, der für die nötige Durchfeuchtung der Luft sogen könne. Auf diese Lösung ließ Mustafa sich ein, auch weil er auf diese Weise der erste und einzige Strafgefangene in Deutschland sein würde, der über einen Zimmerspringbrunnen verfügte. Im Jahr 1992 kam es in Mitteleuropa zu einem vergleichsweise heftigen Erdbeben, dessen Epizentrum im niederländischen Roermond lag. Auch in Nordrhein-Westfalen richtete es große Schäden an. Am stärksten betroffen war auf deutscher Seite die Gemeinde Heinsberg, die gerade als eines der Epizentren der Corona-Epidemie in Deutschland in die Schlagzeilen geriet. Auch bei mir in meiner damaligen Gießener Dachwohnung stürzten Bücherregale zusammen und entstanden Risse in den Wänden. Mustafa reagierte auf dieses Beben, das die Gefängnismauern wackeln ließ, wie ein hochsensibler Seismograph, und war für eine Weile völlig durch den Wind, wie man so sagt. Er entfaltete eine unermüdliche schreiberische Tätigkeit und schrieb an Gott und die Welt lange Briefe. Unter anderem wurden Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Papst Johannes Paul II. mit langen Schreiben bedacht. Die Postzensur rätselte, ob man diese Briefe passieren lassen sollte, aber es gab keine juristische Handhabe, sie nicht in die Post zu geben und auf den Weg zu bringen. Mustafa war vielleicht der einzige, der dem Erdbeben einen Sinn abgewinnen konnte. Der bestand in seinen Augen darin, dass die Natur sich gegen ihre komplette Versiegelung aufbäumte. Die Erde versuchte, den Betonüberzug, den der Mensch ihr verpasst hatte, abzuschütteln. Das Beben war Strafe für den menschlichen Frevel und Warnung zugleich. Mustafa sah sich als Sprecher des siebten oder zwölften Universums, das weiß ich leider nicht mehr so genau. Die Briefe waren im Tonfall ähnlich, wie die Reden amerikanischer Indianerhäuptlinge: bildhaft, eindringlich und voller Sendungsbewusstsein. Er selbst hatte in seinem Auftreten auch etwas von der Würde eines Häuptlings oder Schamanen. Da ich ihn in jener Zeit betreute und ihm gelegentlich beigesprungen war, erklärte er mich zum größten Psychologen des siebten oder zwölften Universums und verlieh mir eine entsprechende Urkunde. Irgendwann wurde er in eine psychiatrische Einrichtung verlegt und ich verlor ihn aus den Augen. Noch später hörte ich, er sei entlassen worden und habe sich kurz darauf vor einen Zug geworfen. Meine Hirn-Antilope ist möglicherweise auch aus dem Grund zu Mustafa gesprungen, weil mich angesichts der Coronakrise ein ähnliches Anliegen umtreibt: das scheinbar kontingente Geschehen mit Sinn auszustatten und lange Briefe zu schreiben. Bloß, dass ich keine Adressaten habe, an die ich sie schicken könnte, sondern anonym einem Blog anvertraue und einfach so in den Strom der Zeit werfe. Und ich kann das Geschehen nicht mehr als Strafe Gottes deuten, sondern muss mir den Sinn mühsam aus dem zusammenklauben, was von Vernunft und Aufklärung noch übrig ist. Wenn überhaupt Strafe, dann dafür, dass wir es zugelassen haben, dass das von allen Beschränkungen befreite Geld mit schweren Stiefeln auf dem Erdball herumtrampelt und ganze Kontinente und Landstriche zermalmt und verwüstet. Passend dazu sah ich am Samstagabend auf arte hintereinander zwei Dokumentationen über das Aussterben der Vögel und der Insekten. Harter Tobak, nichts für sensible Menschen. Mein Gedanke danach: Es wird Zeit, dass die Menschen von der Erde verschwinden, sie richten nur Unheil an. Wer würde es nach solchen Berichten noch wagen, Emil Cioran zu widersprechen, der schon vor fast einem halben Jahrhundert schrieb: "Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selber." So dass, dann doch beinahe im Sinne von Mustafa, die Natur heute dabei ist, ihren Irrtum zu korrigieren und sich anschickt, uns wieder loszuwerden. Die Natur schlägt zurück und wird nach unserem Verschwinden Zeit und Raum haben, sich zu erholen. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 17.04.2020. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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