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Corona-Paranoia oder: Die Hölle, das sind die anderen

"Haben wir jetzt noch Corona oder nicht?" Die meisten Menschen tun sich schwer mit Übergangssituationen, mit Uneindeutigkeit. Es kommt daher in "Lockerungs"-Zeiten zu merkwürdigen Phänomenen, die der literarische Flaneur Götz Eisenberg scharfsinnig beschreibt. Einerseits bleibt der Schrecken, das Zurückweichen vor dem anderen, potentiell ansteckenden Menschen; andererseits breiten sich Corona-Müdigkeit - vor allem der Überdruss an den immer gleichen Medien-Erzählungen - und vielleicht verfrühter Leichtsinn aus.

Corona-Tagebuch, Teil 20.

Von Götz Eisenberg

In den letzten Wochen wurde ich verschiedentlich an das berühmte Sartre’sche Diktum aus dem Theaterstück Bei geschlossenen Türen: "… die Hölle, das sind die anderen" erinnert. Sartre dachte dabei nicht an die besondere Situation einer Epidemie, sondern an den Alltag in der bürgerlichen Gesellschaft, die jeden zum Folterknecht des anderen macht. Die Menschen sind gezwungen, in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression zu leben. Sie werden zu Konkurrenten und damit tendenziell zu "Gegenmenschen".

Gestern, am 15. April, hat Peter Sloterdijk im Arte Journal ein kurzes Statement zur Corona-Krise abgegeben. Die Gefahr einer Verstetigung der Grundrechtseinschränkungen sehe er in Deutschland eher nicht, sagte er. "Dein Wort in Gottes Ohr", dachte ich. Sein Ur-Vertrauen in die Stabilität der deutschen Demokratie habe ich nicht. Was seiner Meinung aber sehr wohl zurückbleiben könnte, sei "ein leises Anwachsen des paranoiden Faktors im menschlichen Verhalten, weil man nach Epidemien daran denkt, dass der andere ein Ansteckungsherd sein könnte".

Bei mir beobachte ich ein rapide nachlassendes Interesse an den allabendlichen Sondersendungen und den immer gleichen Talkshows mit den immer gleichen Gästen. Bestimmte Leute scheinen an den Sesseln festgetackert zu sein und von Studio zu Studio getragen zu werden. Anfangs habe ich diese Sendungen mit Interesse verfolgt, nun beginnen sie mich zu langweilen. Man sagt sich: "Weiß ich ja bereits alles, hab ich schon tausend Mal gehört!" Der Spannungszustand weicht Indifferenz und einer müden Gereiztheit.

Gestern traf ich im Park die ersten Menschen, die vom Corona-Virus befallen waren. Ein Paar, das ich flüchtig kenne. Beide waren sichtlich abgemagert, bleich und geschwächt. Er war für eine Woche auf einer Corona-Station in der Uni-Klinik, sie hat die Krankheit zu Hause auskuriert. Es war das erste Mal, dass Corona aus der Abstraktion heraustrat und mir leibhaftig begegnete. Anschließend konnte ich an mir den Sloterdijk-Sartre-Effekt beobachten: "Bin ich ihnen auch nicht zu nahe gekommen? Wie lang ist so eine Krankheit ansteckend? Hat sie nicht einmal ungeschützt gehustet?"

Auf dem Balkon beginnt der jährliche Kampf mit den verliebten Tauben, die einen geeigneten Nistplatz suchen und ein Auge auf meinen Balkon geworfen haben. Unermüdlich schleppen sie kleine Äste herbei und beginnen mit dem Nestbau. Sie lassen sich weder von einer schwarzen Plastikkrähe, noch von einem großen selbstgebastelten Vogel abschrecken, der von der Decke der Loggia herabhängt und sich im Wind bewegt. Längst haben sie geschnallt, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Dann doch eher von mir. Wenn ich das verliebte Gurren vor der Balkontür höre, hinter der ich schreibend sitze, öffne ich die Tür und reklamiere mein Nutzungsrecht am Balkon. Dann fliegen sie auf und beobachten das Geschehen vom Dach des gegenüber liegenden Hauses aus. Irgendwann kapitulieren die Tauben und versuchen ihr Glück woanders.

Am Dienstag, dem 7. April 2020, wurde ein 15 Jahre alter Junge in Celle auf offener Straße erstochen. Er war abends mit dem Rad unterwegs und wurde von einem 29 Jahre alten Mann "mit einem Stichwerkzeug" angegriffen und tödlich verletzt. Passanten hielten den Mann fest, bis er von der Polizei festgenommen wurde. Der Angriff geschah nach Zeugenaussagen "aus dem Nichts". Täter und Opfer kannten sich offenbar nicht, es habe keinen Streit und keinerlei Kommunikation zwischen ihnen gegeben. Bevor man die Motive in der Psychopathologie des Täters sucht und die Tat zur Tat eines "psychisch gestörten Einzeltäters" erklärt, sollte man ein rassistisches Motiv in Erwägung ziehen. Das Opfer ist irakischer Herkunft, der Täter ein Deutscher. Nach all den Erfahrungen der letzten Jahre liegt es nahe, das Motiv im Bereich des rechtsradikalen Syndroms zu suchen.

Erst wenn man das gründlich geprüft hat und ausschließen kann, kann man in Erwägung ziehen, ob die Tat zu jenen seltenen Delikten gehört, die Polizei und Justiz Rätsel aufgeben, weil sie - jedenfalls auf den ersten Blick - ohne Motiv geschehen. Ich habe mich in meinem Buch Zwischen Anarchismus und Populismus in einem Kapitel, das Töten, um Bilder zu erzeugen heißt, ausführlich zu Taten dieses Typus’ geäußert. Häufig liegen solchen "Angriffen aus dem Nichts" paranoide Projektionen zugrunde. In dem erwähnten Kapitel meines Buches heißt es: "Gefährlich sind Paranoiker deswegen, weil sie dazu neigen, innere Verfolger nach außen zu verlegen und dort zu attackieren. Unvermittelt können sie eigene aggressive Tendenzen auf Fremde projizieren und diese dann in vermeintlicher Notwehr angreifen. Urplötzlich kann ein wildfremder Mensch, der zufällig den Weg eines Paranoiden kreuzt, für diesen zur Inkarnation alles Bedrohlichen und Bösen werden." Ich bin während meiner Tätigkeit im Gefängnis diesem Tätertypus gelegentlich begegnet und wurde auch innerhalb des Gefängnisses ein paar Mal Zeuge solcher Angriffe.

Als ich heute Kräuter für die erste grüne Soße des Jahres sammelte, hörte ich die erste Nachtigall der Saison. Sie saß in den Bäumen entlang eines Baches. Leider wieder kein Kuckuck weit und breit. Früher hörte man Nachtigall und Kuckuck oft am gleichen Tag zum ersten Mal. Die Rufe des Kuckucks waren in meiner Kindheit die Begleitmusik des Frühlings. Man bekam sie selten zu sehen, denn sie verbargen sich im Blattwerk der Bäume, aber hören konnte man sie überall. In alten französischen Filmen, deren Handlung in Gärten von Landhäusern angesiedelt ist, hört man fast immer im Hintergrund einen Kuckuck rufen.

In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 18./19. April 2020 findet sich im Feuilleton ein Gespräch mit Alexander Kluge über sein neues Buch Russland-Kontainer. Lothar Müller fragt: "In Ihren Büchern gibt es den ‚Antirealismus der Gefühle’. Das heißt, die Gefühle finden sich nicht immer mit den Tatsachen ab. Wie ist das jetzt?" Kluge antwortet: "Die Gefühle sind rebellisch. Sie sind Glückssucher. Das ist nicht von mir, das ist die Kernthese der Frankfurter Kritischen Theorie, und die hat es, denke ich, aus einigen Äußerungen von Nietzsche. Wir sind Illusionsfabrikanten, die auf das Glück wetten. Wir sind keine Wahrheitssucher."

An der Lahn sind junge Männer dabei, den Grill anzuschmeißen. Aus einer Bluetoothbox dröhnt Rap. Ein offenbar mit ihnen befreundeter Typ fährt mit dem Rad vorbei, bleibt stehen und sagt: "Hoffentlich ist der Corona-Scheiß bald vorbei!" "Deswegen verstecken wir uns ja hier", sagen die jungen Männer und fächeln die Glut auf dem Grill mit einem Stück Pappe an. Nur durch eine Hecke von ihnen getrennt sitzt ein älteres Ehepaar im Garten und leidet sichtlich unter dem Lärm. Sie haben gelernt, dass Reden nicht hilft.

Als ich gestern, am Samstag, dem 18. April, am Ufer der Lahn stand und auf den träge dahinfließenden Fluss schaute, rief jemand vom Wasser aus meinen Namen. Es war ein Bekannter, der mit seinem Paddelboot flussaufwärts unterwegs war. Er wohnt ein paar Kilometer weiter direkt am Wasser und erledigt bei gutem Wetter seine Einkäufe in der Stadt mit dem Boot. Er kam zu mir rüber und wir redeten eine Weile miteinander, wobei ich am Ufer auf einem Stein saß und er in seinem Boot hocken blieb und mit gelegentlichen Paddelschlägen verhinderte, dass die Strömung es forttrug. Ihm sei in der Stadt aufgefallen, dass es im Straßenverkehr wieder aggressiver zugehe, als in den letzten Wochen, in denen er eine deutliche Verlangsamung und Beruhigung des städtischen Verkehrs registriert habe. Seit der Verkündung der teilweisen Lockerung der Corona-Beschränkungen seien die Autos wieder rabiater unterwegs und insgesamt sei alles wieder lauter. Als hätten die Ankündigungen der Regierung, den Lockdown stufenweise zu lockern, eine Blockierung der Gashebel gelöst, die zwischenzeitlich für eine Beruhigung und einen Rückgang der Aggressivität gesorgt hatte. Mit der Normalität kehren auch ihre schäbigen und unangenehmen Züge zurück. Es wird wieder mehr gehupt und die Motoren röhren wieder lauter.

Vielleicht wird es sich erweisen, dass man einen Ausnahmezustand nicht teilweise aufheben kann. Trotz anders lautender Erklärungen von Seiten der Politik werden die partiellen Lockerungen von Vielen so gedeutet, als gebe es nun gar keine Beschränkungen mehr und als wäre der "Corona-Scheiß" vorüber. Das mag etwas mit der in dieser Kultur nur schwach ausgebildeten Fähigkeit zu tun haben, mit mehrdeutigen Situationen und Schwebezuständen umgehen zu können. Der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat darüber ein kluges Buch geschrieben, das Die Vereindeutigung der Welt heißt und bei Reclam erschienen ist. Man möchte es eindeutig haben: Entweder ist etwas so, oder es ist eben so, entweder wir haben Corona, oder wir haben kein Corona. Dass etwas so und gleichzeitig auch anders sein kann, übersteigt die kognitiven und psychischen Fähigkeiten der meisten Leute. Mit Ambiguitäten und Ambivalenzen leben und umgehen zu können, setzt die Entwicklung relativ reifer, dialektischer Ich-Funktionen voraus. Diese können sich lebensgeschichtlich nur unter gewissen Bedingungen, in einem von Empathie und Mitgefühl geprägten familiären Klima etwa, ausbilden, das viele Menschen nicht angetroffen haben. Sich in andere einfühlen und mehrdeutige Situationen in ihrer Mehrdeutigkeit prüfend belassen zu können, hat in Deutschland nie zu den öffentlich geförderten Eigenschaften gehört. Das könnte sich jetzt wieder einmal rächen.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 08.05.2020.

Veröffentlicht am

09. Mai 2020

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