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Die Häutung der Schlange

Mainstream-Narrative, "alternative" Narrative - wem glauben? Bezüglich Corona schießen besonders viele einander widersprechende Informationen und Behauptungen ins Kraut. Dr. Drosten gegen Dr. Wodarg, Links gegen Rechs und beide gegen die so genannte bürgerliche Mitte. Götz Eisenberg ist weniger auf dem Gebiet der Spekulation als auf jenem der sorgfältigen Beobachtung zuhause. Er diagnostiziert: Die Zustände im Deutschland dieser Tage ähneln tatsächlich vielfach denen in Diktaturen. Gängelung ist eher die Ausnahme als die Regel. Dennoch ist nicht jede Verschwörungstheorie, die hinter den "Schutzmaßnahmen" der Regierung Schlimmes vermuten, korrekt. Und die Phantasie der Bürger findet wie zu allen Zeiten Tricks, um die allgegenwärtige Verbots- und Überwachungskultur zu umgehen.

Corona-Tagebuch, Teil 24

Von Götz Eisenberg

Friedrich Hebbel notierte im August 1843 in sein Tagebuch: "Im Allgemeinen haben meine Tagebücher freilich sehr geringen Wert: Zustände und Dinge kommen kaum darin vor, nur Gedanken-Gänge, und auch diese nur, soweit sie unreif sind. Es ist, als ob eine Schlange ihre Häute sammeln wollte, statt sie den Elementen zurückzugeben. Aber man sieht doch einigermaßen, wie man war, und das ist sehr notwendig, wenn man erfahren will, wie man ist. Das ganze Leben ist ein verunglückter Versuch des Individuums, Form zu erlangen; man springt beständig von der einen in die andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des Experimentierens müde wird und sich von der letzten ersticken oder auseinanderreißen lässt. Ein Tagebuch zeichnet den Weg. Also fortgefahren!" Der Abschlussaufforderung Hebbels an sich selbst werde ich mich anschließen: "Also fortgefahren!"

Ein Eintrag aus dem Jahr 1843, kurz nachdem er erfahren hatte, dass sein kleiner Sohn an Hirnhautentzündung gestorben ist: "Man will einen im Wald nach dem Weg fragen, der hat blutige Hände, denn er hat eben gemordet."

Hier ein Kommentar von Hebbel zu Wilhelm Reich und Klaus Theweleit, ein antizipatorisches Plagiat sozusagen: "Jemanden oft prügeln, heißt, ihm aus seiner eigenen Haut einen Panzer schmieden."

1839 notiert er: "Der Traum ist eine Hülle um das Ich, das Wachen ist eine andere, und alle diese Hüllen bedecken am Ende - ein Nichts. So besteht die Zwiebel aus lauter Häuten, zieht die letzte ab, so ist sie nicht mehr." Der Berliner schnoddert: "Ik bin in mir jejangen, da is ooch nüscht!"

Und 1851 heißt es: "Die Seele ist der einzige Artikel, den man verkaufen und doch behalten kann. Darum verkaufen sie auch so viele."

Die Präsenz von uniformiertem Aufsichts- und Wachpersonal auf dem Wochenmarkt kann einem den Besuch verleiden. Seine Aufgabe besteht darin, an den Zugängen darauf zu achten, dass jeder Besucher eine Maske trägt. Das öffentliche Leben erinnert an Bilder aus Diktaturen und Polizeistaaten. Schlangen in bizarren Formationen schlängeln sich durch die vergrößerten Zwischenräume zwischen den Ständen. Manchmal weiß man nicht: Stehen die Leute hier einfach nur so herum oder sind sie Teil einer Warteschlange? Distanzmarkierungen sind aufs Pflaster aufgetragen worden. Die Passanten quetschen sich notgedrungen mitten durch die Wartenden hindurch. Manche Leute stellen ihre Indifferenz offen zur Schau, indem sie die Maskenpflicht ignorieren. Wenn sie überhaupt Wert auf eine ideologische Untermauerung ihrer Haltung legen, berufen sie sich auf Ärzte wie Wolfgang Wodarg, die behaupten, die grassierende Corona-Pandemie sei nicht schlimmer als eine gewöhnliche Grippe-Epidemie. Der Rest sei Panikmache im Interesse "der Eliten".

Bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Virologen-Zunft spielen sicher auch gekränkte Eitelkeiten eine Rolle. Aus meiner Zeit an der Uni kenne ich diese intellektuellen Weitpinkel-Wettbewerbe und den medialen Futterneid zur Genüge: "Warum sitzt dieser Depp in jeder Talkshow, während nach mir kein Hahn mehr kräht?" Unter anderem sie haben mich veranlasst, das universitäre Milieu zu verlassen. Dabei können die Außenseiter der Medienpräsenz der Virologen-Gurus hohe Klickzahlen und eine enorme Aufmerksamkeit in den sogenannten sozialen Medien entgegensetzen. Blogs mit einem gewissen Hang zu Verschwörungstheorien hofieren sie und verleihen ihnen die Aura des Außenseiter- und Rebellentums.

Die Frage, die sich an die Thesen der Außenseiter direkt anschließt, lautet: Wer hat ein Interesse daran, die Gefahr durch Covid-19 derart aufzubauschen? Je nach politischer Zugehörigkeit fallen die Antworten verschieden aus. Immer aber wird am Schluss ein Schuldiger benannt. Es ist in der Regel der, der immer schon hinter allen Schweinereien steckte und als Drahtzieher hinter den Kulissen vermutet wurde. Donald Trump, dem wegen eigenen Versagens das Wasser bis zum Halse steht und der um seine Wiederwahl fürchten muss, scheint sich auf "die Chinesen" einzuschießen. Man hat das Virus in Laboren gezüchtet und dann entweichen lassen, um das phantastische und grandiose Amerika zu attackieren und zu schwächen. Aber nicht mit ihm! Wenn ihm tatsächlich eine Niederlage bei den Wahlen im Herbst droht, ist er zu allem fähig. Es wäre nicht das erste Mal, dass narzisstisch gestörte Machthaber versuchen, die ganze Welt in ihren eigenen Untergang mitzureißen. Man kann in den letzten Tagen eine Umkehr der Beweispflicht beobachten: Nicht derjenige, der eine These in die Welt setzt und behauptet, die Chinesen hätten das Virus auf die Menschheit losgelassen, muss den Nachweis erbringen, sondern die Beschuldigten selbst sollen ihre Unschuld beweisen und die These widerlegen.

In Italien und Spanien, wo eine besonders rigorose Ausgangssperre verhängt wurde, sind die Menschen sehr phantasievoll in der Entwicklung von Möglichkeiten, dennoch vor die Tür zu kommen. Da es erlaubt ist, mit seinem Hund Gassi zu gehen, wurden verschiedentlich ältere Männer beobachtet, die Plüsch-Hunde an der Leine spazieren führten. Einer soll dabei sogar so weit gegangen sein, sich gelegentlich zu bücken und so zu tun, als höbe er Kot auf. Tröstlich zu sehen, dass die Menschen noch nicht alles verlernt haben und sich die Phantasie nach wie vor als Partisanin betätigt.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 22.05.2020.

Veröffentlicht am

23. Mai 2020

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