Der Wert des MenschenLohnt es sich noch, wegen bestimmter Personengruppen Opfer zu bringen - Menschen, die vielleicht "sowieso bald gestorben wären"? Anders gefragt: Wir jung und gesund muss jemand sein, damit ihm die Gesellschaft das uneingeschränkte Existenzrecht zugesteht? Unterscheiden wir (wieder) zwischen wertem und unwertem Leben? Es ist schon traurig, dass wir uns über solche Fragen heute unterhalten müssen. Dass es Menschen gibt, von denen sie ernsthaft gestellt werden. Der Philosoph Immanuel Kant sagte, der Mensch müsse stets Zwecke, dürfe nie Mittel des Handelns sein. Dagegen wurde und wird massiv verstoßen. Nicht nur im Zusammenhang mit Corona, aber dort leider auch. Eine anspruchsvolle und sehr menschliche philosophische Betrachtung von Götz Eisenberg. Corona-Tagebuch, Teil 28Von Götz Eisenberg In Verlängerung der Thesen von Michel Houellebecq (siehe Teil 27) könnte man sagen, dass auch das Maskentragen und vor allem das Geschehen unter den Masken eigentlich nichts Neues ist. In den Echokammern und Filterblasen, in denen sich eine gleichgeschaltet-aufgeregte Pseudo-Öffentlichkeit seit Jahren eingeschlossen hat, atmen deren Bewohner permanent ihre eigenen toxischen Exhalate von neuem ein. Die Leute schaffen sich ihre eigenen Parallelwelten, in denen sie unter sich bleiben und kommunikative Inzucht treiben. "Genauso isses!", ruft der Facebook-Nutzer aus, wenn ihm seine eigene Meinung tausendfach als Echo entgegenschallt. Jens Berger schrieb schon vor etlichen Jahren, die zeitgenössische Form des Stammtisches seien die sozialen Netzwerke. Unter Gegenöffentlichkeit hatten wir uns 68ff eigentlich etwas anderes vorgestellt. Sie wollte den rebellisch-aufklärerischen Geist wiederbeleben, den das Bürgertum in seinem Kampf gegen absolutistische und klerikale Bevormundung entwickelt hat, und dessen Lebenselixier eine kontrovers diskutierende Öffentlichkeit war. Die Wahrheit sollte am Ende einer langen und umherschweifenden Suchbewegung zutage treten, wenn nicht die Wahrheit, so doch etwas, das ihr möglichst nahe kommt. Deren Teilnehmer ließen sich idealiter in dem Bewusstsein auf Diskussionen ein, dass, wie Hans-Georg Gadamer es ausgedrückt hat, "der andere Recht haben könnte", und dass man in diesem Fall seine eigene Meinung würde revidieren müssen. Dass wir unserem eigenen Anspruch in den Debatten innerhalb der Linken selten gerecht wurden, gehört auch zur Wahrheit. Aber es gab zumindest die Idee und den Anspruch einer diskutierenden Öffentlichkeit. Das genaue Gegenteil geschieht in den sogenannten sozialen Netzwerken der Gegenwart. Innerhalb der Echokammern verbreiten sich nur konsensfähige Inhalte. Wer den Konsens der Gruppe am besten trifft, wird "geteilt" und "gelikt" und kriegt aus harmonierenden Kreisen Freundschaftsanfragen. Die Echokammer wächst und damit auch der Eindruck, man sei selbst keine Minderheit, sondern eine gesellschaftlich relevante Mehrheit. Facebook und Co. unterstützen und verstärken diesen Effekt dadurch, dass die Algorithmen dafür sorgen, dass man vorzüglich Inhalte angezeigt bekommt, die von Gleichgesinnten stammen oder von ihnen "gelikt" wurden. An diese Form tautologischer Pseudokommunikation musste ich denken, als ich heute in der Stadt die Leute unter ihren Masken ihre eigenen Exhalate inhalieren sah. Ich kann und will die Gehirnantilope nicht am Springen hindern und folge ihr auf vielen Ab- und Umwegen. Jetzt ist sie zum Schluss meines Exkurses zum Thema Echokammern und Filterblasen zu Oskar Negt gesprungen, der sich in seiner Abschiedsvorlesung im Jahr 2002 an seine Zeit als Assistent von Jürgen Habermas erinnert. Dieser habe ihm wegen eines bei Adorno gehaltenen Referats über Marx "zum Eintritt in die Republik der Wissenschaftler" verholfen. Und das in einem gesellschaftlichen Klima, das ein anderer Adorno-Schüler, Alfred Schmidt, so charakterisiert hat: Marx war in Westdeutschland weitgehend tabuisiert und durfte nur hinter vorgehaltener Hand genannt werden. "Das war ein merkwürdiges Klima, das führte so weit, dass Plessner an Adorno eine witzige Karte aus Trier schickte: ‚Beste Grüße aus der Geburtsstadt Hegels.’ Das heißt, man hat sich hinter einem gewissen Hegelianismus verschanzt, meinte aber in Wahrheit etwas Anderes; die Zeitläufte waren dem aber derart ungünstig, dass sich diese äsopische Sprache eben empfahl. Das geistige Klima jener Zeit war angesichts des massiven Drucks von außen derart vergiftet, dass jeder, der Marx auch nur positiv erwähnte, riskieren musste, als Stalinist abgetan zu werden. Daher wohl die äußerste Zurückhaltung, die sich die Vertreter der Kritischen Theorie in dieser Frage auferlegten." Habermas war so souverän, jemanden zu seinem Assistenten zu machen, der sich offen zur marxistischen Tradition bekannte. Negt sagt weiter: "Auch die folgenden Assistenten wählte Habermas übrigens immer so aus, dass sie mit seinen Gedanken keineswegs vollständig übereinstimmten, sondern als harte, widerständige Gesprächspartner auftreten konnten." Habermas wurde nie müde, für den "herrschaftsfreien Diskurs" einzutreten, dessen Teilnehmer sich nur dem "zwanglose Zwang des besseren Arguments" beugen sollen. Im zweiten Band seiner Autobiographie, der Erfahrungsspuren heißt, bescheinigt Oskar Negt Habermas, dass es ihm gelungen sei, diese theoretischen Maximen lebensgeschichtlich einzulösen. Sie seien trotz gelegentlicher großer Differenzen bis heute befreundet. Auf Kant wurde ich gestoßen, als ich am 13. Mai die Sendung Kulturzeit sah, die sich des Themas Der Wert des Menschen annahm, das seit den Äußerungen von Schäuble und Palmer in der Luft liegt und immer mehr in den Vordergrund rückt. Was kostet uns der Lockdown? Wiegen die paar möglicherweise geretteten alten Menschen die Schäden auf, die die mutwillig herbeigeführte ökonomische Krise verursachen wird? Seltsamerweise werfen die Leute der Regierung nun vor, dass es gar nicht so schlimm gekommen ist, wie anfangs befürchtet. Weil die Maßnahmen, die über uns verhängt wurden, gewirkt haben, heißt es nun, sie seien überzogen oder gar überflüssig gewesen. Dieses Präventionsparadox lasse ihm derzeit keine Ruhe, hat der Virologe Christian Drosten gesagt. Damit meint er, dass der Erfolg der bisherigen Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie dazu geführt hat, dass die aktuell weniger strengen Einschränkungen infrage gestellt werden. Statt zu sagen: Dank unseres entschlossenen Handelns und der sachkundigen Beratung durch Virologen ist uns das Schlimmste (siehe USA, Italien, Spanien) erspart geblieben, so dass wir nun peu à peu in unsere gewohntes Leben zurückkehren können, sagen immer mehr Leute: Für die paar alten Hanseln, die am Virus gestorben sind, haben wir unsere Wirtschaft sterben lassen? Ich war entsetzt, dass 3sat im Grunde nur Leute zu Wort kommen ließ, die in dieses Horn stießen und bereit waren, über den "Wert des Menschen" überhaupt zu reden. Zu schlechter Letzt kam sogar Peter Singer zu Wort, ein in Australien lebender und lehrender Philosoph, der sich bereits in der Vergangenheit als Befürworter eugenischer Praktiken hervorgetan hat. Besonders umstritten ist sein 1993 in Deutschland erschienenes Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener". Nicht zu Unrecht verorteten ihn Kritiker damals in der Tradition Alfred Hoches, der als Psychiater der nationalsozialistischen Praxis der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" den Weg bereitete. So wunderte ich mich nicht, dass Singer nun suggestiv fragte: "Welche Opfer sind alte Menschen bereit zu bringen, wenn die Lasten für die Jüngeren nicht mehr bezahlbar sind?" Er rechnete die im Vietnam-Krieg ums Leben gekommenen jungen Männer, die noch vierzig Lebensjahre vor sich gehabt hätten, gegen die Corona-Toten auf, die im Grunde nur noch Tote auf Urlaub waren. Im Klartext heißt das: Die Alten werden hoffentlich soviel Anstand besitzen und den Jungen und Leistungsstarken nicht länger auf der Tasche liegen. Sterben fürs Geschäft und den Spaß und Ischgl und den Ballermann? Zumindest aber strenge Isolierung in Altenghettos, damit draußen business as usual herrschen kann. Schon die Fragestellung: Was ist der Wert des Menschen? Wie viel ist ein Jahr eines Menschen wert? - ist pervers. Und genau hier kommt Kant ins Spiel, der sich angesichts solcher Debatten im Grabe herumdrehen würde. Alle Dinge, lehrte er, haben einen Preis, allein der Mensch hat Würde. Also gilt auch: Was einen Preis hat, besitzt keine Würde. Der Mensch als Subjekt der moralisch-praktischen Vernunft ist über allen Preis, über alle Käuflichkeit erhaben. Kein Mensch sollte als nützliches Mittel einem bestimmten Zweck dienen. Als Person ist der Mensch um seiner selbst willen zu schätzen, das heißt er besitzt Würde. Der Mensch verdient als Mensch und nicht aufgrund von Leistungen Achtung. Alle Menschen sollten daher so miteinander umgehen, dass sie ihrer aller Würde nicht verletzen. Sie sollten sich nicht als bloße Mittel gebrauchen und auch nicht gebrauchen lassen. Kein Mensch darf einen anderen Menschen instrumentalisieren. Den Wert eines Menschen in Marktpreisen auszudrücken und in Kategorien der Nützlichkeit zu messen, ist schändlich und bereitet der Barbarei den Weg. Wenn in einer Gesellschaft solche Debatten geführt werden, ist Gefahr im Verzug. Beim Frühstück habe ich mit halben Ohr gehört, dass unser glorreicher Verkehrsminister Andreas "Andi" Scheuer eine Korrektur am gerade verschärften Bußgeldkatalog für Verkehrssünder vornehmen will. So möchte er die Strafen für inner- und außerstädtisches Rasen wieder verringern. Was ist das für ein Signal? Gerade jetzt, wo eine Entbrutalisierung des Verkehrs anstünde. Warum fällt das so wichtige Verkehrsressort traditionell an die CSU, was ja schon schlimm genug ist und eine gewisse Vorentscheidung bedeutet. Und innerhalb der CSU dann nochmal an den Dümmsten. Ein Wichtigtuer, Geck und Idiot bestimmt die Richtlinien, die unseren Verkehr bestimmen. Weil das Verkehrsministerium früher als derart unwichtig galt, dass man es noch dem letzten Deppen anvertrauen konnte. Leider haftet das Odium des Deppenministeriums dem Verkehrs- und Landwirtschaftsressort bis heute an. Heute sind sie mit die wichtigsten und man bräuchte kluge Menschen auf diesen Posten, die die dringend nötigen Reformen mutig angehen. Ich habe mich vor Kurzem unter dem Titel Lackierte Kampfhunde noch einmal zu diesem Thema geäußert. Man findet eine Kurzfassung dieses Textes in den Wiener Streifzügen, die im Untertitel Magazinierte Transformationslust heißen und vier Mal pro Jahr erscheinen. Der Text ist dort auch online verfügbar und frei zugänglich. Die Langfassung dieses Textes findet sich unter dem Titel Das Automobil als Waffe und Selbstwertprothese im dritten Band meiner Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, der Zwischen Anarchismus und Populismus betitelt ist. Ein bisschen Werbung in eigener Sache muss gelegentlich erlaubt sein. Es ist ein sonniger Frühlingstag. Ich beschließe, rauszufahren und dann eine größere Wanderung zu unternehmen. Mein Wagen springt schon wieder nicht an. U’s Auto steht nicht weit entfernt, und sie erklärt sich bereit, mir Starthilfe zu geben. Sie hält neben mir, und wir klappen die Motorhauben hoch, um die Starthilfekabel anzuschließen. In diesem Moment kommt ein vielleicht 13-jähriger Junge auf seinem Rad vorbei. "Kann ich Ihnen helfen?", fragt er, und als er unsere zweifelnden Blicke sieht, fügt er zur Erklärung an: "Ich kenne mich aus, mein Vater ist KFZ-Mechaniker." Im Handumdrehen hat er die beiden Kabel in der Hand und gibt klare Anweisungen, welches Kabel an welchen Pol der jeweiligen Batterie angeklemmt werden muss. "So, und nun steigen Sie ein und lassen den Motor an", sagte er zu U, "aber passen Sie auf, dass der Gang raus ist." Auch ich quetschte mich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Mein Wagen springt an. Der Junge klemmt die Kabel ab und reicht sie mir. "Jetzt sollten Sie eine halbe Stunde fahren! Und auf keinen Fall den Motor ausmachen!", fügte er noch warnend hinzu. Wir bedankten uns bei ihm und sahen ihm zu, wie er sein Rad bestieg und fröhlich winkend davonfuhr. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 02.06.2020. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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