Die “Seuche der Anywheres”Corona-Tagebuch, Teil 31Von Götz Eisenberg "Vor ungefähr hundertfünfzig Jahren wusste (Amos Oz) Wir waren über den Himmelfahrtsfeiertag für ein paar Tage im nordhessischen Kellerwald und sind viel umhergegangen. Rotmilane kreisten über uns, es duftete nach Harz und Holunderblüten. Die Idylle wurde dadurch getrübt, dass viele Fichten grau-braun sind und nach zwei trockenen Sommern absterben. Corona ist dort etwas ganz Abstraktes. Man hört davon, dass Leute sich infizieren und im Extremfall auch daran sterben, aber das ist weit weg und geschieht anderswo. Die gegen das Virus erlassenen Maßnahmen werden als Oktroi erlebt, wie Erlasse einer fremden Zentral- und Kolonialmacht. Die Maske gilt als Symbol der "Corona-Diktatur" und wird nur getragen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Ein verqueres Würdebedürfnis und der Stolz wehren sich gegen die Masken, die zu tragen als Geste der Unterwerfung gilt. Wie ein Eingeborener, der sich einen Schlips umbindet, um sich bei seinen Herren anzubiedern. Wie Donald Trump glauben viele Einheimische, dass das Virus einem chinesischen Labor entsprungen ist und von der kommunistischen Führung auf den Westen losgelassen wurde, "um uns zu schwächen, bis sie alles übernehmen können". Die Kluft zwischen Stadt und Land ist auch in puncto Corona spürbar. Corona - das haben die Leute in der Stadt. Es ist eine Folge von deren unsteter Lebensweise, die Konsequenz ihrer Hypermobilität. Hier fährt man nicht nach Ischgl. Mobilität heißt hier zu pendeln. Es ist im Unterschied zur städtischen Mobilität eine vom Arbeitsmarkt erzwungene, unfreiwillige Mobilität. Einer oder eine findet auf dem Land in seinem oder ihrem erlernten Beruf keine Arbeit und muss jeden Tag ins Rhein-Main-Gebiet fahren, um dort zu arbeiten. Man steigt morgens ins Auto und fährt 100 Kilometer zur Arbeit. Die zahlreichen Kreuze entlang der Landstraße zeugen von den Opfern, die diese Mobilität fordert. Abends kehrt man zurück in sein Dorf. Das Automobil ist für viele Menschen in der Provinz ein Mittel, im Dorf bleiben zu können, letztlich also ein Instrument der Vermeidung von Mobilität. Zwei bis drei Stunden täglich im Auto zu verbringen, ist keine Seltenheit. Wann immer möglich, schließt man sich zu Fahrgemeinschaften zusammen. Das spart Kosten und ist geselliger. Wegziehen kommt für die meisten nicht in Frage. Sie leben in dem Haus, in dem sie geboren wurden und in dem die Familie seit Generationen lebt. Viele sind noch nie umgezogen. Essen geht man selten, und wenn, dann im Gasthaus gegenüber. Das Geld bleibt, wenn möglich, im eigenen Dorf. Der Horizont der älteren Frauen, die oft Witwen sind, ist aufgespannt zwischen dem Friedhof, dem Friseur, dem Edeka-Markt und der Arztpraxis. Sie sitzen am Fenster und schauen, wer am Haus vorüberkommt. Sie halten gern mal einen Schwatz über den Gartenzaun hinweg. Der Rasen muss kurz gehalten werden und exakt geschnitten sein, Unkraut wird nicht geduldet. Nach dem für viele unerwarteten Brexit hat der britische Autor David Goodhart in seinem Buch The Road to Somewhere versucht, den sozialen und politischen Graben zu vermessen, der durch die westlichen Demokratien verläuft und sie mehr und mehr in zwei unversöhnliche Lager spaltet. Inzwischen liegt im Verlag Millemari auch eine deutsche Übersetzung des Buches vor. Aus Anlass des Erscheinens der deutschen Ausgabe hat Mladen Gladic mit dem Autor ein Gespräch geführt, das in der Wochenzeitung Der Freitag vom 30. April 2020 erschienen ist. Goodhart unterscheidet zwischen den Anywheres, die überall und nirgends zu Hause sind und gewissermaßen von unterwegs und aus dem Flugzeug auf das Geschehen blicken, und den Somewheres, die an einen festen Ort gebunden sind und die Welt aus der Perspektive ihrer angestammten Heimat betrachten. Die Anywheres sind das, was man weltoffen und liberal nennt, sie begrüßen die Migration und die Verflüssigung der Geschlechterrollen. Die Anywheres sind eine Minderheit von 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung, bestimmen aber den Ton in der Gesellschaft - in der Kultur, den Medien und in den etablierten Parteien. Sie haben im Schnitt akademische Abschlüsse und einen hohen Grad von Mobilität. Ihr Selbstbewusstsein basiert im Wesentlichen auf beruflichem Erfolg und dem, was man Kreativität nennt, im Gegensatz zu den Somewheres, die sich über einen Ort, eine Gruppe, oft auch über die Nation definieren. Anywheres haben eine transportable, flüchtige Identität. Sie sind die Gewinner der Globalisierung und der Modernisierung. Sie leben aus dem Rucksack und bewegen sich auf Skateboards und E-Skootern fort, oder sind auf dem Rennrad und mit dem Laptop unterwegs. Sie sind rund um die Uhr online und stolz darauf, wenig zu schlafen. Flexible Rädchen im digitalisierten kapitalistischen Verwertungssystem. Politisch werden sie in Deutschland vor allem von den Grünen repräsentiert, was unter anderem eine Erklärung für deren Höhenflug liefert. Aus ihrer Sicht sind die Somewheres borniert und rassistisch. Goodhart definiert diese vor allem über die emotionale Nähe zum Wohnort und über ihre Verwurzelung. Sie können dem ständigen Wandel wenig abgewinnen, weil er ihr Leben eher verschlechtert und ihre Ordnung der Dinge destabilisiert hat. Aus ihrer Perspektive ist die Welt aus den Fugen geraten. Sie empfinden Unbehagen gegenüber Entwicklungen, die die Anywheres begrüßen. In Termini von Zygmunt Bauman: Die Anywheres sind mixophil, das heißt, sie begrüßen die Zuwanderung und die bunte Vielfalt des städtischen Lebens, während die Somewheres eher mixophob sind. Mixophobie ist ihre Reaktion auf die aus ihrer Perspektive schwindelerregende, furchteinflößende und nervenaufreibende Vielfalt an Menschentypen und Lebensstilen, die sich auf den Straßen der Städte unserer Tage breitmacht. Für die Protesthaltung, die sich aus der Realitätswahrnehmung der Somewheres ergibt, hat sich der Begriff Rechtspopulismus durchgesetzt. Boris Johnson, Donald Trump, Marine Le Pen und die AfD haben bei den Somewheres ihre Basis. Der Populismus stellt für Goodhart einen Aufstand der Landbevölkerung und der Provinz gegen die städtischen Eliten und Metropolen dar. Diese Bruchlinie lässt sich nun auch in Sachen Corona beobachten. In den Augen der Somewheres ist Covid-19 die Seuche der Anywheres, die Folge ihrer mobilen und unsteten Lebensweise. Das Partyvolk schleppt das Virus ein, verbreitet es und wir alle müssen es ausbaden. Eine Interpretation, die ganz sicher der politischen Rechten zugute kommt. Allenthalben wird in den letzten Tagen die Sorge geäußert, Kinder könnten Schaden nehmen, weil sie nicht zur Schule gehen können. Niemand redet darüber, dass Kinder Schaden nehmen, wenn sie die Schule besuchen. Die einzige Begründung für einen Schulbesuch sind gewisse dumpfbackige und stumpfsinnige Eltern, denen die Kinder nun ganztags ausgeliefert sind. Das tut ihnen ganz gewiss nicht gut. Beim Gang durch die Stadt sah ich heute Eltern, bei deren Anblick ich mich fragte, was aus ihren Kindern werden soll. Da muss man froh sein um jede Stunde, die die Kinder nicht in ihrem Einflussbereich verbringen. Da ist sogar die Schule besser. Hinter dem penetranten Lob der Schule und der angeblichen Sehnsucht der Kinder nach regelmäßiger Beschulung vermute ich das Bedürfnis der Industrie nach der elterlichen Arbeitskraft, die endlich wieder zur Ausbeutung zur Verfügung stehen soll. Wenn die Eltern an die Arbeitsfront zurückkehren, müssen die Kinder natürlich betreut und beschult werden. Bei manchen Eltern, die in Magazin- und Nachrichtensendungen interviewt wurden, konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie die Anwesenheit ihrer eigenen Kinder als Zumutung und unerträgliche Belastung empfinden. Mich erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der erwartet wird, dass der Staat ihnen ihre Plagen vom Hals hält und die Erziehung ihres Nachwuchses übernimmt. Schauen wir, was zwei mir wichtige Schriftsteller zum Thema Schule gesagt haben. Der unvergessliche Wilhelm Genazino hat in seinem Buch Die Obdachlosigkeit der Fische geschrieben: "Die Schulzeit ist zu lang für sie. September, Oktober, November, Dezember - das ist zu viel Schule hintereinander. Sie müssten öfter Ferien haben. Nicht mehr so lange Ferien, aber öfter. Aber so, wie es ist, ähneln Herbst und Winter einem zu langen Akkord: zu großer Stress, viele Ausfälle. Oder die Kinder müssten vormittags und nachmittags Unterrichthaben, aber nur kurz. Stattdessen sitzen sie morgens ein paar Stunden lang da, und zu vieles geht kaputt: der Spaß, die Neugierde, die Freude am Erfolg. Das Hauptfach, in dem sie unterrichtet werden, steht nicht im Stundenplan, die Anwesenheit. Sie müssen lernen, dass sie ihr Leben lang morgens irgendwohin müssen, wohin sie nicht wollen." Ein anderer meiner Heroen, der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson, schrieb kurz vor seinem Tod: "Der Inbegriff der Misere meiner Schulzeit war es, nachdem ich die Minuten gezählt hatte, aufzustehen, ein Käsebrot herunterzuwürgen, den Fahrradschlüssel zu holen und mich in eine feindliche Welt hinauszubegeben. … Ich bin davon überzeugt, dass eine Gesellschaft, in der Menschen, und vor allem Jugendliche, bis zehn Uhr morgens schlafen und um elf Uhr dreißig am Arbeitsplatz (oder in der Schule - G.E.) erscheinen dürften, eine friedlichere und vor allem viel produktivere Gesellschaft sein würde." Lars Herdin, die Hauptfigur in Gustafssons Roman Wollsachen, ist Studienrat und an seiner Schule wegen seiner ungebrochenen Sensibilität ein Außenseiter. Ihm ist die Freude am Lehrberuf nicht erstorben. Die Schüler mögen ihn deswegen, die Kollegen nicht so sehr. Er macht sich Sorgen um einen seiner Schüler, den er für außergewöhnlich begabt hält. Er spricht darüber mit dem älteren Bruder. Dieser fragt Herdin, was er denn befürchte, und er antwortet: "Ich weiß nicht so genau. Es hängt damit zusammen, dass man das Licht in seinen Augen auslöschen wird." Kann man prägnanter beschreiben, was Schule anrichtet? Sie erstickt die Begeisterung und die Freude und löscht das Licht in den Augen der Kinder aus. Sie werden zu Arbeitswesen hergerichtet. Nicht mehr so brutal und krude wie früher, sondern mit ausgefuchsten, manierlichen Methoden, aber es ist nach wie vor das Ziel, menschliche Lebewesen in Arbeitswesen zu verwandeln. Zum Schluss möchte ich den Leserinnen und Lesern noch einen Repräsentanten der Somewheres, einen Irgendwo-Menschen, vorstellen. Auf dem Weg zu meiner Badestelle an der Lahn komme ich regelmäßig an einem Schrebergarten vorbei. Im letzten Sommer wuchsen Brombeerranken über den Zaun, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir ein paar der dicken, reifen Früchte zu pflücken und an Ort und Stelle zu verspeisen. Kaum hatte ich die ersten Brombeeren im Mund, ertönte hinter der Hecke eine Männerstimme:"Ich wollte aus diesen Brombeeren eigentlich Gelee kochen." Durch Blätter und Zweige erkannte ich einen alten Mann, der näher kam und mich zurechtwies. Er habe viel Arbeit mit der Hege und Pflege des Brombeerbusches und dann kämen Leute wie ich daher und brächten ihn um den Lohn seiner Mühen. Ich sagte zu meiner Entschuldigung etwas wie: "Ich dachte, dass das, was über den Zaun hinauswächst und auf die Straße hängt, straffrei gepflückt werden darf." Er erwiderte: "Juristisch mag das vielleicht so sein, aber moralisch ist es nicht in Ordnung." Er verwies mich auf wilde Brombeeren, die weiter oben am Weg wüchsen und für jedermann zugänglich seien. Ich gab mich geschlagen und beteuerte, mich nie wieder an seinen Brombeeren zu vergreifen. In der Folge dieser Szene habe ich, wenn ich ihn in seinem Garten sah, angehalten und einen Plausch mit ihm gehalten. Er entpuppte sich als freundlicher alter Mann, der vor Kurzem Witwer geworden war. Er litt sehr unter dem Verlust und suchte nach seinem Gleichgewicht. Der Garten spielt in seinem Leben eine große Rolle. Er gehöre seit Generationen der Familie, er habe schon als Kind in ihm gespielt und in der Lahn schwimmen gelernt. Seit er Rentner sei, verbringe er im Sommer jede freie Minute hier draußen. Urlaub brauche er nicht, der Aufenthalt im Garten an der Lahn genüge ihm vollauf. Es gebe einige Apfelbäume auf dem Grundstück. Aus den Äpfeln lasse er Saft pressen und stelle auch eigenen Apfelwein her. Im Herbst reichte er mir ein paar Mal einen Apfel über den Zaun. Es ist eine alte Sorte, die sehr wohlschmeckend ist. Er lagere die Äpfel in seinem Gartenhäuschen, das er im Winter mit einer Kerze beheize. Das reiche aus, um die Temperatur über null Grad zu halten. Richtige Winter gebe es ja ohnehin nicht mehr. Nach einem verkorksten Beginn hat sich ein beinahe freundschaftliches Verhältnis zwischen uns entwickelt. Mitten in der Corona-Krise reichte er mir einen Strauß Bärlauchblätter über den Zaun: "Das stärkt das Immunsystem." Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Quelle: GEW_AN Magazin - 31.05.2020. 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