Die Wut explodiertCorona-Tagebuch, Teil 32Von Götz Eisenberg Wolfgang Herrndorf, der sich im August 2013 erschoss, sprach Anfang 2013 noch vom "Abwehrzauber des Weiterarbeitens". Was bei ihm Weiterschreiben bedeutete. Mal sehen, wie lange der Abwehrzauber bei mir noch funktioniert. War gerade an der Lahn. Ich saß auf einer Bank mit Blick auf den Fluss und las. Alles war prima, nicht weit entfernt sang eine Nachtigall, ab und zu glitten Boote vorüber - kein Gebrüll, keine laute Musik. Dann näherte sich plötzlich ein ganzer Trupp von Leuten und ließ sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft nieder. Obwohl der Platz beinahe fußballfeldgroß ist, legten sie sich direkt neben mir ins Gras. Sie hatten einen fiesen Kampfhund dabei, der natürlich nicht angeleint war. Die Männer waren tätowiert und hatten abrasierte Köpfe. Die Frauen passten prima dazu. Drei oder vier Kinder in verschiedenen Altersstufen komplettierten die Szenerie. Einer der Typen sagte zu seinem Kumpel: "Ich bau schon mal de Grill uff, kümmer du dich um die Musik." Ich wusste aus Erfahrung, dass ich keine Chance haben würde, und packte zusammen. Da sagt einer der Typen grinsend: "Ei, wege uns müsse Sie net fortgehe." Traurig und mit vor Wut geballten Fäusten trollte ich mich. Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen. Sie ist von der Natur des Granits, hart und widerstandsfähig. Zugleich ist sie der zähe Kitt, der alles zusammenhält. Mit Aufklärung ist ihr kaum beizukommen. Natürlich hat man die Leute im Interesse von Macht und Herrschaft dumm gemacht, aber nun sind sie es und sie reproduzieren sie tagtäglich. Ich kapitulierte, der Tag war gelaufen. Da hilft auch kein Abwehrzauber. Vor Jahren las ich schon einmal ein interessantes Gespräch zwischen dem Berliner Dramaturgen Carl Hegemann und dem in New York lebenden Kulturtheoretiker Boris Groys über Faust und Donald Trump. Es ist in einem Bändchen abgedruckt, das unter dem schönen Titel Wie man ein Arschloch wird erschienen ist. Faust wird von den beiden als verzweifelter Intellektueller, begriffen, der lernen möchte, rücksichtslos die eigenen Interessen durchzusetzen und sich am Markt zu behaupten. "Er möchte also ein Arschloch werden, oder vornehmer ausgedrückt: er schließt einen Pakt mit dem Teufel. Der soll ihm, egal wie, zu Sex, Geld und Macht verhelfen." Nun haben die beiden in Corona-Zeiten ein Telefonat geführt, das die FAZ unter dem Titel Living in a Ghost Town am 31. Mai 2020 gebracht hat. Das ist zugleich der Titel eines neuen Songs der Rolling Stones, der Ende April rausgekommen ist. Hegemann sagt: "Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, wirkt jedenfalls wie eine riesige Marketingveranstaltung für das Internet." Groys erwidert: "Ja, aber es ist noch mehr. Das Virus ist ja genau das, was diese Internetkultur immer als ein Ideal betrachtet hat. Wenn man kunstinteressierte Leute fragte, was sie tun wollen, dann haben sie immer gesagt: viral gehen, ein virales Video machen, einen viralen Text schreiben. Für die neue Internetkultur bezeichnet das Wort Virus ein kulturelles Ideal, und dieses Ideal gibt es schon, seit man in der Moderne begann, wie Tolstoi oder Malewitsch Kunst und Kultur als Formen bakterieller Infektion zu verstehen. Und nun kommt das Coronavirus als Apotheose der Viralität. Es kommt hier tatsächlich zu einer intimen Einheit, Kollaboration und Symbiose von Internet und Virus. Corona ist wirklich das Königsvirus. Es trägt die Krone im Namen. Das Virus ist viral geworden. Keiner spricht mehr über Lady Gaga, wie sprechen nur über das Virus, es ist der Star unserer Internetkultur geworden. Weil es unseren Körper krank machen kann, halten wir uns das Virus vom Leibe und verlegen unsere Kontakte ins Internet, aber im Internet gibt es nur ein zentrales Thema: das Virus. Wir schützen unseren Körper vor dem Virus, und das hat zur Folge, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Das ist die Realität." In vielen Städten der USA gibt es, nachdem der Afroamerikaner George Floyd durch brutale Polizeigewalt ums Leben gekommen ist, Aufstände und tumultuarische Erhebungen. Auf beiden Seiten gibt es Tote und zahlreiche Verletzte. Es wird geplündert und es lodern Brände. Apokalyptische Bilder werden uns in den Nachrichtensendungen präsentiert. Trump schäumt, schwadroniert von linksradikalen Drahtziehern und droht mit Waffengewalt und dem Einsatz der Armee. Seine Anhänger mögen solche markigen Worte und befürworten ein hartes Vorgehen gegen Demonstranten, vor allem, wenn sie Schwarze oder Hispanics sind. Es sind "vandalische Kämpfe", deren Manko darin besteht, dass niemand imstande ist, ihnen Dauer und Form zu verleihen und sie strategisch zu kodieren. Die Wut explodiert und enorme Energien entladen sich ungerichtet. Die Leute schlagen mehr oder weniger blind auf die Fassade ein. Ich habe mich anlässlich der Aufstände in Frankreich im Jahr 2005 und England 2011 zu diesem Thema bereits ausführlich geäußert. (Man findet diese Anmerkungen im ersten und zweiten Band der Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus unter den Überschriften Die große Wut der "Überzähligen" und Über die Gewalt) Im Kern sagte ich dort, dass die wertabstrakte Militanz, die in diesen Kämpfen zutage tritt, dem Umstand geschuldet ist, dass ihnen der Weg zur Produktion versperrt ist. Während der traditionelle Arbeiter- und Klassenkampf am gemeinsamen Produktionsinteresse eine Grenze findet, sind vandalische Kämpfe blind und zerstörerisch. Die jungen Leute, deren Wut meist durch Polizeigewalt ausgelöst wird, können zum Beispiel nicht streiken oder Fabriken besetzen, weil sie keine Arbeit haben und auch keine bekommen werden. Wir treten in eine geschichtliche Phase ein, die an die Aufstiegsphase des Kapitalismus erinnert, als die damals so genannten "gefährlichen Klassen" sich gegen ihre Verwandlung in Arbeiter wehrten. Konnten damals entwurzelte, plebejische Massen und unterbürgerliche Schichten noch nicht über den Modus der Lohnarbeit integriert werden, so heute die aus dem Arbeitsmarkt Herausgefallenen und Überzähligen nicht mehr. Die neue gefährliche Klasse, mit der wir es heute zu tun haben, wird im Wesentlichen von jungen Männern zwischen Pubertät und Heiratsalter gebildet, für die keine verbindlichen oder wirksamen Regeln und Schranken des Verhaltens mehr bestehen und deren Verhalten kaum noch durch verinnerlichte Normen gesteuert wird. Sie werden nicht einmal mehr ausgebeutet; aber schlimmer noch als Ausbeutung scheint zu sein, komplett ignoriert und wie Fische auf dem Trockenen liegen gelassen zu werden. "Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung", hat Jean Baudrillard kurz und prägnant gesagt. Das Wort Streik stammt vom englischen to strike, was ursprünglich bedeutete: die Segel einholen, die Segel streichen. Die Hafenarbeiter verhinderten auf diese Weise, dass Schiffe auslaufen konnten. Der Streik wird zur privilegierten Kampfform der Arbeiter. Die Dokumentation Nicht länger nichts - Die Geschichte der Arbeiterbewegung, die der Sender arte vor Kurzem ausgestrahlt hat, zeigt in ihrem ersten Teil die Kämpfe aus der Phase davor, als handwerklich und bäuerlich geprägte Menschen sich gegen die neue Produktionsweise auflehnten. Sie weigerten sich, sich unters kapitalistische Joch spannen und in Maschinensklaven verwandeln zu lassen. Sie wussten oder ahnten, dass sie ihr handwerkliches Können, auf dem ihr Stolz basierte, an Maschinen verlieren würden, derem Rhythmus sie sich in Zukunft würden unterwerfen müssen. Ihre Kampfformen entstammen der bäuerlichen Tradition und bestanden in spontanen Revolten und gewaltsamen Aufständen. Wenn wir also nach historischen Analogien suchen wollen, werden wir sie zum Beispiel im Luddismus finden, der Bewegung der Maschinenstürmer. Zwischen 1811 und 1816 war dessen große Zeit, als Massen von Handwerkern nachts loszogen und mit riesigen Hämmern die Maschinen zerschlugen, in denen das kapitalverwertende Unglück Gestalt annahm, das auf sie zukam und dem sie sich nicht beugen wollten. Ein britischer Historiker präsentiert im Film einen Nachbau von Enoch, dem großen Hammer der Ludditen, und schlägt zur Demonstration seiner heutigen Nützlichkeit auf einen Laptop ein. Auch geplündert und gebrandschatzt wurde damals. Im Rahmen dessen, was E.P. Thompson als "moralische Ökonomie" bezeichnet hat, verteidigten die Menschen ihre traditionellen Rechte und Gebräuche. Wenn der Preis für Getreide und Brot über das Maß hinaus stieg, das die Menschen für angemessen und legitim hielten, holten sie es sich mit Gewalt. Mit großer Gewalt und zahlreichen Todesurteilen wurde dieser Bewegung ein Ende bereitet. Es begann nun das lange Kapitel des eigentlichen Klassenkampfes, in dessen Zentrum gewerkschaftlich organisierten und von großen politischen Parteien angeführte Kämpfe stehen. Sie bewegten sich innerhalb der politischen Ökonomie des Kapitals, der man sich unterworfen hatte, und versuchten lediglich, die Gewichte zwischen Lohn und Profit zugunsten der Arbeiter zu verschieben. Ein großer Teil der Arbeiterbewegung war bereits in seiner Entstehung eine Arbeiterbewegung auch des Kapitals. Als Ganze wurde die neue Produktionsweise nicht mehr in Frage gestellt, wie es in der Umbruchphase zwischen agrarisch-handwerklicher und kapitalistischer Produktion durchaus der Fall war. "Klassenkämpfe zwischen ökonomischen Klassen", heißt in Geschichte und Eigensinn von Oskar Negt und Alexander Kluge, "sind insofern immer relative Kämpfe, als das spezifische Klasseninteresse nicht darin bestehen kann, die Arbeitsvermögen des Klassengegners vollständig zu zerstören." Vandalische Kämpfe kennen diese Rücksichtnahme und Begrenzung nicht. Wir erleben seit einiger Zeit deren Wiederkehr und werden uns verstärkt mit der Frage beschäftigen müssen, ob, und wenn ja, wie diese Kämpfe der regulativen Idee der Emanzipation unterstellt werden können. Sie bedürfen dringend einer politischen Ausrichtung und moralischen Kontrolle, weil sie sonst Formen der Aggression und Destruktion freisetzen, die in ihrer Ungerichtetheit und Blindheit nicht nur diese Gesellschaft zerstören, sondern jede Gesellschaft unmöglich machen. "Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster", hat Antonio Gramsci sinngemäß gesagt. Die Zeit der Monster bricht dann an, wenn eine herrschende Ordnung von Krisen geschüttelt und vom Zerfall bedroht ist, ohne dass neue gesellschaftliche Kräfte schon bereitstehen, die dem Zerfallsprozess eine emanzipatorische Wendung geben und etwas qualitativ Neues an die Stelle des zerfallenden Alten setzen können. Die Monster können verschiedene Gestalt annehmen. Wenn es der Linken nicht gelingt, in den Krisen der Gegenwart eine libertär-sozialistische Alternative zu formulieren und zu praktizieren, die die Menschen fasziniert und hinter dem Ofen hervorlockt, dann werden die frei-flottierenden Energien und Unmutspotenziale entweder von rechten Monstern angeeignet, oder es werden Formen einer gespenstischen Selbstzerstörung freigesetzt, die jedes gesellschaftliche Miteinander zunichtemachen. Laut Hans Mayer findet man das Szenario von Gramsci bereits in Büchners Leonce und Lena aus dem Jahr 1836 beschrieben. In seinem Buch Georg Büchner und seine Zeit schreibt er: "Das Lustspiel gibt Antwort auf die Frage, wie eine Welt aussieht, die ihren Sinn verloren hat, richtungslos agiert und doch nicht zu sterben vermag, da sie nicht an Erschöpfung, am Versagen des élan vital verenden kann wie ein menschlicher Organismus, sondern getötet werden muss, ohne dass sich jemand fände, der ihr den Gnadenstoß gäbe." Büchner schildert eine in sich sinnlos gewordene Gesellschaft, eine Ordnung ohne Funktion und ohne Gnade, ohne Entwicklungsmöglichkeiten und Willen zur Veränderung. Die ganze Gesellschaft krankt an leerer Geschäftigkeit. Ihr Grundgefühl ist die Langeweile und dank ihrer grassiert die Konsumptionswut, die Gier nach immer neuen Sensationen. Die Besessenheit von Spaß und Konsum ist ein Versuch der Betäubung, der Übertünchung der inneren Leere. Die Parallelen zur Gegenwart sind nicht zu übersehen. Ingo Schulze gibt in seinem neuen Roman Die rechtschaffenen Mörder eine Episode aus dem März 1848 wieder, die die Hauptfigur des Romans, der Antiquar Norbert Paulini, aus der Zeitschrift Der Humorist von 1849 abgetippt hat. Berliner Arbeiter und Bürger befinden sich in Aufruhr und verlangen die Öffnung der Häuser, um sich gegen die anrückenden Truppen verteidigen zu können. "Als sie in ein Haus in der Oranienburger Straße eindrangen, fanden sie an der Wohnungstür im ersten Stock kein Namensschild. Nichts tat sich auf ihr Klopfen hin, also brachen sie die Tür auf. Nun kam ihnen ein alter Herr entgegen, der sich unglücklich darüber zeigte, dass sie die Wohnung eines Mannes, der ganz der Wissenschaft lebte, so zweckentfremdet verwenden wollten. Gefragt nach seinem Namen antwortete er: Humboldt. Wie? War er der berühmte Mann dieses Namens? Er heiße Alexander von Humboldt, wiederholte er. Daraufhin zogen sie ihre Mützen und Hüte vom Kopf, bedauerten unter wiederholten Entschuldigungen, dass weder ein Schild noch ein Nachbar sie darauf aufmerksam gemacht hatte, wer hier wohnte. Das wäre sonst niemals geschehen. Zu seinem persönlichen Schutz postierten sie vor der Haustür eine Wache." Würden heutige Aufständische die Wohnung eines Intellektuellen oder Schriftstellers verschonen? Das ist schwer vorstellbar. Noch in der bayerischen Revolution von 1919 blieb das Haus Thomas Manns, der große Befürchtungen hegte, man könne sich an seiner Bibliothek vergreifen, und vorsichtshalber die Vorräte aus seiner Speisekammer im ganzen Haus verteilte, von Plünderungen verschont. Man kann im Verhalten der Berliner Aufständischen Vorformen einer Respektabilitätsknechtschaft erkennen, welche die deutsche Sozialdemokratie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert prägte. Max Weber sprach vom "behäbigen Gastwirtsgesicht", der kleinbürgerlichen Physiognomie, die dem durchschnittlichen Partei- und Gewerkschaftsfunktionär eigen sei. Und ihre Politik war auch danach. Lenin spottete angesichts dieser Verklärung von bürgerlicher Reputation, dass die Deutschen nicht mal einen Bahnhof stürmen würden, ohne sich vorher eine Bahnsteigkarte zu kaufen. Eine Revolution traute er ihnen jedenfalls nicht zu. Und dennoch rührt mich die Geschichte, die Humboldt im Gedränge betitelt ist, sehr an. Ich kann nicht verhehlen, dass mir Revolutionäre, die die Würde eines großen Gelehrten und Forschers respektieren, lieber sind als solche, die Brillen zertreten und Bücher verbrennen oder auf die Straße werfen. Die Gehirnantilope springt. Robert Menasse erzählte einmal in der Süddeutschen Zeitung eine Anekdote aus dem Mai 68: "Im Mai 1968, als große Demonstrationen durch Paris zogen, kam einmal ein Zug mit Sartre und Simone de Beauvoir an dem Haus vorbei, in dem Michel Foucault wohnte. Der Sartre denkt sich in dem Moment, wieso ist der Foucault eigentlich nicht bei uns? Er klingelt beim Foucault und sagt zu ihm: ‚Schau mal zum Fenster runter, da siehst du, was unten los ist. Du musst dich wie wir an die Spitze dieser Bewegung stellen. Man will dein Wort hören.’ Foucault deutet auf seinen Schreibtisch, auf dem die Schreibmaschine steht und viele Papiere liegen, und sagt: ‚Schau, das hier, das kann nur ich. Das kann keiner von denen, die da unten gehen.’ Und dann sagt er noch zu Sartre, der vor Wut schäumt: ‚Jean-Paul, geh wieder runter.’ Das war einerseits perfide, andererseits hatte es eine große Wahrheit." Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Quelle: GEW_AN Magazin - 05.06.2020. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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