Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wie kommt die Ökonomie in Kopf und Seele?

Corona-Tagebuch, Teil 33

Von Götz Eisenberg

"Ich fürchte mich. Gegen die Furcht
muss man etwas tun, wenn man sie einmal hat. …
Ich habe etwas getan gegen die Furcht.
Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben,
und jetzt bin ich so gut müde
wie nach einem langen Weg über die Felder …"

(Rainer Maria Rilke)

Ich habe mich ans tägliche Schreiben gewöhnt, vor allem an das improvisierende, provisorische, ungeschützte Schreiben, das die Form des Tagebuchs erlaubt. Eine Art Probeschreiben, ohne festen Fahrplan, ohne Ziel, ohne akademische Stoßdämpfer, Fußnoten und Quellenangaben. Ich lasse die Gehirnantilope nach Lust und Laune springen, oder besser: folge ihren Sprüngen. Gedankenspiele. Das liegt und gefällt mir außerordentlich, und ich kann mir im Moment ein Leben ohne diese Form des Schreibens nicht vorstellen. Und ja, das Schreiben hilft gegen die Angst, die immer schon da ist. Wenn ich schreibend Angst in Furcht verwandeln kann, ist schon etwas gewonnen.

Gleich zu Beginn muss ich etwas nachtragen zu den Entwicklungen in den USA: Es könnte der Eindruck entstanden sein, dass ich die Reaktionen auf die Ermordung von George Floyd auf ihren nächtlichen, vandalischen Teil reduzieren würde. Ich hatte die Proteste zu den Riots gezählt, einer Form der Revolte, die die traditionellen Streiks ablöst. Der Weg zur klassischen Produktion ist versperrt, der Ort des Zusammenstoßes ist nicht mehr die Fabrik, so dass sich neue Kampfformen ausbilden, über die wir noch wenig wissen. Vor allem nicht, wie und ob sie sich organisieren lassen. Es besteht die Gefahr der Herausbildung einer "wertabstrakten Militanz", die sich verhält wie das Geld zu den Gebrauchswerten. Hauptsache, es kracht und brennt, egal was es bringt. Die Militanz reißt sich von jedweder regulativen Idee los, die ihre Ziele bestimmen könnte. So war etwa der Gang meiner Argumentation in Teil 32.

Während die Riots abklingen (oder man nicht mehr so viel von ihnen hört), hat sich weit über die USA hinaus eine Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt formiert, die weitgehend friedlich und gewaltfrei operiert und auch von einem weißen liberalen Bürgertum getragen und gestützt wird. Überall sieht man Menschen verschiedener Hautfarben sich stumm hinknien oder im Anschluss an den Bürgerrechtler Al Sharpton ausrufen: "Nehmt Euer Knie aus meinem Nacken." Am 6. Juni gab es als Ausdruck der Solidarität weltweit Demonstrationen gegen Rassismus, auch in vielen deutschen Städten.

Die Abstandsregeln wurden sicher nicht in jedem Fall und überall eingehalten, aber die Toleranz gegenüber diesen Regelverletzungen war deutlich größer als bei anderen Demos der letzten Zeit, die sich gegen die coronabedingten Grundrechtseinschränkungen richteten. Hier kam es zu gewaltsamen polizeilichen Interventionen und zahlreichen Festnahmen. Am Abend nach den Anti-Rassismus-Demonstrationen mahnt der Gesundheitsminister in der Tagesschau, man solle doch bitte die Abstandsregeln einhalten und einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Noch sei die Pandemie nicht vorüber, und es bestehe weiter eine Infektionsgefahr. Er sagt das alles beinahe verschämt, als wollte er sagen: Angesichts der hehren Ziele möchte ich nicht kleinlich erscheinen. Wie kann man das zweierlei Maß erklären, mit dem hier gemessen wird? Der Rassismus, der in den USA und andernorts virulent ist, ist gewissermaßen archaisch, Ausdruck hinterwäldlerisch-rückständiger Leidenschaften. Dem Geld ist es, salopp gesagt, wurscht, ob einer oder eine schwarz oder weiß, homo- oder heterosexuell, Muslim oder Jude ist. Das zeitgenössische Geldsubjekt hat kein Geschlecht, keine Religion und keine Hautfarbe. Daher das allgemeine Naserümpfen über den groben amerikanischen Rassismus und der breite Konsens bei seiner Verurteilung. Das wurde mir spätestens klar, als ich am Samstag im Sportstudio sah, wie hochbezahlte Bundesliga-Profis vor dem Anpfiff den Kniefall praktizierten und sich durch diese Geste mit den Protesten solidarisierten.

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich teile den Protest und finde diesen Rassismus scheußlich und barbarisch. Aber eine kapitalistische Gesellschaft, die auf der Höhe der Zeit operiert, hat ihn nicht nötig und funktioniert bestens ohne ihn. Auch grobe und brutale Formen polizeilichen Handelns sind im Alltag nicht mehr up to date und können durch geschmeidigere, elegantere Formen ersetzt werden. Rassismus und grobe Polizeigewalt sind nicht systemrelevant, um es mit einem gerade aktuellen Ausdruck zu sagen. Freilich wird die nackte Gewalt immer in Reserve gehalten werden und hervorbrechen, wenn es hart auf hart kommt und die Eigentumsfrage gestellt wird. Insofern wendet sich dieser Protest gegen etwas, das ohnehin überfällig ist. Das macht ihn, um es noch einmal zu sagen, nicht überflüssig und falsch. Er ist allerdings wohlfeil und realitätsgerecht, weil er etwas stößt, was ohnehin im Fallen begriffen und für den Fortbestand des kapitalistischen Verwertungsprinzips nicht notwendig ist.

In den USA werden die Proteste neben dem aktuellen Anlass noch von anderen Motiven gespeist. Trump hat wie seine Kumpane Johnson und Bolsonaro die Corona-Pandemie lange verleugnet und die Gefahren bagatellisiert. Die inzwischen über hunderttausend Toten in den USA gehen also auch auf das Konto seiner zynischen Politik. Afroamerikaner und Hispanics haben am meisten unter der Wirtschaftskrise zu leiden und erkranken wegen ihrer Armut und sozialen Lage viel häufiger und schwerer an Covid-19. Ihr Sterberisiko ist sieben Mal höher als das der weißen Bevölkerung. Inzwischen kann man hoffen, dass die Black Lives Matter-Bewegung die im November anstehenden US-Wahlen beeinflussen und dazu beitragen kann, eine weitere Amtszeit von Donald Trump zu verhindern. Ein Jammer, dass es auch dieses Mal wieder keine echte Alternative gibt, aber erst einmal ist alles und jeder besser als Donald Trump. Für Polizisten wie diejenigen, die George Floyd umbrachten, ist es wichtig, sich in ihrem rassistischen Handeln im Einklang mit der Macht zu befinden. Insofern wäre eine Abwahl Trumps ein wichtiges Signal. Wozu narzisstische gestörte Machthaber imstande sind, wenn sie unterzugehen drohen, wissen wir. Sie versuchen manchmal, in ihren eigenen Untergang die ganze Welt mitzunehmen.

Noch ein Mal springt die Gehirnantilope - hin zu einem alten Witz.

Chruschtschow fragt Gagarin, ob er im Weltall Gott gesehen habe. Darauf Gagarin: Ja klar, hab ich - Hier hast du 10 000 Rubel, sag niemandem was davon! Bei der Papstaudienz fragt der Papst Gagarin nach Gott. Und Gagarin: Nein, weit und breit kein Gott. - Hier hast du 10 000 Dollar, aber schweig in Ewigkeit! Schließlich trifft Gagarin Präsident Kennedy: Hast du Gott gesehen? Und Gagarin: Yeah. Kennedy: Ach, macht nichts, ich habe Gläubige und Atheisten unter meinen Wählern. Gagarin: Sie ist schwarz!

Auch bei der Demo der Club-Szene am Pfingstsonntag in Berlin waren Behörden und Polizei sehr kulant. 100 Teilnehmer waren angemeldet, circa 3000 kamen und drängten sich in 400 Schlauchboten auf dem Landwehrkanal. Mund-Nasen-Schutz fehlte weitgehend, von Abstand konnte keine Rede sein. Vier oder fünf Stunden ließ man das Partyvolk gewähren, das auf dem Landwehrkanal seine Bumsmusik erschallen ließ. Erst als der Party-Demo-Zug ausgerechnet vor einem Krankenhaus haltmachte, was von großem Einfühlungsvermögen zeugt, löste die Polizei die Veranstaltung wegen Lärmbelästigung auf. Das Ganze spielte sich unweit der Lichtensteinbrücke ab, von der man vor rund 100 Jahren die Leiche von Rosa Luxemburg in den Landwehrkanal geworfen hat. Aber so etwas weiß das Partyvolk natürlich nicht. Man will seinen Spaß haben und Party machen, das ist alles. Weil es eine politisch gänzlich harmlose und herrschaftskonforme Szene ist, sah man ihren Regelverletzungen lang tatenlos zu. Die Szene selbst lieferte durch ihren Auftritt die besten Argumente dafür, dass man gut daran tut, die Clubs einstweilen geschlossen zu halten. Die Clubs sind unser Ischgl, und so etwas braucht eigentlich kein Mensch. Aber gegen den Veitstanz scheint kein Kraut gewachsen. Interessanterweise fielen die großen Tanzepidemien des ausgehenden Mittelalters ins Zeitalter der Pest. Man ging gegen die Tanzplage damals mit Exorzismen und Beschwörungen vor. Der berühmte Arzt Paracelsus behandelte Tanzwütige, indem er sie isolierte und mit Schlägen und kaltem Wasser traktierte. Man versuchte sich aber auch damals schon in der Technik der paradoxen Intervention, indem man das Leiden zum Paroxysmus steigerte, um die Kranken zu erschöpfen und bei ihnen einen Überdruss zu erzeugen. Städte stellten Musiker an, um den Tanzwütigen aufzuspielen und sie zu möglichst hohen Sprüngen zu veranlassen. Der Magistrat der Stadt Basel engagierte einmal zwei Männer, die mit einem vom Veitstanz befallenen Mädchen vier Wochen ohne Unterlass tanzen mussten. Dann hatte sie genug und war geheilt. Woher ich das weiß? Aus dem spannenden Buch Der Tanz von Max von Boehn, das 1925 beim Volksverband der Bücherfreunde erschienen ist. Bei der Masse der heutigen Raver wäre dieses Verfahren ein teures Vergnügen, aber an Geld scheint es ja in letzter Zeit nicht zu mangeln.

Beim Stichwort paradoxe Intervention sprang meine Gehirnantilope zu Friedrich dem Großen und den Kartoffeln. Ich meine, ich hätte die folgende Geschichte bei Uwe Timm gelesen, der im Jahr 1996 unter dem Titel Johannisnacht einen Roman über die Kartoffel geschrieben hat. Um eine Hungersnot zu bekämpfen, wollte man der Bevölkerung nahelegen, Kartoffeln statt Brot zu essen. Da der Bauer aber bekanntlich nicht (fr)isst, was er nicht kennt, ersann Friedrich eine List. Er ließ einen Acker mit Kartoffeln bepflanzen und tagsüber von Soldaten bewachen, um die Knollen als besonders wertvoll und begehrenswert erscheinen zu lassen. Nachts zog er die Wachen ab, und die Bauern aus der Umgebung stahlen prompt die Knollen, um sie selbst zu verspeisen und dann auch anzubauen. Auf diese Weise soll das aus Südamerika stammende Nachtschattengewächs in Preußen heimisch geworden und zu einem Grundnahrungsmittel aufgestiegen sein. So wurde der Alte Fritz zum Erfinder der therapeutischen Technik der paradoxen Intervention.

Für diese Technik ein kleines Beispiel: Ein Paar erscheint beim Therapeuten und klagt über mangelndes sexuelles Interesse. Man habe schon ewig nicht mehr miteinander geschlafen. Am Ende der Sitzung weist der Therapeut das Paar an, für vier Wochen unbedingt den Sex zu meiden. Prompt sagt sich unser Paar: "Von diesem Kerl lassen wir uns doch das Vögeln nicht verbieten", und fällt übereinander her. Ein anderes Beispiel: Ein Freund möchte seiner kleinen Tochter vor dem Einschlafen etwas vorlesen, merkt aber, dass diese keine Lust -darauf hat. Er sagt: "Anna, tut mir leid, heute Abend habe ich keine Zeit und kann dir nichts vorlesen." Statt zu sagen: "Prima, das trifft sich gut, ich habe eh keine Lust auf deine blöden Geschichten", fordert sie umgehend, dass ihr vorgelesen wird. Man sieht an diesen Beispielen, dass es sich um eine subtile Herrschaftstechnik handelt. Der fremde Wille wird am Ende als eigener erlebt. Noch in der Revolte und im Widerspruch erfüllt sich der Wunsch des Stärkeren.

Jemand bat mich neulich, möglichst kurz und knapp zu erläutern, was ich unter Sozialpsychologie verstehe. Hier mein Versuch einer Erklärung: Eine kritische Sozialpsychologie, wie ich sie zu betreiben versuche, hat den Fragen nachzugehen: Wie und auf welchem Weg gelangt Ökonomisches zum menschlichen Kopf oder Herz? Was tut das Kapitalprinzip den Menschen an? Wie kommt es, dass Menschen gegen ihre wohlverstandenen "wahren Interessen" handeln? Warum setzt sich die objektive Reife der kapitalistischen Verhältnisse nicht in die subjektive Bereitschaft um, diese Verhältnisse umzuwerfen? Warum folgt aus den objektiven Widersprüchen der Gesellschaft kein subjektives Widersprechen? Die Niederlage der Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus nötigte die Linke, die komplizierende Rolle der psychischen Zwischenglieder zur Kenntnis zu nehmen, die zwischen der objektiven Lage und dem subjektiven Bewusstsein von dieser Lage vermitteln. Die Klassenlage und gesellschaftliche Verhältnisse setzen sich nicht im Sinne eines simplen Abbildes im Kopf eins zu eins in ein "richtiges Bewusstsein" um. Auf dem Weg in Kopf und Seele sind Filter eingebaut und geschehen Brechungen, die dafür sorgen, dass ein verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht.

Max Horkheimer schrieb in seinem programmatischen Aufsatz Geschichte und Psychologie: Dass Menschen überholte gesellschaftliche Bedingungen am Leben erhalten, statt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, "weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist. … Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, umso weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen. … Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken." Für Marxisten werde der Mensch als soziales Wesen geboren, "wenn er die erste Lohntüte in Empfang nimmt", hat Paul Parin einmal geschrieben. Sie ignorieren, dass der proletarische Nachwuchs in mehr oder weniger autoritären Familien heranwächst, unter der Ägide von Vätern, die ihre Kinder zur Sau machen, und Müttern, die sie vor der väterlichen Gewalt oft nicht hinreichend schützen können und ihnen dennoch durch ihre liebevolle Zuwendung oft das Überleben sichern. Ich sehe mich in der Tradition einer materialistischen Sozialpsychologie, für die Namen wie Wilhelm Reich, Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Peter Brückner, Klaus Horn und Paul Parin stehen. Ich stehe also auf den Schultern von Riesen.

Drei junge Frauen, vom Phänotyp her Studentinnen, nähern sich auf ihren Rädern der Fußgängerzone. Die an der Spitze Fahrende wendet sich zu ihren Begleiterinnen um und ruft über die Schulter: "Sollen wir uns an die Vorschriften halten?", und beantwortet die ohnehin nur rhetorische Frage gleich selbst: "Nee, ne." Sie bogen in die Fußgängerzone ein und stiegen nicht ab. Für viele Leute sind Regeln und Vorschriften lediglich "unverbindlichen Vorschläge der Behörden", hat Wolfgang Herrndorf in Arbeit und Struktur notiert (siehe Teil 6: Zum Verhältnis von innerer und äußerer Polizei). Dass das weithin so ist, weiß man und hat sich damit abgefunden, aber dass es so offen propagiert wird, erstaunt mich dann doch. Vor allem, dass gar nicht nach dem Sinn- und Wahrheitsgehalt von Normen und Regeln gefragt wird. Manche haben ja durchaus ihren guten und nachvollziehbaren Sinn, zum Beispiel das Verbot, in der Fußgängerzone Rad zu fahren und dadurch andere, vor allem Kinder und alte Menschen, die unsicher im Gang sind, vor Schaden zu bewahren. Der vor ein paar Jahren gestorbene linke britische Historiker Eric Hobsbawm hat in einem Vortrag mit dem Titel Barbarei: eine Gebrauchsanweisung darauf hingewiesen, welche Folgen es hat, wenn das Handeln von Menschen nicht mehr von sozialen Normen gesteuert wird, sondern nur noch von Einstellungen wie dem Scheffeln von Geld oder Spaß.

Durch das Propagieren von konsumistischen und individualistischen Haltungen zerstöre diese Gesellschaft die "Verteidigungsstellungen, die von der Zivilisation der Aufklärung gegen die Barbarei errichtet wurden". Wenn umweglose Bedürfnisbefriedigung und individueller Spaß zu den einzigen Kriterien werden, darf man sich nicht wundern, wenn prosoziale Tugenden wie Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfe zunehmend vor die Hunde gehen. Die zu Geldsubjekten mutierten Menschen verfügen über keine innere Instanz mehr, die sie darüber informiert, was das Richtige ist, das sie zu tun, und was das Falsche ist, das sie zu unterlassen haben. Man weiß, so Hobsbawm, nicht mehr, "was sich gehört", und tut nur noch, "was man will."

Dass heute ein paar Meter neben mir ein Storch durch die Lahnaue stakste, ein Eichhörnchen mich aus großer Nähe interessiert beäugte, eine Krähe und ein Reiher in den Ästen über mir Platz nahmen und dort eine Weile verharrten, hat mir den Tag gut gemacht. Die Schwanen-Mama graste mit ihren immer noch vier Kleinen auf einer nahegelegenen Wiese. Das Gefieder eines der Küken wird schon langsam weiß, während das der anderen noch grau ist. Der Umstand, dass ich schon beim Brüten dabei gewesen bin, hat eine besondere Beziehung zwischen mir und den Schwänen entstehen lassen. Es sind meine Corona-Schwäne. Sie ahnen natürlich nichts davon und es wird ihnen gleichgültig sein.

In letzter Zeit denke manchmal, dass das, was jetzt noch kommt, der schäbige Rest ist; und ich frage mich, ob ich mich dem langen Parcours des Alterns und schrittweisen Zerfalls stellen soll. Demnächst werde ich siebzig Jahre alt. Einige Zähne wackeln und drohen auszufallen, Krampfadern quellen aus den Beinen heraus, im rechten Bein hat sich eine Thrombose eingenistet, die Füße sind halb taub, tiefer Schlaf wird zum raren Ereignis, der Graue Star trübt den Blick, das Gedächtnis wird schwächer und schwächer. Beinahe täglich werde ich schmerzhaft über die Hinfälligkeit des Körpers belehrt. Einst war der Körper eine Quelle von Glück und Lust, mein Freund, nun verhält er sich mir gegenüber zunehmend abweisend, ja feindselig. Eines Tages wird der immer hinfälliger werdende Körper den Geist affizieren und schließlich die Oberhand über ihn gewinnen.

In Walter Kempowskis Tagebuchaufzeichnungen Sirius stieß ich auf folgenden Eintrag: "Nun wird seit einigen Wochen auch die Haut am Gesäß schlaff. Vom Gedächtnis nicht zu reden. Mit Wortfindungsschwierigkeiten ging es los, vielleicht vor zehn Jahren. Nun erzähl’ ich schon alles doppelt und dreifach, vergesse allerhand und denke manchmal: Bald wirst du nicht mehr wissen, wo du bist." Dann fasst Kempowski den Verlauf der demenziellen Entwicklung lakonisch zusammen: "Erst merkt man es selbst, dann auch die anderen, dann nur noch die andern." Zwischen der Stufe zwei und drei muss man die Notbremse ziehen und sich vom Acker machen, denke ich seit einiger Zeit. Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth hat 1981 mit Max Frisch über den Selbstmord gesprochen. Der Gedanke an ihn begleitete Max Frisch sein Leben lang. Dann sagt er den verstörenden Satz: "Und eines Tages kommt der Punkt, an dem man nicht mehr die Vitalität hat, sich umzubringen. … Mit zunehmendem Alter verliert man die Vitalität, es zu tun." Man braucht, ich brauche also eine Exit-Strategie, wie Wolfgang Herrndorf es genannt und praktiziert hat, und darf den richtigen Zeitpunkt nicht versäumen, sie zu realisieren. Gut gebrüllt, Löwe! Das sagt oder schreibt sich so leicht.

Bei Eugène Ionesco stieß ich einmal auf eine Passage, welche die Stimmung ziemlich genau trifft, in die ich beim Nachdenken über das Älterwerden gerate:

"Ich kann mir nicht erklären, wie ich es zulassen konnte, dreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alt zu werden. Ich begreife nicht, wie ich an mich halten konnte, um nicht den Versuch zu unternehmen, diese Katastrophe zu verhindern. Ist das im Schlaf über mich gekommen, war ich bewusstlos? Hat man mich betrunken gemacht? Umgekehrte Metamorphose: Ich werde zur Raupe. Wohin ist wohl derjenige verschwunden, der ich war, der ich noch sein muss, das zarte Kind, das neue Wesen, ja der Heranwachsende, der noch etwas von seiner Kindheit bewahrte? Wohin bin ich verschwunden? … Wie hat der liebe Gott zulassen können, dass so etwas aus mir wird! Ich stecke in der Haut eines andern, in den Häuten und den Hautfalten eines andern. Ich habe diese Erfahrung gemacht: Man kann ein anderer werden. Das mag absurd scheinen. Mir bleibt nur das Bedauern, ein anderer zu sein. Und dieses Bedauern macht, dass ich noch immer ich selbst bin oder das Kind, das ich war, das ich bin, oh, meine Farben, die Farben der Welt, mein anderer Himmel, meine andere Welt, meine anderen Meere, mein Kontinent von ehemals!

Alles hat sich verflüchtigt. Ich bin auf einem anderen Planeten, ich gleiche einem Wesen von einem anderen Planeten, ich war ein Mann, ein Kind - und eine böse Fee oder ein übler Zauberer hat mich in einen Bären, in ein Wildschwein, in ein Krokodil verwandelt. Weshalb hat er mich so bestraft? Vielleicht, weil ich an den Nägeln kaute oder in der Nase bohrte. Die Strafe ist unverhältnismäßig hart. Es ist ein Irrtum, ein Alptraum, ich will wieder ich selbst werden, ich bin das Kind … Was tun? Ich ringe die Hände, ich weine, ich heule, vergeblich. Sie sind wirklich bösartig…!

Fern von uns die Gestirne, das unendliche Himmelsblau, die grenzenlose Freude, das Fest."

Keine Sorge: Trotz aller Melancholie setze ich einstweilen auf den Abwehrzauber des Weiterschreibens. Auch wenn das Corona-Tagebuch mit dieser Folge endet, wird es irgendwie und irgendwo weitergehen. Ich habe in den letzten Wochen einige aufmunternde Zuschriften erhalten, die mir gezeigt haben, dass meine Durchhalteprosa von einigen Menschen gelesen und geschätzt wird. Ich will eine befreundete Künstlerin bitten, mir eine springende Antilope zu zeichnen, die für mich zum Symbol eines Schreibens geworden ist, an dem ich festzuhalten gedenke. Mal sehen, wohin sie mich führt.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: GEW_AN Magazin - 12.06.2020.

Mit diesem Teil 33 endet Götz Eisenbergs Corona-Tagebuch. Wir danken ihm sehr, dass wir seine "Gehirnantilope" bei ihren Sprüngen, Aufenthalten, Eindrücken und Gedankengängen in den Zeiten von Corona begleiten durften. Wohin Götz Eisenbergs Antilope nun springt? Wir wissen es nicht. Lassen wir uns überraschen!

Veröffentlicht am

16. Juni 2020

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