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Wie das Corona-Virus die WHO und die UNO stärkte

Die UNO feiert ihren 75. Geburtstag. Doch wie sieht ihre Zukunft aus? Ein utopischer Rückblick im Jahr 2045 auf die Welt von heute.

Von Andreas Zumach

Wir schreiben das Jahr 2045 und feiern 100 Jahre UNO. Ende Juni 1945 verabschiedeten 50 Staaten nach vierwöchigen Verhandlungen in San Francisco die Gründungscharta der Vereinten Nationen. Schon in ihrer Präambel wurde - erstmals in der Völkerrechtsgeschichte - die Existenz "individueller Menschenrechte" mit universeller Gültigkeit betont. Drei Jahre später wurden sie in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von der UN-Generalversammlung genauer ausformuliert. In Artikel 2, Absatz 4 der UNO-Charta findet sich - ebenfalls erstmals in einem völkerrechtlichen Dokument - das Verbot der Ausübung und Androhung zwischenstaatlicher Gewalt.

Den Anstoß zu diesen erheblichen zivilisatorischen Fortschritten des Jahres 1945 gaben der von Deutschland verübte Holocaust an über sechs Millionen Juden und der Zweite Weltkrieg mit über 60 Millionen Toten.

Kriege vermeiden, Leid der Menschen lindern

Die Menschheit von der "Geißel des Krieges zu befreien" postuliert die Charta als vorrangige Aufgabe der Organisation. In den ersten 75 Jahren seit der Gründung fanden bis 2020 fast 300 zwischen- und innerstaatliche bewaffnete Konflikte statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen. Gemessen am Ziel, Kriege zu vermeiden, war die UNO - oder besser ihre 194 Mitgliedsstaaten - gescheitert. Doch ohne die UNO und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert, noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UNO wäre es in der Zeit des Kalten Krieges zwischen 1950 und 1990 wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, wurden im UNO-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UNO und ihre humanitären Unterorganisationen wären hunderte Millionen überlebende Opfer von Kriegen, Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Ohne ihre Blockade durch die ideologische und atomar bewaffnete Konfrontation der Großmächte USA und Sowjetunion hätte die UNO in ihren ersten 45 Jahren sicher noch mehr der Absichten und Ziele erreichen können, die sie in der Gründungscharta formuliert hat.

Mehr als Kriege vermeiden - beispielsweise das Klima schützen

Die UNO bietet seit 100 Jahren aber auch den Rahmen für zahlreiche internationale Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards sowie auf vielen anderen Gebieten. Diese Normen, Regeln und Verträge haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt. Aber sie trugen immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen fast zehn Milliarden Erdbewohner*innen in zahlreichen Bereichen zu verbessern. Eine Auflösung der UNO hätte den Rückfall in die Barbarei weitgehend ungeregelter zwischenstaatlicher Beziehungen bedeutet.

Wie wichtig ein internationaler Rahmen ist, zeigte beispielhaft die Klimaerwärmung. Auf den UNO-Klimakonferenzen der Jahre 1992 bis 2015 vereinbarten die Staaten verbindliche Ziele und Zwischenschritte zur globalen Reduzierung der Emissionen von Kohlendioxid (CO2). Bei der Umsetzung dieser Vereinbarungen haperte es zunächst gewaltig. Nicht nur, weil die USA, damals der weltgrößte Emittent von CO2, sich aus dem Abkommen zurückzogen. Auch fast alle Vertragsstaaten des Abkommens verfehlten die für 2020 vereinbarten Zwischenziele zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Psychologen erklärten die Diskrepanz zwischen Vereinbarungen und mangelnder Umsetzung damit, dass der Leidensdruck für die meisten Menschen, insbesondere in den reichen Industriestaaten des Nordens, nicht groß genug war. Trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse und Szenarien zum Klimawandel und obwohl es auch im Norden seit Beginn des Jahrtausends immer häufiger zu Trocken- und Hitzeperioden, Stürmen und anderen extremen Wettersituationen kam, schienen die Gefahren der globalen Erwärmung immer noch zu abstrakt. Sie wurden wahrgenommen als ein Problem, das lange nach dem eigenen Tod, vielleicht erst für die Urenkel in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts, zur wirklich existentiellen Gefahr werden könnte.

Der Moment der Wahrheit

In den ersten Monaten des Jahres 2020, kurz vor dem 75. Geburtstag der UNO, wurde der Klimawandel durch die Corona-Pandemie aus den Schlagzeilen und dem Bewusstsein verdrängt. Ein Virus als globale Bedrohung, das wie nie zuvor Milliarden von Menschen in fast allen 194 Mitgliedsstaaten unmittelbar und konkret in ihrem Alltagsleben betraf. Die verhängten massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der zwischenmenschlichen Kontakte führten auch zu erheblichen Begrenzungen von Grundrechten sowie zur weltweit schwersten Wirtschaftskrise seit den Jahren 1929 - 1932. Der damalige UNO-Generalsekretär António Guterres sprach von der "größten Herausforderung für die Menschheit seit Ende des Zweiten Weltkrieges". Diese Herausforderung brauche daher eine "stärkere und effektivere Antwort, die nur in der Solidarität aller Beteiligten bewältigt werden kann. Die Welt steht vor einer noch nie dagewesenen Prüfung. Und jetzt ist der Moment der Wahrheit."

25 Jahre später lässt sich feststellen: Die Corona-Pandemie war tatsächlich ein kathartischer Moment in der Menschheitsgeschichte. Sie führte zwar nicht sofort, aber doch mittelfristig, immer wieder von Rückfällen bedroht, zu einer Veränderung nicht nur des Bewusstseins, sondern auch des Verhaltens der Menschen. Und damit auch zu positiver Veränderung der Politik vieler Staaten, zu einer verbesserten internationalen Kooperation und zur Stärkung des UNO-Systems.

Die WHO zeigt, wozu die UNO fähig ist

Am deutlichsten wurde dieser Wandlungsprozess zunächst bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Sie war unmittelbar zuständig für die internationale Koordination zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Bereits die Generalversammlung der WHO im Mai 2020 forderte, einen künftigen Impfstoff gegen das Corona-Virus allen Bewohner*innen dieser Erde schnell und zu bezahlbaren Preisen zugänglich zu machen. Bestehende Hindernisse in Form von Patentschutzrechten der großen Pharmakonzerne sollten unter Ausschöpfung aller handelsrechtlichen Möglichkeiten überwunden werden, notfalls durch Zwangslizenzen für Impfstoffe. Ziel war, schnell in möglichst vielen Ländern preiswerte Generika herstellen zu können. Einzig die USA stellten sich zunächst noch gegen diese Resolutionsforderung, da die Trump-Administration die Gewinninteressen des weltgrößten US-Pharmakonzerns Pfizer schützen wollte. Die Schweiz hingegen stimmte - trotz der entsprechenden Interessen der eidgenössischen Pharmakonzerne Roche und Novartis - für die WHO-Resolution und engagierte sich in der Folge auch aktiv für ihre Umsetzung.

Mit der Resolution wurde auch eine "unparteiische, unabhängige und umfassende Evaluierung" der weltweiten Reaktion auf die Corona-Pandemie beschlossen. Nicht nur die Reaktion der WHO selbst sollte untersucht werden, sondern auch, wie die WHO-Mitgliedsstaaten mit der Pandemie umgegangen waren und wie sie die Richtlinien und Empfehlungen der WHO umgesetzt hatten. Einmal mehr erhoben die USA gegen diesen Passus Einwände, die Trump-Administration wollte ausschließlich das Verhalten Chinas und der WHO untersuchen lassen.

Ende 2021 lag die Untersuchung vor. Sie bestätigte den Verdacht, dass die chinesische Regierung zumindest nach dem Ausbruch des Virus Ende November/Anfang Dezember 2019 zunächst falsche oder unvollständige Informationen an die Genfer WHO-Zentrale geliefert hatte. Und dass die WHO zu gutgläubig mit den Informationen aus Peking umgegangen war und die alternativen Informationen regierungsunabhängiger chinesischer Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Die Untersuchung bestätigte aber auch, dass die Regierungen vieler Länder die allgemeinen Gesundheitsrichtlinien sowie die Corona-spezifischen Empfehlungen der WHO sträflich missachtet hatten. Die Untersuchung belegte das besonders dramatische und folgenreiche Versagen der Trump-Administration in den USA. Dieses Versagen in Verbindung mit dem maroden Gesundheitssystem im reichsten Land der Welt hatte dazu geführt, dass die USA die meisten Corona-Toten zu beklagen hatten. Als die WHO-Untersuchung erschien, war die Trump-Administration allerdings schon längst nicht mehr im Amt. Die neuen Machthaber im Weißen Haus gaben den Widerstand der USA gegen die Forderungen der WHO-Resolution vom Mai 2020 auf. Daher konnten die beiden von Pfizer und von einem europäischen Pharmakonsortium unter Beteiligung von Novartis entwickelten Corona-Impfstoffe schnell weltweit zu bezahlbaren Preisen zugänglich gemacht werden.

Die Covid-Krise führte zu Änderungen zum Besseren

Im Mai 2021 beschloss die WHO-Generalversammlung in Genf auf Antrag Südkoreas und der Schweiz neue rechtsverbindliche Befugnisse für die Organisation. Seitdem befinden sich in allen 194 Mitgliedsländern der WHO ständige Beobachter*innen der Organisation, die im Fall von Gesundheitsproblemen uneingeschränkte Kompetenzen haben zur Informationsbeschaffung sowohl bei den Regierungen als auch bei nichtstaatlichen Akteuren.

Die Corona-Pandemie führte auch dazu, dass die WHO seit langem überfällige Reformen ihrer Finanzierung vornahm. Ursprünglich wurde die Organisation von den Mitgliedsstaaten finanziert. Doch 1993 beschlossen eben diese Mitgliedsstaaten ihre Pflichtbeiträge einzufrieren. Die Folge: 2020 stammten nur noch knapp 20 Prozent der WHO-Haushaltsmittel aus Pflichtbeiträgen, über 80 Prozent hingegen aus freiwilligen, aber zweckgebundenen Beiträgen, davon 70 Prozent von Regierungen und 30 Prozent von privaten Akteuren wie Lebensmittelkonzernen, Pharmafirmen oder mächtigen Stiftungen. 2023 beschloss die WHO-Generalversammlung, diese problematische finanzielle und gesundheitspolitische Abhängigkeit zu überwinden und den Anteil der Pflichtbeiträge am Haushalt der Organisation schrittweise wieder auf das Niveau von mindestens 80 Prozent zu erhöhen. 2029 war dieses Ziel erreicht. Unter den freiwilligen Beiträgen darf der Anteil aus privatwirtschaftlichen Quellen insgesamt bei höchstens 25 Prozent liegen. Eine Stiftung oder ein Wirtschaftskonzern darf maximal fünf Prozent beisteuern.

Dieser Reformbeschluss der WHO-Generalversammlung war möglich geworden, weil zunächst eine Gruppe von 20 Ländern aus allen Kontinenten, darunter die Schweiz, ihre Pflichtbeiträge an die WHO innerhalb von fünf Jahren auf die fünffache Summe erhöht hatte.

Ausbruch aus der neoliberalen Logik

Die 2020 als alternativlos geltende Zwangslogik der internationalen Handels- und Wirtschaftspolitik wurde durch die Pandemie außer Kraft gesetzt: Das so dringend benötigte Schutzmaterial und die medizinischen Geräte wurden überwiegend in Asien produziert und waren teilweise nicht verfügbar. 80 Prozent aller Grundstoffe für die von westlichen Pharmakonzernen hergestellten Medikamente kamen aus China und Indien. Unter dem Eindruck der Krise wurden medizinische Produkte und Dienstleistungen - ähnlich wie etwa Waffen - von den im Rahmen der Welthandelsorganisation vereinbarten Freihandelsbestimmungen ausgenommen und zu "strategisch relevanten Gütern" erklärt, die künftig wieder ohne den Druck ausländischer Billigkonkurrenz national hergestellt, angeboten und bevorratet werden.

Schub für Maßnahmen gegen die globale Erwärmung

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie führten 2020 weltweit zu einem massiven, in diesem Ausmaß noch nie erlebten Rückgang der Industrieproduktion, des Gütertransports und des Luftverkehrs. In der Folge sank zumindest für einige Monate auch der Ausstoß des klimaschädlichen CO2 - fast auf den Stand des Jahres 1990, dem Basisbezugsjahr für alle international vereinbarten Maßnahmen. Viele Regierungen verbanden ihre milliardenschweren Konjunkturprogramme mit Auflagen und Anreizen zur ökologischen Modernisierung. Ab 2026 war beispielsweise der Verkauf von Autos mit über sechs Litern Benzin- oder Dieselverbrauch nicht mehr möglich. Und 2025 einigten sich die Staaten auf die Einführung einer spürbaren Kerosinsteuer auf Flugbenzin. Die Steuer führte zu einer deutlichen Verteuerung von Flugtickets und bis 2030 einem Rückgang des weltweiten Flugverkehrs um 20 Prozent verglichen mit dem letzten Boomjahr 2019. Neben einer Kerosinsteuer einigten sich die Mitgliedsstaaten der UNO im Jahr 2027 endlich auch auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer für internationale Devisengeschäfte. Eine solche Steuer hatte 1972 bereits der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Tobin vorgeschlagen. Die Steuer in Höhe von 0,1 Prozent wird seit 2028 zur Hälfte verwendet für eine verlässliche und ausreichende Finanzierung der UNO und ihrer Unterorganisationen. Mit der anderen Hälfte der Steuermittel wurde der Ausbau erneuerbarer Energien - Solar, Wind und Biothermie - weltweit erheblich vorangetrieben.

Alle diese Maßnahmen trugen dazu bei, dass im Jahr 2040 ausnahmslos alle 194 UNO-Staaten ihre im Pariser Klimaabkommen zugesagten Zwischenziele für die Reduzierung der CO2-Emissionen erreichten, die sie in den Überprüfungsjahren zum Teil noch deutlich verfehlt hatten. Derzeit - im Juni 2045 - sieht es so aus, als könnte die Bilanz Ende dieses Jahres noch besser ausfallen. Hält dieser Trend die nächsten fünf Jahre an, ist es durchaus möglich, dass das Ziel des Pariser Klimaabkommens für 2050 sogar übertroffen wird. Das hätte 2020 kaum jemand vorausgesagt. Genau so wenig, wie die Gründer*innen der UNO wissen konnten, dass dereinst Gesundheit und Klima vordringliche Probleme der Weltgemeinschaft sein werden, dass aber die von ihnen ins Leben gerufene Institution mit dem Bekenntnis zu Menschenrechten und zur Vermeidung von Kriegen auch dafür gewappnet sein wird.

Quelle: Infosperber.ch - 28.06.2020.

Veröffentlicht am

29. Juni 2020

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