Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Das Gegenteil von Gewalt ist Gerechtigkeit

Gewaltverzicht und Verantwortung im 21. Jahrhundert

Von Ullrich Hahn

Gegen Gewalt zu sein, ist nichts Besonderes. Auch Politiker sprechen sich im Allgemeinen gegen Gewalt aus; Kinder sollen gewaltfrei erzogen werden, die Prügelstrafe in der Schule ist abgeschafft, Killerspiele sind verpönt, prügelnde Jugendliche sollen härter bestraft werden.

Im gleichen Sinne gibt es auch einen Konsens in Gesellschaft, Kirche und Politik, dass Krieg nicht sein soll. Dieser wurde sogar schon rund 40 Jahre vor der Prügelstrafe geächtet: 1928 schlossen die damals wichtigsten Großmächte einen "Vertrag über die Ächtung des Krieges", dem bis 1938 insgesamt 63 Staaten beitraten. Darin heißt es: "Die hohen vertragsschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.

Die hohen vertragsschließenden Parteien vereinbaren, dass die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte, die zwischen ihnen entstehen können, welcher Art oder welchen Ursprungs sie auch sein mögen, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden soll."

Von keinem der vertragsschließenden Staaten ist jedoch bekannt, dass er nach Vertragsschluss aufgehört hätte, weiter aufzurüsten, und ab 1939 waren nahezu aller dieser 63 Staaten kriegführend am Zweiten Weltkrieg beteiligt.

Offensichtlich ist es wenig aussagekräftig, gegen Gewalt und gegen Krieg im Allgemeinen zu sein.

Dies ist sowohl völkerrechtlich (UN-Charta Artikel 2 Ziffer 4) und theologisch (EKD-Friedensdenkschrift 2007) unbestritten.

Entscheidend sind aber die Ausnahmen, die vom Gewaltverzicht und vom Verbot des Krieges gemacht werden. Diese Ausnahmen sind das Einfallstor für alle Rüstung und Kriegsvorbereitung samt ihrer moralischen und theologischen Legitimation.

Das zweigeteilte Menschen- und Weltbild

Geistige Grundlage für die Zweiteilung von grundsätzlicher Ächtung einerseits und Bejahung von Ausnahmen andererseits ist ein zweigeteiltes Menschen- und Weltbild: Wir selbst könnten zwar auf Gewalt und Krieg verzichten und würden dies ja auch gerne tun, aber den anderen ist nicht zu trauen, denn "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt."

Gut und Böse werden nicht nur verschiedenen Menschen, sondern ganzen Staaten, Kulturen und Systemen zugeordnet (z.B. Kommunismus, Islam, "Achse des Bösen") und damit zugleich die Vorstellung genährt, das Böse könne aus der Welt geschafft werden, in dem man die Bösen eliminiert, auslöscht oder wegsperrt.

Wegen der Anderen müssen wir deshalb für den Krieg, den wir eigentlich nicht wollen, gerüstet sein, und zwar sowohl für den völkerrechtlich ausdrücklich erlaubten Verteidigungskrieg (UN-Charta Artikel 51), als auch aus Verantwortung für bedrohte Völker und Gesellschaften für militärische Interventionen weltweit (gem. UN-Charta Kapital VII per Beschluss des Sicherheitsrates oder seit dem Kosovo-Krieg 1999 - wegen der rechtlichen Konstruktion einer "Responsibility to protect" R2P zur Durchsetzung des Rechts, so auch die EKD-Denkschrift Ziffern 60, 100, 104).

Im Gegensatz zur Verteidigung ist die "R2P" weder regional noch zeitlich begrenzt und rechtfertigt deshalb eine dauerhafte Rüstung unabhängig davon, ob die eigene Nation noch von irgendwem bedroht wäre.

Die Überwindung der Ausnahmen vom Verbot von Krieg und Gewalt

Die Ächtung des Krieges und der Gewalt bedürfen deshalb, wenn sie ernst gemeint sein wollen, der Kritik und Überwindung ihrer Ausnahmen:

Zuzugeben ist: Gewalt wirkt. Sie kann vieles, was gewaltlose Mittel nicht können. An Zerstörungskraft ist sie gewaltlosen Mitteln weit überlegen.

Sie kann sogar Konflikte dauerhaft lösen. Als Rom nach dem 3. Punischen Krieg Karthago zerstört hatte, gab es dort keinen Konflikt mehr. Die Frage ist aber, zu welchem Preis geschehen Konfliktlösungen dieser Art.

In vielen anderen Fällen führte und führt der Versuch militärischer Konfliktbereinigung nicht einmal zu solchen "Erfolgen", sondern direkt in die Sackgasse (Vietnam, Afghanistan, Irak) und lässt statt einer Lösung nur Zerstörung zurück.

Ob "erfolgreich" oder erfolglos, unterliegt der Weg der Gewalt aber außer seinem Preis einem grundsätzlichen Handicap:

Der Einsatz von gewaltsamen Mitteln entscheidet letztlich nicht darüber, wer Recht hat, sondern nur, wer der Stärkere ist.

Die stärkere ist aber nicht notwendig die gute Seite. Der Glaube daran, dass es so sei, zwingt jedoch die Seite, die sich für die Gute hält (oft beide), zur ständigen Aufrüstung, um der bösen anderen jeweils überlegen zu sein.

Die völkerrechtliche Verpflichtung zur ständigen Aufrüstung, wie sie im Lissaboner Vertrag der EU vereinbart ist, bringt nur in eine rechtliche Form, was bereits zur Eigendynamik jeder Militärpolitik gehört.

Auf dem Weg der Gewalt kann es deshalb - entgegen der offiziellen, auch völkerrechtlich legitimierten herrschenden Meinung - gar nicht um die Stärke des Rechts gehen, sondern immer nur um das Recht des Stärkeren.

Gewalt ist dominant.

Das betrifft nicht nur die Kosten militärischer Rüstung, sondern auch das Denken.

Selbst als offiziell nachrangiges Mittel (ultima ratio) wirkt es auf die dem militärischen Einsatz vorausgehenden zivilen Formen der Konfliktbearbeitung ("und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt" - z.B. Abzug der OSZE-Beobachter aus dem Kosovo im März 1999 und der Inhalt des Vertragsangebots der Nato in Rambouillet).

Ob real oder nur als Drohung im Hintergrund eingesetzt, verbreitet das Militär der überlegenen Seite immer auch die unausgesprochene Botschaft: "Mit der richtigen Waffenrüstung bist du stark und bekommst, was du willst".

Über die vielfältigen Versuche der Nachahmung (z.B. Atomrüstung des Iran, Nordkorea u.a. Staaten) muss man sich nicht wundern.

Letztlich prägen die eingesetzten Mittel auch das damit verfolgte Ziel.

Das Ergebnis "gelungener" gewaltsamer Befreiungskriege war zumeist oft eine unfreie, auf Gewalt gegen die eigene Bevölkerung gestützte Regierungsform. Gandhi hatte wohl Recht, wenn er sagt, dass alles, was mit Gewalt erreicht wurde, auch wieder durch Gewalt verteidigt werden muss.

Krieg und Militär sind organisierte Verantwortungslosigkeit

Entgegen dem Anspruch des Konzepts einer "R2P" wird auf dem Weg militärischer Rüstung auch keine Verantwortung wahrgenommen.

Verantwortung tragen wir zunächst für die Folgen des eigenen Tuns.

Im Gegensatz dazu lehnen es die Staaten und insbesondere die jeweiligen Sieger bis heute ab, Schadensersatz an die durch militärische Einsätze geschädigten Zivilisten zu leisten.

Die gleiche Praxis der Verantwortungslosigkeit gilt auch in Bezug auf die Folgen vielfältiger wirtschaftlicher Interventionen von Seiten der wirtschaftlich und militärisch dominanten Nationen (Terms of Trade, Ausbeutung von Rohstoffen, subventionierte Exporte, die die einheimischen Märkte zerstören).

Ein Sonderfall sind die Rüstungsexporte, ohne die eine Vielzahl von Kriegen und gewaltsamen Auseinandersetzungen auch unterhalb der Schwelle zwischenstaatlicher Gewalt gar nicht stattfinden könnten.

Auch wenn es im Einzelfall um die notwendige Hilfe für bedrohte Menschen geht, setzt die Wahrnehmung von Verantwortung nicht nur die Möglichkeit der Hilfe voraus, sondern auch die Zulässigkeit der Mittel, die zur Hilfe eingesetzt werden.

So befreit der Hinweis auf die übernommene Verantwortung nicht von der Frage, ob das Töten und Verletzen von Menschen erlaubt sein kann, um anderen beizustehen, insbesondere wenn dies außerhalb von unmittelbaren Nothilfesituationen und auch zu Lasten von Unbeteiligten geschieht ("Kollateralschäden").

Die Rechtmäßigkeit der Mittel muss der Gerechtigkeit des angestrebten Zieles entsprechen.

Wenn von den reichen Industrienationen militärische Mittel zum Schutz bedrohter Menschen weltweit bereit gehalten werden, so steht die Lauterkeit dieses Motivs in Frage, wenn zur gleichen Zeit Flüchtlinge aus den Kriegs- und Elendszonen dieser Welt in diesen militärisch hochgerüsteten Staaten nicht aufgenommen, sondern unter Inkaufnahme ihres Todes abgewiesen werden.

Im Übrigen mindern allein die Kosten für das Militär die Möglichkeiten für eine in vielen Fällen ausreichende zivile Hilfe.

Allein schon dadurch trägt das Militär zu den Problemen bei, zu deren Lösung es sich anbietet.

Damit stellt sich die Frage nach der Verantwortung letztlich anders:

Verantwortlich für eine Hilfe in Notfällen, die ohne mein Zutun eingetreten sind, bin ich nur im Rahmen meiner Möglichkeiten. Gebe ich die mir zur Verfügung stehenden Mittel für ein teures, interventionsfähiges Militär aus, so sprechen wohl auch moralische Gründe dafür, dieses Militär zur Rettung bedrohter Menschen einzusetzen.

Gebe ich die mir zur Verfügung stehenden Mittel jedoch nicht für militärische Zwecke aus, sondern zur Überwindung von Hunger und Elend in der Welt, so betrifft mich die Frage einer etwa als erforderlich erachteten militärischen Intervention nicht mehr.

Hierdurch werde ich möglicherweise gegenüber manchen Verbrechen ohnmächtig sein, stelle mich dafür aber den Erfordernissen der alltäglichen Ungerechtigkeit, die mit den Mitteln des Militärs nicht gelöst, sondern eher ausgelöst werden.

Die Ethik des Gewaltverzichts

Eine verantwortliche Haltung gegenüber den dringenden Problemen des 21. Jahrhunderts sehe ich deshalb allein in der Ethik und Politik des Gewaltverzichts.

Seit Max Weber gilt der generelle Gewaltverzicht als Ausdruck einer "Gesinnungsethik" und deshalb nicht als tauglich für ein politisches Handeln, das dem Leitbild einer "Verantwortungsethik" zu folgen habe ("Politik als Beruf", 1919).

Sein Bezugsrahmen für dieses Urteil war jedoch der Nationalstaat und das vom Politiker zu verfolgende Wohl der eigenen Nation (so noch immer der Eid der Regierungsmitglieder gem. Artikel 56, 64 Abs. 2 GG).

Haben wir aber die Menschheit und die Erhaltung der Erde als Bezugsrahmen, erkennen wir im Gegenteil das grenzüberschreitende Denken und Handeln, wie es die von Weber gemeinten gewaltfreien Gesinnungsethiker (für Weber damals insbesondere Leo Tolstoi) vertraten, als zutiefst verantwortlich.

Eine Politik mit ausschließlich gewaltfreien Methoden hat jedoch einen anderen Zeit- und Handlungsrahmen als eine Politik mit gewaltsamen Mitteln in der Vor- oder Hinterhand.

Gewaltfreies Handeln kann nicht das gleiche wie die Gewalt, so lassen sich etwa unrechte Positionen (z.B. in der Verteilung von Ressourcen) auf die Dauer nicht ohne Gewalt verteidigen.

Das Gegenteil von Gewalt heißt deshalb nicht Gewaltlosigkeit, sondern Gerechtigkeit.

Mit dem Verzicht auf Gewalt wird nicht nur ein Mosaiksteinchen aus unserer Gesellschaft ausgetauscht, sondern das ganze Bild verändert.

Die Stärke gewaltfreier Politik liegt damit in der Bearbeitung von Konfliktursachen und dem Aufbau eines Friedens in Gerechtigkeit, ihre vermeintliche Schwäche in dem Verzicht, die eigenen Vorstellungen auch einseitig und schnell (mit der Drohung oder dem Einsatz von Gewalt) durchsetzen zu können.

Gewaltlosigkeit in Bezug auf Mensch und Schöpfung bedeutet deshalb nicht nur den Verzicht auf das Mittel der Gewalt, sondern damit zugleich auf einen privilegierten Lebensstil (Privation = Beraubung), den sich andere Menschen und künftige Generationen nicht werden leisten können.

Eine Ethik des Gewaltverzichts entspricht auch einem anderen Rechtsverständnis.

Für das herrschende Verständnis gehört zum Recht auch die Macht, es durchzusetzen. Das Recht hatte aber von alters her die Funktion, sich der Macht in den Weg zu stellen. Auch wenn es - selbst ohnmächtig - mit Stiefeln getreten wurde, behielt es seine Überzeugungskraft und hat auf Dauer immer wieder die Macht in seine Schranken gewiesen.

Das Recht wirkt nicht über Zwang, sondern über die Einsicht. Je mehr Zwang mit der Durchsetzung des Rechts verbunden ist, desto weniger wird erkennbar, dass es Recht ist, was da durchgesetzt werden soll. Recht bedarf nicht der Macht, aber wohl der Zivilcourage, um ihm eine Stimme zu verleihen (siehe die alttestamentlichen Propheten, Antigone, Sokrates, viele Märtyrer, die Menschenrechtsaktivisten der Gegenwart).

Recht ist aber nicht nur eine Gewissenserkenntnis einzelner Menschen, sondern bedarf regelmäßig der gemeinsamen Suche aller an einem Konflikt Beteiligten.

Deren Partizipation an der Rechtsfindung setzt die gemeinsame Augenhöhe voraus. Jede Form von Gewalt und Zwang ist mit diesem dialogischen Vorgehen nicht zu vereinbaren.

Mit Gewalt werden regelmäßig (vermeintliche) Rechtsansprüche einer Seite durchgesetzt; das Recht bleibt dabei oft auf der Strecke.

Gewaltfreies Handeln ist meist nicht spektakulär und deshalb selten mediengerecht. Über weite Strecken wirkt die damit verbundene Überzeugungsarbeit im Stillen. Umso überraschender sind oft ihre Ergebnisse (etwa der Fall der Mauer 1989).

Man wird wohl auch sagen können, dass die wesentlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit nicht durch Gewalt, sondern auf dem Weg beharrlichen gewaltfreien Widerstandes errungen wurden.

Der Vorteil dieses Weges ist, dass sich jeder und jede daran beteiligen kann ohne gesundheitliche Auslese (wie beim Soldaten), ohne Altersbegrenzung und ohne vorgeschriebenen Bildungsabschluss.

Die Beteiligungsformen sind unterschiedlich, nicht überall sind Helden gefragt. Die Anfänge werden meist klein sein, ein Beginnen kann aber sofort erfolgen.

Ullrich Hahn ist Rechtsanwalt und Vorsitzender des deutschen Zweigs des internationalen Versöhnungsbundes. Dieser Text ist das Manuskript eines Vortrags am 12. September 2009 in Überlingen.

Quelle: Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit Nr. 24, IV/2009, S. 21 - 23.

Veröffentlicht am

28. September 2009

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