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Der Pharmakomplex

Mit Covid-19 kehrt die Auseinandersetzung um Forschung und Entwicklung lebensnotwendiger Medikamente zurück: Schauplatz ist die WHO.

Von Dr. Andreas Wulf.

Medikamente bekämpfen Krankheitserreger, verlängern Leben, helfen bei chronischen Krankheiten, lindern Schmerzen, dämpfen Ängste, manche machen euphorisch, andere lassen Haare nachwachsen oder helfen beim Abnehmen. Gegen jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen, hieß es früher. Heute gibt es für jedes Problem eine Pille. Doch es gibt auch eine andere Seite der pharmakologischen Wunderwelt: massive Werbeaktivitäten zur Umsatzsteigerung problematischer Kombinationspräparate, fragwürdige Ausdehnung der Einsatzbereiche an sich sinnvoller Medikamente, Innovationen mit nur minimalem Zusatznutzen, Forschungsorientierung an lukrativen Märkten statt dringlichen Gesundheitsproblemen für Menschen ohne Kaufkraft und Krankheiten der Armut. Hier ist eine Instanz wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gefragt, die die Gesundheitsbedürfnisse aller Menschen im Blick haben sollte.

Tatsächlich sind Auseinandersetzungen zwischen der WHO und der kommerziellen Pharmaindustrie spätestens seit den 1970er Jahren ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Die großen Konzerne bekämpften von Anfang an die Entwicklung des WHO-Konzepts der "Unentbehrlichen Arzneimittel", mit dem erstmals 1977 Licht in den Dschungel der wild wuchernden Kombinationspräparate und Substanzen gebracht wurde. Die Vorstellung, dass eine überschaubare Liste von wenigen Hundert Substanzen für die wichtigsten Erkrankungen der Menschen ausreichen sollte, trieb die Konzerne auf die Barrikaden. Trotz aller wissenschaftlichen Expertise, die die WHO in ihren zweijährigen Kommissionen zur regelmäßigen Weiterentwicklung der "Model List of Essential Medicines" aufbot, denunzierten sie das Konzept als "Minimalmedizin für arme Menschen in armen Ländern".

Misstrauen gegen Generika

Auch wenn sich inzwischen 140 Länder auf der Grundlage dieses Modells eigene nationale "Positivlisten" für ihre öffentlichen Gesundheitsdienste geschaffen haben, gelang es der Pharmaindustrie, sie vor allem in den hochpreisigen Märkten der Industriestaaten zu verhindern. Schon Horst Seehofer scheiterte in den 1990er Jahren als Gesundheitsminister mit einem solchen Vorhaben am Bundesrat, in dem die Pharmalobby den starken SPD-Ministerpräsidenten mit Arbeitsplatzabbau drohte. Auch ein neuer Anlauf 2003 mit politisch umgekehrten Vorzeichen brachte keinen Erfolg.

Eine zweite Verteidigungslinie der Pharmalobbyisten war das gezielt gesäte Misstrauen gegenüber den Generikaherstellern, die erfolgreiche Medikamente zu kostengünstigen Preisen nachproduzieren. Auch Ratiopharm musste in Deutschland gegen diese Vorurteile ankämpfen. Härter trifft es die internationalen Hersteller vor allem aus Indien. Bei diesen wird nicht nur die Qualität der Produkte beständig in Frage gestellt. Sie werden auch systematisch in die Nähe von "Markenpiraterie" und Arzneimittelfälschungen gerückt. So soll die Erosion von Pharma-Märkten vor allem in Schwellenländern aufgehalten werden. Die transnationalen Pharmaunternehmen sind allzu gerne bereit, sich bei der WHO und auch bei großen Ländern mit Medikamentenspenden unliebsame Generika und damit Konkurrenz vom Leib zu halten.

Ein klassisches Beispiel ist das Spendenprogramm von Novartis für sein innovatives Leukämie-Medikament Imatinib (Gleevec(r)) Anfang der 2000er Jahre. Mit einem Preis von 150.000 Dollar Jahreskosten war es nicht nur für Patient*innen in den ärmsten Ländern, sondern auch in den aufstrebenden middle-income-Ländern nicht zu bezahlen. Während Novartis trotz starker internationaler Kritik versuchte, für sein Medikament Patentschutz in Indien zu bekommen, um eine generische Produktion durch die dortigen Pharmaunternehmen zu verhindern, gründete es eine gemeinnützige Stiftung. Diese stellte das Medikament für arme Patient*innen in inzwischen 80 Ländern zur Verfügung. Eine ähnliche Strategie versuchten die Firmen zur gleichen Zeit beim "Global Fund to Fight Aids, TB and Malaria", dem sie umfangreiche Medikamentenspenden anboten, um die erfolgreich entwickelten Konkurrenzprodukte der indischen Unternehmen von den Finanzierungen durch den Global Fund fernzuhalten. Wieder wurden Qualitätsargumente bemüht. Um diese zu entkräften, begann die WHO ein eigenes Präqualifizierungsprogramm aufzulegen, mit dem sie seitdem die Produzenten von Generika einer umfangreichen Qualitätsprüfung unterzieht, die ihre Ware an mit Mitteln des Fund finanzierte Behandlungsprogramme liefern.

Verbissen für Patente

Den hartnäckigsten Kampf führt die Pharmaindustrie allerdings um ihr "Innovationsmodell" der Geistigen Eigentumsrechte. Denn nur durch diese vom Patentsystem abgesicherten Rechte lassen sich die hohen Monopolpreise erreichen, die das "Blockbuster"-Modell der aktuellen Pharmaforschung und Produktion ermöglichen: Wenige erfolgreiche Produkte werden massiv beworben und rasch in den Markt gedrückt, um in kurzer Zeit maximalen Gewinn zu erreichen. Davon hängen Börsennotierungen und Dividenden ab. Obwohl als Rechtfertigung für dieses Modell die hohen Forschungskosten und zahlreichen Fehlschläge bis zum neuen "Blockbuster"-Medikament angegeben werden, forschen die großen Konzerne gar nicht mehr immer selbst. Vielmehr nutzen sie die enormen Gewinne für Einkaufstouren und Fusionen: Kleine Biotechnologie-Unternehmen, die erfolgversprechende Forschungsergebnisse nachweisen können, werden, kaum haben sie den "Großen" das Entwicklungsrisiko weitgehend abgenommen, geschluckt.

Das Hepatitis-C-Medikament Sofosbuvir (Sovaldi(r)) vom Pharmariesen Gilead war solch ein relevanter Durchbruch. In Europa kostet die Behandlung damit immer noch über 43.000 Euro, während die internationale Generikakonkurrenz den Preis für das Medikament auf unter 100 Euro gedrückt hat. Entwickelt wurde es von einem kleinen britischen Start-up Pharmasset, geschätzte Entwicklungskosten zur Zeit der Übernahme zwischen 43 Mio (für Sofosbuvir allein) und 271 Mio. (inkl. gescheiterter Kandidaten). In der Übernahmeschlacht 2013 zwischen den Giganten war die US-amerikanische Firma Gilead schließlich mit 11 Mrd. Dollar erfolgreich. Es sollte sich lohnen. Schon nach zwei Jahren hatte das Medikament 35 Mrd. eingespielt.

Eine ebenfalls dramatische Folge dieser Marktstruktur ist die systematische Verzerrung von Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkten. Großunternehmen tätigen primär dort Forschungsanstrengungen, wo sich die gewünschten Umsätze realisieren lassen. Im Fokus sind neue Medikamente zur Behandlung von Krebserkrankungen, psychischen Leiden, Diabetes und andere chronische Krankheiten von Menschen, deren Sozial-, Versicherungs- und Gesundheitssysteme die enormen Kosten tragen. Im Gegensatz dazu ist die Antibiotika-Forschung weitgehend eingestellt, da hier die kurzfristigen Behandlungszyklen geringere Profite versprechen.

Kleinere Korrekturen an dem System, etwa die Hoffnungen auf Innovationen für seltene Krankheiten durch eine Verlängerung der Marktexklusivität für solche "Waisen-Medikamente" durch die US-amerikanische oder auch europäische Arzneimittelbehörde, werden an dieser Schieflage nichts ändern. Nötig wäre eine konsequente Trennung von Forschungs- und Entwicklungskosten von den Preisen. Nur so können Innovationen rasch und möglichst kostengünstig für alle Menschen verfügbar gemacht werden. Auch für diese Auseinandersetzung ist die WHO die richtige Bühne. Hier könnte sie sich in ihrer einzigartigen Funktion bewähren als der multilaterale Akteur der globalen Gesundheitspolitik mit dem Mandat, völkerrechtlich verbindliche Verträge zu verhandeln. Dies geschieht allerdings nur allzu selten, aktuelle Ausnahmen sind die Verträge des Tabak-Kontroll-Abkommens und die International Health Regulations, die die Kooperation der Mitgliedsstaaten im Fall von globalen Gesundheitsnotständen regeln. Die Coronavirus-Pandemie ist genau ein solcher Notstand.

Es war 2012, als die konsultative Experten-Arbeitsgruppe zu Forschung und Entwicklung nach einem Jahrzehnt der Analysen und Verhandlungen in der WHO-Kommission über geistige Eigentumsrechte, Innovation und Öffentliche Gesundheit (Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health) einen Vorschlag auf den Tisch legte. Er sah ein verbindliches Rahmenabkommen zu "Open Knowledge Innovation" vor, mit dem eine gemeinsame öffentliche Forschungsfinanzierung durch die Mitgliedsstaaten der WHO entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsstärke vereinbart werden sollte. Damit wären das generierte Wissen, die Produkte und sogar Lizenzen unter öffentlicher Kontrolle. Auf diese Weise könnten Medikamente kostengünstig von allen reproduziert werden. Noch im gleichen Jahr scheiterte dieser Vorschlag in der Weltgesundheitsversammlung, nicht einmal die damalige Generaldirektorin Margaret Chan hatte sich hinter ihn gestellt.

Patentpool hilft

Die Coronavirus-Pandemie könnte mit einem optimistischen Blick betrachtet die richtige Gelegenheit sein, einen neuen Anlauf zu nehmen. Mit dem neuen Covid-19 Technology Access Patent Pool, der von Costa Rica und der WHO Ende Mai vorgestellt wurde, liegt ein Modell vor, in dem das Wissen zum Virus und die Instrumente seiner Bekämpfung gebündelt und für alle in einem freien Lizenzverfahren verfügbar wäre. Mit diesem ließe sich die seit Jahrzehnten währende Blockade zumindest für die aktuelle Krise überwinden. Allerdings sind unter den 36 Regierungen, die den Pool unterstützen, bislang nur fünf aus kleineren europäischen Ländern (Luxemburg, Portugal, Belgien, Niederlande, Norwegen). Mag die Kanzlerin inzwischen gern von den "globalen öffentlichen Gütern" sprechen: Bei dem Vorstoß, der genau dies gewährleisten würde, hält sich die Bundesregierung, ebenso wie die Schwergewichte Großbritannien, Russland und China, entschieden zurück.

Bei der von der EU Anfang Mai initiierten Sammelaktion "Coronavirus Global Response" sagte Deutschland 525 Mio. Euro zu, die in verschiedene Initiativen zur Diagnostik-, Impfstoff- und Medikamentenforschung und zur Produktion und Verteilung der Produkte fließen sollen - ein substantieller finanzieller Beitrag. Aber Politik wird eben nicht nur mit dem Scheckbuch gemacht. Wesentlich sind die strukturellen Bedingungen. Der Covid19-Pool wäre der geeignete Ansatz, um die konkrete Umsetzung und Zugänglichkeit solcher Innovationen zu ermöglichen. Er würde verhindern, dass wieder einmal die großen privaten Player Preise für ihre patentgeschützten Produkte festlegen und öffentliche Investitionen sich umgehend in private Gewinne verwandeln. Hierfür gilt es in der nächsten Zeit weiter zu streiten.

Dr. Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Berlin-Repräsentant und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.

Quelle: medico international - 08.07.2020.

Veröffentlicht am

19. Juli 2020

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