Legitime Kritik ist kein AntisemitismusBrief von jüdischen Gelehrten an Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.Hilft es Juden in Deutschland und der Aufarbeitung des Holocaust, wenn der Antisemitismusvorwurf möglichst breit gestreut wird? Felix Klein hat in eher vager Weise gegen "Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu" Stellung genommen. Eine Reihe jüdischer Akademiker sieht darin den illegitimen Versuch, berechtigte Kritik an der Person Kleins abzuwehren. Dies beeinträchtige die Redefreiheit in einer Demokratie, verharmlose die rechte Gefahr und schade insgesamt eher dem Kampf gegen wirklichen Antisemitismus. Hier der offene Brief im Wortlaut. Dr. Felix Klein Zur Kenntnis: Betreff: Ihre Äußerungen bezüglich "Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu", 10. Juli 2020 wir sind jüdische Gelehrte und Künstler aus Israel und anderen Ländern, von denen viele auf Antisemitismus- und Holocaustforschung, Israel- oder Jüdische Studien spezialisiert sind. Am 30. April haben wir in einem Schreiben an Bundesinnenminister Horst Seehofer Ihre Ablösung als Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefordert. Wir taten dies nach Ihrem schändlichen Angriff auf Prof. Achille Mbembe, einen der bedeutendsten Intellektuellen Afrikas und weltweit. Jetzt sind uns Äußerungen zur Kenntnis gekommen, die Sie in einer Rede am 30. Juni getätigt haben. In Anwesenheit von Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey sagten Sie: "Wir alle wissen, vielleicht, meine Damen und Herren, dass gerade der Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu auch mir persönlich in den letzten Wochen das Leben durchaus etwas schwerer gemacht hat. Aber auch wenn rechte Erzählungen zurzeit höheres Gewaltpotential haben, dürfen wir diesen Bereich nicht unterschätzen." Diese Aussage lehnen wir entschieden ab. Sie werden nicht von "linksliberalen Antisemiten" schikaniert, sondern Juden und Nichtjuden protestieren gegen die Art und Weise, in der Sie den Kampf gegen Antisemitismus missbräuchlich einsetzen ("weaponizing") - auf Kosten der Redefreiheit und grundlegender Bürgerrechte und im Endeffekt auch der Bekämpfung von Antisemitismus selbst. Sie für Äußerungen und Handlungen in Ihrer offiziellen Funktion zur Rechenschaft zu ziehen, Herr Klein, ist kein Antisemitismus. Das ist das Wesen der Demokratie. Ihre oben zitierte Äußerung ist zutiefst beleidigend. Sie haben uns und viele andere, die Sie in legitimer Weise kritisieren, im Grunde als Antisemiten bezeichnet. Dafür verlangen wir eine Entschuldigung. Es zeugt außerdem von Ihrem verzerrten Verständnis für die akute Gefahr, der Juden in Deutschland aufgrund der Zunahme des rechtsextremen Antisemitismus ausgesetzt sind. Ohne zu Zögern vergleichen Sie "linksliberale" Kritik mit rechter Gewalt und bestehen darauf, dass Ersteres nicht zu unterschätzen sei. Dabei nehmen wir eine Methode wahr, die Sie schon früher angewandt haben: die Stigmatisierung und Beschuldigung von Kritikern mit undefinierten und unbegründeten Behauptungen. Anstatt Ihre Vorwürfe mit konkreten und glaubwürdigen Informationen über den Vorsatz und das Verhalten bestimmter Personen zu untermauern, begnügen Sie sich mit Verallgemeinerungen wie "dem Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu". Davon abgesehen, dass wir uns von Ihnen verdächtigt fühlen - auf wen zeigen Sie eigentlich? Mit welchen Belegen? Wir halten solche Rückgriffe auf vage, aber hochgiftige Unterstellungen an sich schon für problematisch und schädlich, vor allem aber dann, wenn sie von einem von der deutschen Regierung zur Bekämpfung des Antisemitismus ernannten hohen Beamten benutzt und verstärkt werden. In einem kürzlich erschienenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb der Journalist und Jurist Stephan Detjen: "Einschränkungen der Meinungsfreiheit, wie sie mit dem Vorwurf der BDS-Nähe begründet werden, bedürfen einer klaren Rechtsgrundlage und unterliegen einem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfungsschema." Sie waren und sind eine treibende Kraft hinter Versuchen die Meinungsfreiheit zu untergraben, indem die BDS-Bewegung, die in Deutschland nur einen winzigen Fußabdruck hat, kategorisch als antisemitisch eingestuft und disqualifiziert wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch in seinem Urteil vom 11. Juni bestätigt und klargestellt, dass Aktivismus im Kontext von BDS durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. Wie wir schon früher betont haben, gehen unsere Ansichten über BDS auseinander. Wir alle hatten aber gehofft, dass dieses Urteil Sie motivieren würde, Ihre Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Gefahren des Antisemitismus in Deutschland zu verlagern. So wie wir gehofft hatten, dass die erhebliche Kritik, die nach Ihrem Angriff auf Prof. Mbembe an Ihnen geübt wurde, Sie dazu veranlassen würde, keine haltlosen und unbestimmten Anschuldigungen mehr zu erheben. Ihre jüngste Äußerung zum "Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu" macht jedoch deutlich, dass unsere Hoffnung unbegründet war. Sie legen einen Mangel an Bewusstsein und Respekt für demokratische Werte an den Tag. Sie vermögen nicht, zwischen legitimer Kritik und echtem Antisemitismus zu unterscheiden. Während sich die israelische Regierung auf die offizielle Annexion von Teilen des Westjordanlandes zubewegt und der Bedarf an lauter internationaler Kritik und Opposition nur zunimmt, schrecken Sie die öffentliche und politische Debatte in Deutschland und darüber hinaus immer wieder ab. Stephan Detjen betont in seinem vorgenannten Artikel, dass der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen den Antisemitismus "ein scharfes Schwert" trägt - aus gutem Grund. Wieder einmal haben Sie gezeigt, dass Sie nicht wissen, wie Sie mit diesem Schwert umgehen sollten. Wir fordern Sie zum Rücktritt auf.
Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 20.07.2020. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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