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Propaganda

Von Georg Rammer

"Solidarität" hat derzeit Hochkonjunktur in der EU - das Wort wohlgemerkt, nicht die Praxis. Während Politiker wie der Bundesaußenminister Heiko Maas die "gelebte EU-Solidarität" preisen, erfährt Deutschlands Egoismus in der Corona-Krise wie auch sein Zuchtmeister-Gehabe in der Wirtschaftspolitik Kritik und Ablehnung von Ländern, die zu den Verlierern dieser Politik gehören. Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors warnt wegen der mangelnden Solidarität in Zeiten der Pandemie vor dem Zerfall der EU.

In einer solch krisenhaften Phase ist ein "zuverlässiger" Feind viel wert. Mit seiner Hilfe können Regierungen die Stimmung der Bevölkerung zu lenken versuchen, manchmal auch vom eigenen Versagen ablenken. Das dachten wohl auch EU-Beamte, als sie einen internen Bericht der East StratCom Task Force rasch an ausgewählte Medien weitergaben. Der Auswärtige Dienst der EU richtete im Jahr 2015 die Task Force für "proaktive Kommunikation der EU-Politiken und -Aktivitäten" (Wikipedia) ein, um "Russlands laufenden Desinformationskampagnen entgegenzuwirken", wie der Europäische Rat begründete. Kurz vorher hatte bereits die NATO mit dem Strategic Communication Centre of Excellence ein neues Gremium für psychologische Operationen eingerichtet, um die öffentliche Meinung "zur Durchsetzung der militärischen und politischen Interessen zu beeinflussen" (Telepolis, 25.11.2016).

Aktuell entstand Bedarf an "proaktiver Kommunikation", hatte doch Russland gewagt, Solidarität mit den vom Coronavirus betroffenen Menschen in Italien zu zeigen: Es schickte neben medizinischem Personal auch lebensrettendes Material, die italienischen Regionen sparten nicht mit Dank und Anerkennung. Dies umso mehr, als Deutschland eine solche praktische Solidarität zuvor verweigert hatte. Die deutsche Medienlandschaft reagierte mit beinahe einhelliger Kritik an Russland. Ohne die Informationsquelle zu nennen, behaupteten Bild, FAZ, Zeit, Welt, Handelsblatt und auch die Tagesschau, es handele sich zu 80 Prozent um unbrauchbares Material, das Motiv der Russen sei reine Selbstdarstellung.

Auch die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourová, Kommissarin für Werte und Transparenz - ja, das gibt es tatsächlich -, beklagt in der Corona-Krise viele Falschnachrichten aus Russland. Sie wolle zwar wegen unzureichender Beweise nicht von staatlich gelenkten Nachrichten sprechen, stelle aber fest, dass viele Pro-Kreml-Informationen von dort stammten. Das Ziel sei, Ängste in der Bevölkerung der EU zu schüren. In dieselbe Kerbe schlug das ZDF. Zur besten Sendezeit brachte "Berlin direkt" am 5. April einen Bericht: Auffällig oft seien von russischen und chinesischen Medien Desinformation und falsche Gesundheitshinweise im Internet und in sozialen Medien verbreitet worden. Als Quelle nannte man die East StratCom Task Force. Die ARD-Sendung Kontraste wollte da nicht zurückstehen: Ausführlich wird dargestellt, "wie Russland versucht, mit Corona die EU zu spalten", die Hilfe diene nur der Propaganda (16.4.2020).

Im Mittelpunkt der westlichen Wachsamkeit steht meist der russische Sender RT Deutsch. Es wäre naiv anzunehmen, Russland würde nicht versuchen, die eigene politische Sicht der Lage zu verbreiten. Allerdings ist der von der Regierung finanzierte Auslandssender, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, erst 2005 gegründet worden, um laut Heise.de den schon lange bestehenden westlichen Medien wie Deutsche Welle, BBC WorldNews, Voice of America oder Radio Free Europe/Radio Liberty etwas entgegenzusetzen.

Wochenlang lief die Kampagne während der Corona-Krise gegen "russische Desinformation"; im März hatten Bild und Tagesspiegel begonnen, dann wurde sie in zahlreichen Medien weitergeführt, mit wenig Substanz, aber harten Propaganda-Bandagen: "Die bezahlten Propheten des Untergangs. Russische Propagandamedien versuchen, Europa zu destabilisieren. Verfassungsschutz beobachtet" (BNN, 6.4.2020). Eine differenzierte Sicht oder gar eine eigene Überprüfung der etwa 150 angeblichen russischen Fake News fand man nirgends. Das blieb den NachDenkSeiten und RT überlassen. Anhand einiger Beispiele stellte RT Deutsch dar, dass die behaupteten Fake News auf schwachen Füßen standen (etwa am 6.4.2020 unter https://deutsch.rt.com/meinung/100815-desinfo-dossier-eu-gutesiegel-drauf-desinformation-drin/). Offensichtlich satirische Beiträge waren ebenso darunter wie Meinungsartikel westlicher Wissenschaftler, die man nun den Russen als Propaganda unterschob.

Zwei Beispiele zeigen den angeblich zersetzenden Informationskrieg der Russen (fast möchte man sagen: des Russen) gegen die Werte des Westens. Das ZDF sah eine russische Verschwörung darin, dass Experten aus der Ukraine in zahlreichen Städten aufgetretene Krankheiten der letzten Jahre mit der wachsenden Anzahl amerikanischer Biolaboratorien in der Ukraine in Zusammenhang bringen. Ein Zusammenhang mit Corona wurde nicht behauptet. Aber tatsächlich hatte ein ukrainischer Abgeordneter und ehemaliger Staatsanwalt über 15 US-Laboratorien in Großstädten berichtet, in denen Militärangehörige tödliche Viren produzieren sollen. Wäre es nicht sinnvoll und notwendig, der Gefahrenquelle nachzugehen, statt sie als Propaganda abzutun?

Bemerkenswert auch der RT-Bericht über einen in Berlin lebenden russischen Schriftsteller, der in einer Sendung deutsche Experten zitierte, die auf einen Mangel an Fachkräften zur Bekämpfung der Corona-Krise hingewiesen hatten. Nach Auffassung von East StratCom handelte es sich um Desinformation. Tatsächlich hatten aber öffentlich-rechtliche deutsche Sender in verschiedenen Beiträgen Fachkräftemangel beklagt, bei Anne Will beispielsweise sogar vor einem Kollaps gewarnt. Die Angst vor der Überlastung der Kliniken oder der Bedrohung durch unzureichende Versorgung mit medizinischem Material war keine Propagandameldung aus Russland oder Fake News aus China. Die verantwortlichen Politiker bemühen sich in Deutschland seit Wochen darum, die Infektionskurve abzuflachen, um die Überlastung des Gesundheitswesens wegen fehlender Intensivbettenkapazitäten zu verhindern. Alles nur Russen-Propaganda?

Eine Nachricht wurde hierzulande übrigens nur nebenbei erwähnt: Deutschland richtet eine Luftbrücke aus China ein, um die Versorgung mit Atemschutzmasken und medizinischen Gütern zu sichern. Täglich 25 Tonnen werden aus Shanghai nach Deutschland geflogen. Ein Kampf für bessere medizinische Versorgung statt gegen angebliche Propaganda aus dem Osten wäre sinnvoller. Denn gerade in der Pandemie konnten alle erkennen, wie sehr die Marktorientierung und Privatisierung des Gesundheitswesens zur Auszehrung geführt hat. Stattdessen intensivieren deutsche Leitmedien ihre Kampagne gegen China und die Springer-Presse dringt auf Schadenersatz von der Volksrepublik als "Verursacher der Pandemie" (German Foreign Policy, 17.4.2020).

Außenminister Heiko Maas, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sowie EU-Präsidentin Ursula von der Leyen betonten allerdings schon früher die Notwendigkeit, gegen gesteuerte Destabilisierung und staatliche Desinformation vorzugehen. Auch sie sollten ihr Augenmerk besser auf eine qualifizierte Versorgung richten und eine Beziehung zu anderen Ländern und Völkern anstreben, die nicht durch Feindbilder die Privatisierung der Daseinsvorsorge und die eigene Militarisierung zu kaschieren sucht. Die Corona-Pandemie hat auch dies deutlich gemacht: Ohne internationale Zusammenarbeit sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.

EU und NATO betreiben Propaganda - manche sagen: einen Informationskrieg - für eigene Machterweiterung, zumal "der Westen" global an Wirtschaftskraft und Einfluss verliert. Massenmedien unterstützen sie dabei. Wir müssen nicht Putin lieben und RT-Follower werden. Wir sollten aber an einige Fakten erinnern: Wer hat wen überfallen und in einem Vernichtungskrieg 27 Millionen Menschen ermordet? Wer hat wen - trotz gegenteiliger Zusagen - in den letzten zwanzig Jahren systematisch umzingelt? Beträgt etwa das Militärbudget Russlands das Fünfzehnfache der NATO - oder umgekehrt? Werden die Fragen richtig beantwortet, brauchen wir kein NATO Strategic Communication Centre of Excellence, und auch die East StratCom Task Force erübrigt sich: Das könnte eine gute Ausgangslage sein für ehrliche Verhandlungen und Verträge mit Russland und China.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 09/2020. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

15. Mai 2020

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