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Unsere “mediale Grundversorgung”

Von Georg Rammer

Ein Blick in das Programmangebot der Privatsender und in die Werbeblöcke während der Spielfilmunterbrechungen genügt zur Feststellung: Deren vordringliche Aufgaben sind nicht Information und kulturelle Bereicherung. Es geht ihnen ums Geschäft, unter Ausnutzung primitiver Bedürfnisse, die von ihnen selbst geweckt werden. Ähnlich wie Fastfood wollen sie die Kunden und Kundinnen anfixen, wollen Lust wecken auf Kaufen, Fressen, Protzen. Und genau dafür hatte ja ein Interessenkonsortium aus Wirtschaft und Politik die privaten TV-Sender in den 1980er Jahren geschaffen. Denn neben den Profitinteressen gab es auch noch ein anderes Motiv: "Unsere Politik bezüglich RTL-plus war immer darauf ausgerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern beziehungsweise ein Abgleiten nach links zu verhindern", schrieb der CSU-Politiker Edmund Stoiber 1988 an den Bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (FR, 31.10.1988).

Anspruchsvolleren Teilen der Bevölkerung wurde als Ausgleich ein qualitätsvolles Bollwerk an Unabhängigkeit versprochen: der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR), bestehend aus ARD, ZDF, arte, 3sat, DW, KiKa, phoenix, ONE und den Regionalsendern. Sein Auftrag: umfassende, ausgewogene Information, Bildung, Kultur und natürlich auch Unterhaltung. Laut Bundesverfassungsgericht übernimmt er die mediale Grundversorgung – hat sich aber auf dem Markt der geistigen Verflachung der Konkurrenz zu stellen. Dafür erhält er eine Garantie für Bestand, Entwicklung und Finanzierung. Letztere hat "staatsfern" zu erfolgen, also nicht aus Steuermitteln, um jeden staatlichen Einfluss auszuschließen. Soweit Gesetz, Rechtsprechung und Theorie. Die Praxis ist, wie immer, komplizierter.

Bereits die Besetzung der lukrativen und einflussreichen strategischen Positionen im ÖRR (Intendanten, Direktoren, Programmchefs) ist ein Politikum. Zwar ist inzwischen die Zahl der von Parteien entsandten PolitikerInnen in den Rundfunkräten auf ein Drittel begrenzt. Wenn man aber in die Gremien schaut, entdeckt man zahlreiche Wirtschaftslobbyisten und hohe Verbandsfunktionäre, denen man die Unabhängigkeit genauso wenig abnimmt wie ihre Staatsferne. Und die neu ernannte ARD-Programmdirektorin Christine Strobl (CDU) wird als Tochter des CDU-Politveteranen Wolfgang Schäuble und als Frau des baden-württembergischen Innenministers Thomas Strobl (CDU) hart um innere Unabhängigkeit von Partei und Staat ringen müssen. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen kommt zu der Einschätzung, dass derzeit die Politik den Journalismus kontrolliert und bestimmt, wer in den Redaktionen das Sagen hat (NachDenkSeiten, 28.12.2020). Das Publikum hat nichts zu melden, Kritik und Programmbeschwerden werden abgewiegelt oder pauschal zurückgewiesen.

Auch die Ausrichtung der Informationssendungen bedarf einer kritischen Betrachtung. Zwar genießt die Berichterstattung des ÖRR nach verschiedenen Umfragen eine hohe Glaubwürdigkeit (je nach Fragestellung bis zu 80 Prozent), viel höher als die privaten Sender. Allerdings glauben auch 34 bis 42 Prozent der Befragten, in östlichen Bundesländern fast die Hälfte, dass es einen Einfluss oder gar Vorgaben der Politik auf die Berichterstattung gebe. Und folgt man kritischen Medienbeobachtern, ist es um die Unabhängigkeit des Flaggschiffs der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen, der Tagesschau, nicht gut bestellt. Das verdient Aufmerksamkeit, denn sie hat einen eminenten Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland: In Zeiten der Pandemie stieg die Einschaltquote dieses alten Nachrichtenformats auf etwa 17 Millionen.

Ausgehend von den Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrags (der gerade von einem neuen Medienstaatsvertrag abgelöst wurde), die eine wahrheitsgemäße, umfassende, objektive und unparteiische Berichterstattung vorschreiben, kommen die KritikerInnen Maren Müller, Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer zu dem Ergebnis, dass die Tagesschau mitnichten diesen Kriterien gerecht wird ("Zwischen Feindbild und Wetterbericht", PapyRossa, 2019). Mit manipulativen Techniken des Wording, Framing und einer narrativen Erzählweise sowie durch einseitige Auswahl und Darstellung von Ereignissen betreibe die Tagesschau eine "Formatierung der Gedanken".

Der ÖRR kontrolliert nicht die Machtelite; er sorge vielmehr dafür, dass sich an den Verhältnissen in der Gesellschaft nichts Substanzielles verändert: an Kinder- und Altersarmut, an der Privatisierung des Gesundheitswesens, an der demokratisch nicht legitimierten Herrschaft der Konzerne, an der systematisch erzeugten Wohnungsnot. In Nachrichten und Talkshows wird so lang den politisch Verantwortlichen das Wort erteilt, bis sich das vom Zerreden ermüdete Publikum abwendet. So etwa bei Themen wie Aufrüstung, Rente oder Umweltzerstörung. Wie ging der Anschluss der DDR vonstatten, wer hat profitiert, wie hat die Bevölkerung verloren? Welche Hintergründe müssten bekannt und zur Diskussion gestellt werden, um die Politik Russlands zu verstehen? Das Verständnis der Zusammenhänge wird verhindert.

Bei außenpolitischen Themen, die in der Öffentlichkeit umstritten sind (etwa Russland/Ukraine, Venezuela oder Syrien), werden Feindbilder erzeugt, wie die Medienfachleute Müller, Bräutigam und Klinkhammer in ihrem Buch und auf der Online-Plattform "Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien" zeigen. Die Liste der Kritikpunkte, die sie mit Dutzenden von Beispielen belegen, ist lang: Da werden regierungsnahe "Experten" befragt, transatlantische Think-Tanks und Geheimdienste als unabhängige Quellen ausgegeben, geostrategische und energiewirtschaftliche Interessen nicht thematisiert, der Regierungspolitik widersprechende Meldungen – sogar Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu völkerrechtswidrigen Bundeswehreinsätzen – unterschlagen. Ihr Fazit: "… journalistische Unabhängigkeit bräuchten wir wohl, finden sie aber garantiert nicht in den Nachrichtenredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks."

Rechtfertigt solch substanzielle Kritik eine Abschaffung des ÖRR? Die Geier warten schon, könnte man meinen. Denn kaum hatte Sachsen-Anhalt als einziges Bundesland die geplante Erhöhung der Rundfunkbeiträge um 86 Cent aus politischen Gründen verhindert, wurden andere Forderungen laut. Die FDP Hessen verlangte eine Privatisierung des ZDF. In der "Wirtschaftswoche" behauptete die Journalistin Bettina Röhl, das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem sei verfassungswidrig; die einzig sinnvolle Heilung dieses kranken Systems sei die Privatisierung. Der "Bundesfachausschuss Wirtschaft, Arbeitsplätze, Steuern" der CDU verlangt eine schrittweise Privatisierung von ARD und ZDF. Statt diese Sender zu finanzieren, sollen einzelne Inhalte bezahlt werden. Der ÖRR sei auf Aufgaben zu beschränken, "die private Anbieter nicht oder nur unzureichend gewährleisten können".

Aber die Regierungsparteien wissen auch um die Staatsnähe der quotenstarken Nachrichtensendungen und wollen ihre Deutungshoheit behaupten. Sie haben ein instrumentelles Verhältnis zu Grundrechten, zu Prinzipien der Demokratie und zur Bedeutung des ÖRR, wie etwa die Äußerung des CDU-Kanzlerkandidaten in spe, Friedrich Merz, zeigt: "Wir (Politiker) brauchen die (die Nachrichten verbreitenden Medien) nicht mehr."

Fazit: Die Abschaffung oder die Privatisierung des ÖRR schafft mitnichten die nötige Demokratisierung und faktische Autonomie der Sender. Die Grundlage dafür besteht vielmehr in der Unabhängigkeit von wirtschaftlich-politischen Interessen. Nur dann ist gewährleistet, dass der Journalismus seiner Aufgabe gerecht wird, die Politik zu kontrollieren und dem Publikum Zusammenhänge und Hintergründe zu vermitteln. Dazu müssen die Redaktionen gestärkt und statt Einschaltquoten qualitative Maßstäbe ans Programm angelegt werden. Natürlich bedarf es dafür der finanziellen Absicherung. Deshalb ist das parteipolitische Gezänk darum – erst recht, wenn die CDU Sachsen-Anhalts für sage und schreibe 86 Cent die Brandmauer nach rechts einreißt und mit der AfD gemeinsame Sache macht – unwürdig.

Umso mehr Dank gebührt den zahlreichen JournalistInnen und RedakteurInnen, die oft ohne festen Vertrag – auch ein Problem – Sendungen produzieren, die aufdecken, erhellen, zu einem Erkennen von Zusammenhängen, einem Zuwachs an Wissen und durchaus auch zu einer guten Unterhaltung beitragen. Als gebührenzahlender Zuschauer möchte man ausrufen: Ihr Intendanten und Programmchefs, nehmt endlich eure Funktion als Vierte Gewalt ernst! Und verehrtes Publikum: Nutzt eure Rechte!

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 01/2021. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

22. Februar 2021

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