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NATO: vom Verteidigungsbündnis zum Angriffspakt

Die NATO wurde 1949 als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet. Jetzt will sie auch präventiv angreifen dürfen.

Von Christian Müller

1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, haben die USA, Kanada und zehn westeuropäische Länder die NATO gegründet, die Nordatlantik-Pakt-Organisation. Ihre Aufgabe war klar: die gemeinsame Verteidigung im Falle eines Angriffs der Sowjetunion. 1952 traten auch Griechenland und die Türkei bei. Und am 9. Mai 1955, also drei Jahre später, trat auch Westdeutschland der NATO bei. Erst jetzt reagierten die Sowjetunion und die neun in ihrem Einfluss stehenden Staaten Mittel- und Osteuropas und gründeten, am 14. Mai 1955, also fünf Tage später, den Warschauer Pakt.

Der Zweck der NATO wurde im Artikel 5 der Gründungsurkunde klar definiert:

Artikel 5

"Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten."

Artikel 6

Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff

  • auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses;
  • auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrags eine Besatzung unterhält oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden."

Die Kurzversion dieser Bestimmungen: Wenn auf ein Mitglied der NATO ein bewaffneter Angriff stattfindet, ist das wie ein bewaffneter Angriff auf mehrere oder alle Staaten der NATO, weshalb dann alle NATO-Mitglieder gemeinsam den bewaffneten Angriff abwehren.

Jetzt ist alles anders …

Am 25. März 2021 führten die US-amerikanische "University South Florida" in Tampa Florida und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine gut einstündige Online-Konferenz durch. Die Dozenten und Studierenden hatten Gelegenheit, Stoltenberg Fragen zu stellen, Stoltenberg war bereit zu antworten. Dabei erklärte Stoltenberg Folgendes (ab Minute 24): Früher war es einfach, es herrschte entweder Friede oder Krieg. Deshalb steht in Artikel 5 des Gründungsvertrages, dass die NATO bei bewaffneten Angriffen reagieren muss. Heute ist das ganz anders: Es gibt die Desinformation, die Cyber-Attacken, den hybriden Krieg. Deshalb muss die NATO den Artikel 5 umformulieren: Die NATO soll auch reagieren dürfen auf solche, also nicht bewaffnete Angriffe im ursprünglichen Sinn des Wortes. Und Jens Stoltenberg legte auch Gewicht darauf, dass die NATO nicht nur ein militärisches Bündnis sei, sondern vor allem auch ein politisches.

Mit diesem neuen, von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg propagierten Verständnis des "bewaffneten Angriffs" gibt sich die NATO den Freipass, ein anderes Land - konkret also vor allem Russland oder China - auch schon präventiv anzugreifen. Denn Desinformation, Cyber-Attacken und hybrider Krieg, das alles existiert bereits, seit Jahren und in allen Richtungen. Und klar dabei ist nichts: Wenn etwa - supponiert - ein Mitglied des israelischen Geheimdienstes Mossad aus einem Hotel in Moskau das IT-System des Schweizer Technologie-Konzerns RUAG hackt , dann kann das problemlos als russische Cyber-Attacke "identifiziert" werden.

Stoltenberg verdreht auch die Geschichte

Wenig überraschend in dieser Online-Konferenz war auch, dass der NATO-Generalsekretär einmal mehr betonte, die Osterweiterung der NATO sei keine Provokation gegenüber Russland und für Russland keine Bedrohung (im Video ab Minute 8.30). Dass der hochrenommierte US-amerikanische Historiker und auf Russland spezialisierte US-Diplomat George F. Kennan im Februar 1997, wenige Tage nach dem zweiten Amtsantritt Bill Clintons, in der "New York Times" ausdrücklich davor warnte, in Europa die NATO nach Osten zu erweitern , das weiß auch NATO-General Stoltenberg. Kennan 1997: "Unsere Meinung ist, offen herausgesagt, dass eine NATO-Erweiterung der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der ganzen Zeit seit dem Kalten Krieg wäre." Doch US-Präsident Bill Clinton ließ sich nicht beeindrucken und gab für die Osterweiterung grünes Licht. Mit genau den von George F. Kennan vorausgesagten Folgen.

Und was bedeutet der Klimawandel für die NATO?

Natürlich wollte eine USF-Studentin auch wissen, wie sich die NATO dem Klimawandel stellen werde. Stoltenberg bestätigte, dass der Klimawandel auch für die NATO eine "Herausforderung" - das euphemistische Synonym für das Wort "Problem" - sei.  Zum Beispiel, so Stoltenberg, müssten wegen des Anstiegs des Meeresspiegels die von den Kriegsschiffen der NATO benützten Meereshäfen umgebaut werden (im Video ab Minute 44). (Drei Tage vorher hatte Stoltenberg schon an einer Medienkonferenz in Brüssel und in Anwesenheit von US-Staatssekretär Antony Blinken erklärt, dass der Klimawandel eine große Herausforderung für die NATO sei, zum Beispiel auch für die Kampfanzüge, die auf extremere Wetterkonditionen angepasst werden müssen.) Und was mit den Millionen von Menschen, deren heutiger Lebensraum aufgrund der Erhöhung des Meeresspiegels unter Wasser gerät? Kein Thema für die NATO.

Die Strategie-Änderungen der NATO laufen unter dem Titel "NATO 2030". Frage: Wer hat die Kompetenz, diese schwerwiegenden Änderungen gutzuheißen? Die Kriegs- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten? Die Regierungen der Mitgliedstaaten? Oder werden da dann auch die Parlamente der Mitgliedstaaten noch ein Wort mitzureden haben, was dringend nötig wäre?

Es lohnt sich, genau hinzuhören, wenn NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit Politikern, Medienvertretern oder auch Studierenden im Gespräch ist. Besser schlafen kann man danach allerdings nicht.

Weiterführende Informationen:

Zum Infosperber-Dossier:

Quelle: Infosperber.ch - 01.04.2021.

Veröffentlicht am

03. April 2021

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