Frieden im NiemandslandEin Sammelband über die Minderheit der christlichen Friedensbotschafter im 1. Weltkrieg - Kirche & Weltkrieg: Band 3Nachfolgend wird in geänderter Form (gekürzt, ohne Fußnoten) die Einleitung des Herausgebers dokumentiert. Von Peter Bürger Die großen Kirchen in Deutschland folgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einem nationalen, staatskirchlichen Paradigma und unterstützten mit ihrer "geistlichen Assistenz" das militärische Massenmorden 1914-1918. Erschütternd ist es, wie blind und willig - ja geradezu manisch - sich die nationalkirchlichen Komplexe unter Anstiftung ihrer geistlichen Leitungen auf das Schlachtfeld begaben. Hätte man - eingedenk des vom deutschen Kolonialregime in Deutsch-Südwestafrika begangenen Völkermords an bis zu 100.000 Herero und Nama (1904-1908) - nicht wissen können, wie es um die "Sittlichkeit" des zu Vernichtungspolitik bereiten, von der dunkelsten Seite des Preußentums durchdrungenen Staatswesens bestellt war? (Missionare, Militärgeistliche, christliche Politiker und Abonnenten nonkonformer Presseerzeugnisse gehörten jedenfalls zu den Informierten.) Schon 1912 war ein Roman des Reformpädagogen Wilhelm Lamszus (1881-1965) erschienen, der die Hölle des hochtechnisierten Gemetzels 1914-1918 in einer leider nur allzu realistischen Weise "vorwegnahm". Die Staatstheologen gehörten in der Regel wohl kaum zur Leserschaft eines solchen Werkes. Europäische Pazifist*innen hatten seit zwei Jahrzehnten angesichts von Militarismus und Aufrüstung vor einem großen Krieg gewarnt! Christliche Stimmen, eine Minderheit in der friedensbewegten Minderheit, waren beteiligt. Sie setzten am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf eine völkerübergreifende Ökumene und entlarvten das kriegstrunkene Nationalkirchentum als Gotteslästerung. Die Militärreligion blieb - bis zum bitteren Ende und darüber hinaus - übermächtig. Doch bisweilen kam es zu Unterbrechungen der Gewalt und zur Umkehr einiger Kriegsprediger. Von dieser nonkonformen Friedenschristenheit handelt der neue Band "Frieden im Niemandsland", dessen sieben Abteilungen vorab in einem Überblick vorgestellt werden sollen: 1. Ansage der Zeitzeugen: Die Tendenz der revisionistischen Formung des öffentlichen Geschichtsgedenkens in den Jahren 2014-2018 war allzu offenkundig: Mehr folkloristisch gestaltet man die Ausstellung im Heimatmuseum. Preußischer Militarismus, deutsche Waffenproduktion und Rüstungspolitik, edierte Voten für eine aggressive Eroberungspolitik (Annexionismus aus allen gesellschaftlichen Gruppen und "außerordentliche" Kriegsverbrechen (zunächst in Belgien) sollen nicht ins Scheinwerferlicht geraten. Das Deutsche Reich habe sich 1914 lediglich im ‚Schlafwandel’ befunden, genau so wie alle anderen europäischen Großmächte auch. (Die Nationalsozialisten muss man nach solcher "Entschärfung" des Ersten Weltkrieges nur noch von einem fremden Stern in eine an sich gut funktionierende Weimarer Demokratie einfliegen lassen. "Hitler war’s" - und der Antihitlerismus ist doch schon seit 1945 Staatsdoktrin. Somit spricht nichts dagegen, dass die Großmacht Deutschland heute wie alle anderen, die es können, ihre ökonomischen wie geostrategischen Interessen im Rahmen einer transformierten, den modernen Erfordernissen angepassten Militärdoktrin verfolgt.) Wache Zeitzeugen des frühen 20. Jahrhunderts wie Hellmut von Gerlach (1866-1935) und Hermann Fernau (1883-1935), die in diesem Band z.T. sehr ausführlich "zu Wort" kommen, wussten mehr und anderes. Ihre Darlegungen sind mitnichten durch die geschichtspolitischen Projekte des letzten Jahrzehnts widerlegt. Klassische Texte wie Heinrich Vogelers "Märchen vom lieben Gott" (1918), Erik Petersons "Christus des Garnisonspfarrers" (1919) und Kurt Tucholskys Rückblende zur Sichtweise des ‚Friedenspapstes’ (1931) führen uns sodann zum eigentlichen Thema der ganzen Sammlung. Sie erinnern uns daran, dass die Gottesgelehrten noch immer die deutsche Kriegstheologie aufzuarbeiten hätten und sich nicht in den länderspezifischen Ästhetiken der Herz-Jesu-Verehrung 1914-1918 etc. etc. verlieren sollten. 2. Erster Weltkrieg und ‚Friedens-Bewegungen’: Ausgangspunkt für alles Weitere ist ein stattlicher Überblick über Friedensbemühungen in der Ökumene, den der Magdeburger Theologe Eberhard Bürger 2014 zum hundertjährigen "Jubiläum" der Anfänge des ‚Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen’ erarbeitet und nachträglich durch erhellende Exkurse ergänzt hat. Hier wird keineswegs suggeriert, die christlichen Friedensarbeiter*innen seien ein besonders wirkungsvoller oder gar der bedeutsamste Teil des pazifistischen Widerspruchs zur Zeit des Ersten Weltkrieges gewesen. In der Geschichtsschreibung Ludwig Quiddes zur deutschen Friedensbewegung 1914-1918 wird der Gründergeneration der deutschen Friedens-Ökumeniker*innen wohl mit Bedacht nur ein bescheidener Raum zugemessen. Gleichwohl kann uns das Vermittelte noch immer in Staunen versetzen. Mit seiner Darstellung verbindet Eberhard Bürger als Mitglied des Versöhnungsbundes die Perspektive der Ökumenischen Versammlung 1988/89 in Dresden und Magdeburg, also die Betrachtungsweise der ersten nach zwei Weltkriegen vom staatskirchlichen Paradigma befreiten Kirchen in deutschen Landen. Das ist ein großer Glücksfall für unsere Unternehmung. Nach dem ‚Mauerfall’ sicherte sich bekanntlich das weitaus finanzstärkere Kirchentum der alten BRD die Hegemonie. Das Versprechen - "Kirche des Friedens werden" - ist unter gesamtdeutschem Vorzeichen noch immer nicht eingelöst. Ein historischer Bericht des Jahres 1932 von Elisabeth Rotten bringt noch ein praktisches Exempel aus der frühen Versöhnungsarbeit zur Anschauung. Thomas Nauerth beleuchtet einen zentralen Aspekt vieler friedensbewegter Biographien: "Der erste Weltkrieg als pazifistische Lebenswende." 3. Friedrich Siegmund-Schultze - Licht und Schatten: Dem prominentesten deutschen Friedens-Ökumeniker der Zeit ist eine eigene Abteilung gewidmet. Schon vor 1914 tritt der evangelische Theologe Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) in der deutsch-britischen Freundschaftsarbeit der Kirchen hervor, die lange vor der ‚Julikrise’ von der Notwendigkeit zeugt, drohenden Kriegsgefahren entgegenzutreten. Sein Patenonkel - und wohl auch Mentor - ist ausgerechnet der ‚kaiserliche Hof- und Kriegsprediger’ Ernst von Dryander (1843-1922). Gleichsam mitten in der Mobilmachung besiegelt Siegmund-Schultze mit potentiellen ‚Feinden’ das kirchliche Freundschaftsbündnis - zunächst auf deutschem Boden! Die lichte Seite dieses Christen tritt in den Beiträgen von Thomas Nauerth und Johannes Weissinger hervor. Doch es gibt den Schatten: Der Fetisch ‚Nation’ übt Macht aus auch über diesen ausgewiesenen Vertreter der pazifistischen Minderheit im Protestantismus. Sein Text "Völkerschlachtdenkmal und Friedenspalast" (1913), nachzulesen zu Beginn der Abteilung III, markiert schon in der Überschrift die einander widerstreitenden Pole. Gerade auch nach Kriegsende verlagert sich, wie J. Weissinger zeigt, der Schwerpunkt seiner Wortmeldungen im Kontext des "Kriegsschuld"-Diskurses hin zur nationalen Tendenz. Über die späten Ergebnisse dieser Entwicklung teilt Pastor Hans Francke 1931 in der "Chronik der Menschheit" seine "schmerzliche Enttäuschung" mit. Hier geht es um einen Komplex, der bei der Zerschlagung der Weimarer Republik und der Vorbereitung des nächsten, wiederum kirchlich assistierten Weltkrieges zentral ist! 4. "Friedens-Pfarrer": Bis zum letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist insgesamt nur eine außerordentlich bescheidene Beteiligung von Menschen aus deutschen Landen an pazifistischen Unternehmungen zu konstatieren. (Ein wirklich auffälliges Defizit gerade in Deutschland!) Entsprechende frühe Beiträge von Christenmenschen vor der Gründungsphase der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) werden in der vorliegenden Sammlung nicht berücksichtigt. Ab 1892 finden evangelische Theologen den Weg zur DFG. Herausragende Persönlichkeiten wie Otto Umfrid (1857-1920) und Ernst Böhme (1862-1941) werden in unserer Sammlung eingehender vorgestellt von Helmut Donat und Karlheinz Lipp. Viele Namen von Pastoren - so aus Bremen Albert Kalthoff (1850-1906) und Emil Felden (1874-1959) - ließen sich noch über Beiträge zur lokalen ‚Geschichtsschreibung im Dienste des Friedens’ erschließen. Allein 1907 treten etwa hundert evangelische Theologen nach einer entsprechenden Kampagne der Friedensgesellschaft bei, doch im folgenden Jahrzehnt fällt die Gesamtzahl der sogenannten "Friedenspfarrer" keineswegs viel höher aus. Immerhin findet ein Friedensappell aus diesem Kreis Anfang 1913 rund 400 Unterschriften (mit bezeichnenden regionalen Schwerpunkten bzw. Unterschieden, insbesondere sehr geringer Beteiligung in ‚altpreußischen’ Gebieten). Im Einzelfall wird die ‚Bekehrung’ eines Theologen beschrieben: "1917 unterstützte der Berliner Pfarrer Karl Aner, der bis dato antipazifistisch eingestellt war, das Friedensmanifest des Papstes Benedikt XV. - für nicht wenige Protestanten ein Affront. In den folgenden Monaten entwickelte sich Aner zu einem wichtigen Friedenspfarrer. So trieb er (zusammen mit Martin Rade) die Centralstelle bzw. die ‚lose Vereinigung’ evangelischer Friedensfreunde inhaltlich und organisatorisch voran." "Papstfreundlich" in diesem Sinne zeigte sich ebenso der evangelische Pfarrer Paul Knapp (1879-1953), der 1918 in Ravensburg gar eine - nur kurz bestehende - Friedenspartei gründete. (Der mit Papst Benedikt XV. verbundenen Friedensmission, die einem Matthias Erzberger und mehreren Mitbegründern des Friedensbundes deutscher Katholiken den Weg gewiesen hat, in unserer Reihe noch ein eigener Band gewidmet werden soll.) 5. Soldaten unterbrechen den Krieg: Unter dieser - von ihm selbst geprägten Überschrift - vermittelt Michael Schober Nonkonformismus und Verweigerung im militärischen Kontext. Zum legendären "Weihnachtsfrieden" an der Front wird auch eine Betrachtung von Helmut Donat dargeboten. Den sentimentalen Zugang kategorisch zu verlästern, hieße, Gefühle, die sich hier im Wissen um viele Millionen Tote geradezu zwangsläufig melden, zu ächten. Notwendig ist aber nur der Einspruch gegen eine entschärfende Verkitschung des Geschehens, die den Abgrund verschweigt und dem Publikum die Chance einer heilsamen Beunruhigung nimmt. Denn der "Weihnachtsfrieden" an der Front enthüllt, recht verstanden, das Subversive der Weihnacht: Die Aufkündung des Gehorsams gegen die Feldherren aller Zeiten, das Ende der blutigen "Globalisierung" von Cäsaren im Anbruch einer universellen Geschwisterlichkeit der Menschen … die Pulverisierung jeglichen Kirchentums, das dem Kriegsverbrecher Hindenburg und ähnlichen Größen der Gewaltreligion huldigt, nicht aber dem Kind. Der Glaubenssinn aller Getauften verschaffte sich Weihnachten 1914 in den Schlachtfeldern Raum - wider die hierarchischen Lehrer der Nationalkirchen. Manchem erschloss sich das Subversive der Weihnacht womöglich schon allein durch einen Stachel, der noch im kulturellen Wissen aufgehoben war. 6. Widerspruch aus Kunst und Publizistik: Mit dem DADA-Mitbegründer Hugo Ball (1886-1916), dem Journalisten Harry Stürmer, der 1917 ein ‚neudeutsch-protestantisches Kriegs-Christentum’ kritisierte, und dem bislang wohl nur in regionalgeschichtlichen Kontexten bekannten Schriftsteller Joseph Anton Henke (1892-1917) werden in dieser Abteilung drei unterschiedliche Beispiele für Einspruch gegen den Krieg bzw. Abkehr von der Kriegsreligion vorgestellt. Damit kommt wenigstens ein ganz kleiner Ausschnitt des weiten literarischen Feldes zum Vorschein. 7. Friedens-Anfragen im Wortlaut - Ausgewählte Quellentexte: Die Auswahl der Quellenbeispiele vermittelt - ohne den Anspruch, repräsentativ zu sein - ein pluralistisches Bild von Friedensvoten mit religiösem Hintergrund, darunter einige nur wenig bekannte Lichtblicke bis hin zu den späten Jahren der Weimarer Republik. Nicht zuletzt bot sich hier die Möglichkeit, Appelle des Erzbischofs von Uppsala, eine Pionierin der Frauenfriedensbewegung wie Auguste Kirchhoff (1867-1940), einen so überaus bedeutsamen Friedensmahner wie Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) und zwei beispielhafte Friedensvoten von Rabbinern (Fritz Leon Bernstein, Leo Baeck) zumindest über Primärtexte bekannt zu machen. Diese Abteilung verbindet gleichermaßen Ermutigung und Klage. Tröstlich bleibt die Erkenntnis, dass es trotz der allgegenwärtigen Kriegsreligion einer Minderheit unter den Christ*innen noch immer möglich war, dem ‚Rabbi Jesus’ aus Nazareth zuzuhören und seinen Glücklich-Preisungen zu trauen. Gerade dies führt aber zur traurigen Klage, weil die oberen Etagen des ‚kirchlichen Institutes’ im Kreis dieser Hörbereiten und Verstehenden gar nicht vertreten waren. * * * Die bedeutsamste Kritik der Kriegstheologie im Kaiserreich hat Karl Barth (1886-1968) vermittelt, dem wir bei der Fortsetzung unserer Reihe noch mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Die biblische Botschaft zielt auf heilende Erfahrungen in der Menschenwelt, doch sie ist das Gegenteil der religiös verbrämten Bestätigung eines Weltgefüges, das aus der Angst hervorgegangen ist und die Gewalt als Gottheit installiert. Der Schaden, den eine egomane Kirchenapparatur zur Zeit des Menschenschlachthauses durch absurde Heilsversprechen - im Zusammenhang mit kriegsbedingten Frömmigkeitsübungen, theologischen Phantasie-Produktionen und anderen Unternehmungen zur Steigerung der eigenen Bedeutsamkeit - bei ungezählten Menschen jeden Alters angerichtet hat, führte leider nur wenige Verantwortliche zur Besinnung. Da die deutschen Kirchen 1914-1918 im Wesentlichen Kriegskirchen zur Stärkung der nationalen Kampfbereitschaft waren, deren Leitungen außerdem in nicht wenigen Fällen Friedensbemühungen geradezu sabotierten, wäre es für die Menschen nach Ansicht von Kritikern besser gewesen, es hätte sie nicht gegeben. Angesichts neuer Feindbildproduktionen, der rasanten Aufrüstungspolitik unserer Tage und der wiederum revolutionierten Mordtechnologien des Militärs dürfen die Kirchen nicht noch einmal die Friedensbotschaft des Jesus von Nazareth verraten. Die Schönheit der in diesem Band erschlossenen Zeugnisse von Christ*innen, die sich vor über hundert Jahren der Kriegsmaschine verweigert haben, ist eine mögliche Kraftquelle für den Widerstand in der Gegenwart. Die Beispiele der wenigen Botschafter*innen des ‚Friedenskönigs’ können uns allerdings nicht beruhigen. Denn sie offenbaren ja erst das ganze Ausmaß der Gottlosigkeit eines Kirchentums, das - ohne es selbst zu bemerken - Jesus von Nazareth nacheinander in zwei Weltkriegen exkommuniziert hat. Haben sich die Strukturen und Dogmatiken der nachkonstantinischen Kirchenkomplexe seitdem wirklich durchgreifend geändert? Was kommt hierzulande auf die Gemeinde Jesu zu, falls deutsche Bischöfe - statt im Bewusstsein der nationalen Kirchengeschichte friedenskirchliche Vorreiter für den gesamten Erdkreis zu werden - der weltkirchlichen Ökumene und dem Bischof von Rom bestenfalls hinterherhinken? Ist die Sorge unberechtigt, dass sogar nationalkirchliche Voten zugunsten der deutschen Atombombenteilhabe in einigen Schubladen liegen? Frieden im Niemandsland. Die Minderheit der christlichen Botschafter im Ersten Weltkrieg. Der ökumenische Sammelband enthält Beiträge von Eberhard Bürger, Peter Bürger, Helmut Donat, Karlheinz Lipp, Thomas Nauerth, Elisabeth Rotten, Michael Schober und Johannes Weissinger sowie zahlreiche aufrüttelnde Quellentexte. Überblick über alles bislang erschienenen Teile des Projekts "Kirche & Weltkrieg" Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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