Afghanistan: Zeit der BilanzenVon Jürgen Wagner Aktuell befinden sich noch knapp 10.000 NATO-SoldatInnen in Afghanistan, die aber nach derzeitigem Stand bis spätestens September vollständig abgezogen sein sollen. Damit endet wohl bald einer der längsten und blutigsten westlichen Kriege der jüngeren Vergangenheit, wodurch naturgemäß auch Bilanzen jetzt Hochkonjunktur haben. Unter anderem das hervorragende Costs of War Project des Watson Institute an der Brown University in Boston nahm dies zum Anlass für eine Aktualisierung seiner Daten zum Afghanistan-Krieg. Für Deutschland liegen leider nicht ganz so detaillierte Berechnungen vor, weshalb die offiziellen Zahlen mit älteren Studien zum Thema abgeglichen werden müssen. Wenn die Bundesregierung in jedem Fall nun großspurig behauptet, sie beabsichtige, ihrer "besonderen Verantwortung" gerecht zu werden, spottet das jeder Beschreibung - das Gegenteil ist der Fall, wie nicht zuletzt die dauernden Sammelabschiebungen nach Afghanistan unter Beweis stellen. Und selbst bei denjenigen, die sich - angesichts der Meldungen auf den ersten Blick berechtigte - Hoffnungen machen, wenigstens das westliche Kriegsengagement gehe nun zu Ende, könnte sich schnell Ernüchterung breitmachen, nachdem Meldungen darauf hindeuten, dass die USA lediglich zu einer anderen Form der Kriegsführung übergehen könnten. USA: Horrende KostenDas Watson Institut bzw. die Autorinnen Neta C. Crawford und Catherine Lutz errechneten allein für die USA Kriegskosten von insgesamt 2261 Milliarden Dollar, ein gigantischer Betrag, in den eine Reihe von Posten eingeflossen sind: Da wäre zunächst einmal das offizielle Budget des Einsatzes, das sich zwischen 2001 und 2021 auf 933 Mrd. Dollar summiert. Weitere kriegsbedingte Mehrausgaben im Pentagon-Budget schlagen mit 443 Mrd. Dollar zu Buche und militärisch relevante Ausgaben von 59 Mrd. Dollar werden beim Außenministerium verortet. Weiter werden die Versorgungskosten für Veteranen, Verletzte etc. auf 296 Mrd. taxiert und schließlich belaufen sich die kriegsbedingt zu entrichtenden Zinsen auf 530 Mrd. Dollar. Allerdings flossen hier weder künftige Versorgungskosten noch künftige Zinsen mit in die Berechnung ein, die tatsächlichen Kriegskosten werden in Zukunft also noch weiter steigen. Was die Opfer des Krieges anbelangt, kamen in diesem Krieg laut dem Brookings Afghanistan Index bis 2020 über 3.500 westliche SoldatInnen ums Leben (2.445 USA und 1.139 Verbündete). Doch das ist nichts im Vergleich zu dem Preis, den die afghanische Bevölkerung für den westlichen Kriegseinsatz zahlen musste. Laut Crawford und Lutz starben in direkter Folge von Kriegshandlungen etwa 240.000 Menschen (Afghanistan und Pakistan). Doch selbst dies ist nur die Spitze des Eisbergs, nachdem die beiden Forscherinnen erklärtermaßen Opfer der Kriegsfolgen wie Unterernährung, ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem und dergleichen explizit ausgeklammert haben. Für Afghanistan fehlen Erhebungen, die dies berücksichtigen - das Beispiel Irak verdeutlicht allerdings, wie relevant dieser Bereich ist. Während die kriegführenden Staaten der US-Koalition weder getötete KombattantInnen noch ZivilistInnen erfassten, zählte "Iraq Bodycount" bis heute 288.000 irakische Opfer infolge direkter Kriegshandlungen. Demgegenüber kam eine wissenschaftliche Studie, die im Oktober 2006 in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, unter Berücksichtigung von Kriegsfolgen auf eine Opferzahl von damals bereits wahrscheinlich 655.000 Menschen (eine ausführliche Diskussion der Lancet-Studie findet sich u.a. hier )! Es muss also mit hoher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die tatsächlich dem Krieg zum Opfer gefallenen afghanischen Menschen um ein Vielfaches höher liegt, als die ohnehin schon grauenerregende Zahl, die Crawford und Lutz nennen. Und Deutschland?Afghanistan ist zwar nicht der längste Bundeswehr-Einsatz - das ist der im Kosovo -, sicher aber der prägendste und ebenfalls auch bislang blutigste. Sein Einfluss auf den Umbau der Bundeswehr in Richtung Kampfeinsätze ist kaum zu überschätzen, auch wenn heutzutage die Konfrontation mit einem nahezu ebenbürtigen Gegner wieder im Vordergrund steht. Am 17. April 2021 war bei tagesschau.de über die offiziellen deutschen Einsatzkosten zu lesen: "Die deutschen Steuerzahler haben für die Beteiligung der Bundeswehr an dem internationalen Militäreinsatz in Afghanistan bislang rund 12,5 Milliarden Euro aufgewendet. Das bestätigte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums dem ARD-Hauptstadtstudio." Wie in den USA handelt es sich bei diesen offiziellen Angaben nicht einmal um grobe Annäherungen, auch wenn leider ähnlich detaillierte und aktuelle Berechnungen, wie sie von Crawford und Lutz angestellt wurden, für Deutschland nicht vorliegen. Als bester Versuch muss weiterhin eine im Mai 2010 veröffentlichte Studie des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung" (DIW) gelten, die gegenüber den offiziellen Zahlen eine Reihe weiterer Kriegskosten berücksichtigte. Zum damaligen Zeitpunkt wurden die offiziellen Kriegskosten bis 2010 mit 4,1 Mrd. Euro beziffert. Demgegenüber berechneten die DIW-Forscher im Falle eines Rückzuges Ende 2011 Gesamtkosten zwischen 18 Mrd. und 33 Mrd. Euro. Auch hier ist also anzumerken, dass die offiziellen Zahlen nichts mit der Realität zu tun haben, was auch die DIW-Studie ungeschminkt untermauerte: "Wir [können] nicht untersuchen, ob das militärische Engagement die angefallenen Kosten wert ist. Wir können jedoch feststellen, dass eine große Diskrepanz zwischen den Schätzungen des Verteidigungsministeriums und unseren eigenen Schätzungen zu den Gesamtkosten des Einsatzes besteht." Bislang sind 52 BundeswehrsoldatInnen in diesem Krieg gestorben , über die von der Bundeswehr getöteten AfghanInnen wurde jedoch kein Buch geführt. Ein Annäherungsversuch wurde 2015 von Thomas Mickan unternommen, indem er eine Reihe von Quellen zu Rate zog und zu dem Ergebnis gelangte, er gehe von mindestens 1.000 getöteten GegnerInnen aus. Mickans Fazit ist auch und gerade heute noch hochaktuell: "Der Weg der deutschen Aufarbeitung des Kriegseinsatzes in Afghanistan wird noch lang sein. Dies ist eine Verantwortung, der sich die deutsche Politik und auch die Öffentlichkeit jedoch als allererstes stellen sollte, bevor immer mehr Soldat_innen in weitere Einsätze geschickt werden." Zerstörtes Land - Selektive AbschiebungenWas vom Afghanistan-Einsatz neben immensen Kosten und schier unzähligen Opfern bleiben wird, ist ein zerstörtes Land. In einer Studie aus dem Jahr 2019 hieß es: "Schon im Jahr 2016 war das Armutsniveau mit 54,5 Prozent wieder so hoch wie zum Zeitpunkt des Sturzes der ersten Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 und 86 Prozent der Stadtbevölkerung lebten in Slums. Die Zahl derer, die akut von humanitärer Hilfe abhängig sind, hat sich im letzten Jahr nahezu verdoppelt. Im Jahr 2018 hatten im Vergleich zum Vorjahr 6 Millionen Menschen mehr keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung. Mehr Hungernde gibt es nur in Jemen, die Arbeitslosenrate ist die höchste weltweit und 80 Prozent der Arbeit ist nicht existenzsichernd." Laut Angaben des afghanischen Wirtschaftsministeriums drohe nun - unter anderem auch pandemiebedingt - Arbeitslosigkeit und Armut noch einmal deutlich zu steigen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, wenn die Bundesregierung erklärt , sie sei sich "ihrer besonderen Verantwortung gegenüber den afghanischen Ortskräften bewusst" und wolle aus diesem Grund einheimischen Bundeswehr-Mitarbeitern Asyl gewähren. Im gleichen Atemzug gehen aber die Sammelabschiebungen "normaler" afghanischer Menschen weiter, die nächste dürfte wohl wieder für Anfang Mai geplant sein (siehe dazu ausführlich IMI-Analyse 2021/01). Nächste Phase des Krieges?Allzu vorschnell sollte zudem auch nicht behauptet werden, mit dem Truppenabzug gehe der westliche Kriegseinsatz endgültig zu Ende. Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte er eher eine andere Form annehmen, wie bei Telepolis nachzulesen ist. Dort wurde unter Verweis auf einen Artikel in der New York Times mit dem Titel "USA und Verbündete planen Kampf aus der Ferne gegen al-Qaida nach Abzug der Truppen aus Afghanistan" berichtet: "Einsätze von Kampfjets, Langstreckenbombern und Drohnen sind die eine Option, die andere, die weniger offen kommuniziert wird, sind fortgesetzte verdeckte Operationen von Spezialeinheiten. Beides soll in Planungen des Pentagon auftauchen, um damit zu verhindern, dass Afghanistan nach dem Abzug der US-Soldaten und der verbündeten Nato-Kräfte wieder eine ‚Basis für Terroristen’ wird." Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - IMI-Standpunkt 2021/019. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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