Traurige KindheitVon Georg Rammer 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche bis achtzehn Jahren leben in Deutschland in Armut. Schon die Feststellung, dass in einem der reichsten Länder ein erheblicher Teil der jungen Generation in Armut aufwächst, klagt die Regierungspolitik an, stellt ihre demokratische Legitimität in Frage. Durch die Masse der systematisch in Armut gedrängten Kinder werden ebenfalls die Richter und Richterinnen angeklagt, die eigentlich die Verfassung schützen sollen: Wie groß dürfen Armut und Ungleichheit noch werden? Wieso feiert ihr den "sozialen Rechtsstaat", statt ihn zu verwirklichen? Seit Ende der 1990er Jahre – der Phase der rot-grünen Koalition – ist das Armutsrisiko deutlich gewachsen ist. Und ist jemand in die Armut gerutscht (was ja nicht Naturgewalten geschuldet ist), so bleibt er oder sie immer häufiger länger arm: Der Anteil der langfristig Armen hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, weist das Statistische Bundesamt nach. Wagt jemand noch von Chancengleichheit zu reden, wenn lediglich acht Prozent der Kinder, die das Gymnasium besuchen, Eltern mit einem Hauptschulabschluss haben? 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche, gut 16 Prozent aller Minderjährigen, leben in einer Ein-Eltern-Familie – Tendenz steigend. 45 Prozent von ihnen leben unter Hartz-IV-Bedingungen, also unter der realen Armutsgrenze. Eine tägliche warme Mahlzeit ist für sie nicht selbstverständlich. Die knapp tausend Tafeln in Deutschland sind ursprünglich (ehrenamtlich!) aufgebaut worden, um die Ärmsten vor dem Hunger zu bewahren. Inzwischen sind 30 Prozent der "Kunden" Kinder und Jugendliche. Arme Kinder müssen häufig auf Nachhilfe verzichten und gehen nicht, wie andere, mit neuen Büchern, Stiften und Schulranzen zu Schule. Armen Kindern fällt es schwerer, Anschluss zu finden. Freunde nach Hause einladen? Undenkbar! Die Wohnung ist so klein, dass die Kinder kein eigenes Zimmer haben, und das Geld für Essen und Getränke ist sowieso schon knapp kalkuliert. Wenn sie zu Kindergeburtstagen eingeladen werden, können sie keine teuren Geschenke mitbringen wie die Klassenkameraden. Arme Kinder haben kein eigenes Smartphone und können keine angesagten Markenklamotten tragen. Im Winter frieren einige, weil die Eltern keine warme Kleidung kaufen können. Taschengeld ist für sie nicht selbstverständlich, und fürs Schwimmbad oder das Kino ist ebenfalls kein Geld da. Sport im Verein kostet Geld, genauso wie der Musikunterricht. In vielen Fällen haben die Eltern kein Auto und können ihre Kinder gar nicht erst zum Training fahren. Die Erfahrungen zwischen Mangel und Ausgrenzung bewirken bei den Kindern und ihren Eltern Scham, Demütigung und das Gefühl, nicht zur Gesellschaft zu gehören. Während die meisten der durch Armut Ausgegrenzten mit Resignation und Hoffnungslosigkeit reagieren, entsteht bei anderen eine unbändige Wut: "Bei jeder Kleinigkeit werd ich immer gleich zur Bestie. In der Schule hab ich Probleme, sie sagen so’n Scheiß über mich oder über meine Familie. Ich fühl mich dann irgendwie bedroht. Dann beschädige ich etwas, so einfach ohne Grund. In der Nähe der Schule hab ich mal mit der Faust eine Autoscheibe eingeschlagen." Der 14jährige Junge kann in dem Gespräch beim Jugendamt wenigstens beschreiben, was in ihm vorgeht. Ob er aber jemals verstehen wird, wodurch seine Lage aufrechterhalten wird und wer das absichtlich herbeiführt? Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass die Ausgrenzung Angst und Wut erzeugt und das Selbstbewusstsein unterhöhlt. Das Gefühl schafft es nicht mehr, Herr über das eigene Schicksal zu sein. Eine Lebenslage, die Menschen als Gewalt erleben, auf die sie entsprechend reagieren. "Das größte Risiko für die körperliche und seelische Entwicklung von Kindern ist Armut", stellte schon vor vielen Jahren eine Langzeitstudie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit Mannheim fest. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird durch Ungleichheit zerstört. Armut ist strukturelle Gewalt und der neoliberal radikalisierte Kapitalismus arbeitet mit denselben menschenverachtenden Prinzipien der Ungleichwertigkeit von Menschen wie der gemeine Rassismus: Angeklagt und der Verachtung und Abwertung preisgegeben werden die Opfer; die Verursacher gelten als Stützen der Gesellschaft. Wieso wagt es die Regierungspolitik seit Jahrzehnten, solche Verhältnisse, die sie mit ihren asozialen Gesetzen zur Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik selbst schafft, als sozial anzupreisen? Was soll daran demokratisch sein, wenn sich seit Jahrzehnten eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ausspricht – und die Regierungsparteien machen das genaue Gegenteil? Laut einem "Ungleichheitsbarometer" der Uni Konstanz und einer Berliner Denkfabrik wollen 77 Prozent der Befragten eine mehr egalitäre Gesellschaft. Dabei unterschätzen die meisten das Ausmaß der sozialen Ungleichheit sogar. Ein Drittel der Befragten ist im Vergleich zu den Eltern sozial abgestiegen. Sozialdarwinistische Wettbewerbsverluste, die die Bundesregierungen als westlichen Wert verkaufen. Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 16/17/2021. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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