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Rot-Grün-Rot: Wer sozialökologisch regieren will, darf sich nichts vormachen: Um die Krisen unserer Zeit zu lösen, muss man es mit "dem Kapital" aufnehmen. Und das wehrt sich.

Von Raul Zelik

Ob die Rote-Socken-Kampagne, mit der die Union alte antikommunistische Reflexe bedient, am Wahlergebnis etwas ändert, sei einmal dahin gestellt. Interessant an ihr ist sowieso etwas Anderes: Die Stimmungsmache vor der Wahl ist nur ein laues Lüftchen verglichen mit dem, was wir zu erwarten hätten, würde nach der Wahl doch noch jemand eine linke Reformagenda ernsthaft in Angriff nehmen. Der dann zu erwartende Sturm ist es, der das Zustandekommen einer linken Reformregierung so unwahrscheinlich macht.

Das entscheidende Hindernis für linke Reformpolitik ist nämlich nicht das "Fehlen eines linken Narrativs" oder die Haltung zur Nato. Das Problem liegt darin, dass weder die betreffenden Parteien noch soziale Bewegungen und Gewerkschaften einen realistischen Begriff von den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen haben.

Dabei liegt eigentlich auf der Hand, was eine linke Reformregierung tun müsste: Wer mehr Gleichheit will, muss umverteilen - Vermögenssteuer, höhere Spitzensteuersätze (wie sie nach 1945 auch für Konservative selbstverständlich waren) und gleichzeitig Entlastung der unteren zwei Drittel durch höhere Freibeträge für Geringverdiener und langsamer steigende Steuersätze.

Wer mehr Solidarität will, braucht starke gemeinwohlorientierte Infrastrukturen. Also: mehr gemeinnütziger Wohnraum, öffentlich finanzierter Nahverkehr, gebührenfreie Bildung, mehr soziale Dienste. Für letzteres benötigt man die Bürgerversicherung, denn würden die Spitzenverdiener*innen nicht länger in Privatkassen flüchten können, wären Kranken- und Rentenkassen auf einen Schlag saniert. Die Einkommen der Pflegekräfte könnten deutlich angehoben, der Versorgungsschlüssel in Krankenhäusern und Heimen spürbar verbessert werden.

Wer die gesellschaftliche Verrohung stoppen will, muss der Verelendung entgegen wirken: repressionsfreie Grundsicherung, Schutz der Beschäftigten vor Outsourcing und Bullshit Jobs. Und er oder sie müsste der Immobilienspekulation einen Riegel vorschieben: städtischer Grund in öffentliche Hand, Förderung von Wohnungsgenossenschaften, Mietendeckel.

Es ist eine Illusion, mit ein bisschen Umstellung sei der ökologische Kollaps zu stoppen

Selbst bei der Friedens- und Außenpolitik gibt es nicht so viel zu überlegen. Eine linke Reformregierung kann nicht ernsthaft auf einem Bekenntnis zu Kriegseinsätzen beruhen, wie sie in Afghanistan gerade krachend gescheitert sind. Demokratie und Menschenrechte lassen sich nicht mit Militärinterventionen durchsetzen. Nicht minder banal ist allerdings die Erkenntnis, dass eine linke Reformregierung sich mit diesem Standpunkt nicht nur der Außenpolitik der USA und der EU, sondern auch der Russlands widersetzen müsste.

Wenn aber die Konturen eines linken Reformprojekts auf der Hand liegen und übrigens nicht darüber hinausgehen, was Sozialliberale in den 1970ern verteidigt haben, warum hat es eine entsprechende Regierung dann so schwer?

Der Grund ist simpel: Die oben genannten Reformen richten sich gegen die Interessen großer Kapitalvermögen. Wenn Vermögen besteuert, wenn zentrale Bereiche unseres Lebens - z.B. Wohnen, Bildung und Gesundheit - vor Profitmaximierung geschützt, wenn die geopolitischen Ambitionen der EU beerdigt werden, dann trifft das das Kapital ins Mark. Investmentfonds wissen nicht, wohin mit ihrem Geld, wenn Wohnungen - oder gar Medikamente - Gemeineigentum werden. Viele Aktionäre und Vermieterinnen werden rabiat, wenn ausnahmsweise einmal in die andere Richtung umverteilt wird. Und wie sollen sich große Unternehmen global in Stellung bringen, wenn der eigene Staat auf Geopolitik verzichtet?

Am deutlichsten zeigt sich dieser knallharte Widerspruch in einer Frage, die im Augenblick gar nicht im Mittelpunkt steht: die der ökologischen Transformation. In der Öffentlichkeit gibt man sich - parteiübergreifend - der Illusion hin, mit ein bisschen Umstellung der Antriebstechnik sei der ökologische Kollaps zu stoppen. Doch die Wahrheit ist, dass erstens auch bei der Produktion von E-Autos massiv Treibhausgase emittiert werden, dass zweitens der Energiekonsum der Industriestaaten drastisch gesenkt werden muss, wenn auf fossile Brennstoffe verzichtet werden soll, und dass sich drittens die ökologische Krise längst nicht auf den Klimawandel beschränkt.

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Aus der ökologischen Großkrise, deren Folgen die Habenichtse zu tragen haben werden und die deshalb eine Klassenfrage ist, gäbe es durchaus noch einen Ausstieg: Der Stoffwechsel mit der Natur muss reduziert werden. An der heiß debattierten Verkehrswende lässt sich wunderbar veranschaulichen, wie das ginge: Die beste Klimabilanz haben nicht E-Autos, sondern kollektive Transportmittel, wobei der Reisebus - laut Umweltbundesamt - genauso gut abschneidet wie die Bahn.

Doch weil die Wähler*innen angeblich keine Rückkehr zu einem Verkehrsmodell der frühen 1960er Jahre akzeptieren, traut sich niemand so etwas zu propagieren? Das ist nicht ganz falsch, doch nicht einmal die halbe Wahrheit. Viel entscheidender ist nämlich, dass es das Kapital nicht akzeptieren würde. Womit sollen Gewinne erwirtschaftet werden, wenn der Individualkonsum durch öffentliche Infrastrukturen ersetzt und damit weniger Waren verkauft werden? Wir Menschen könnten uns schon damit anfreunden - zumal wir in einer solchen Gesellschaft deutlich weniger arbeiten müssten. Doch wie will sich das Kapital dann vermehren?

Das größte Hindernis für eine linke Reformregierung besteht darin, dass weder die progressiven Bewegungen noch die Mitte-Links-Parteien ein realistisches Bild davon zeichnen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Wir vergewissern uns gegenseitig, die Wähler*innen seien der Souverän. Doch die wichtigste Machtressource in unserer Gesellschaft ist eben nicht die Summe der Einzelmeinungen, sondern das - in sehr wenigen Händen konzentrierte - Eigentum, das großen Einfluss auf unsere Überzeugungen hat und unsere Lebensweise komplett dominiert. Let’s face it: Wir sind die Untoten des Kapitals. Unsere Gesellschaft folgt seinen Bedürfnissen, nicht unseren.

Das ist das entscheidende Hindernis für eine linke Reformregierung: Jede soziale und ökologische Reform würde in die "Freiheit" zur Kapitalvermehrung eingreifen. Das 20. Jahrhundert hat eindrücklich bewiesen, dass so etwas möglich ist. Der Staat kann demokratisiert, die Macht der Eigentümer*innen zurückgedrängt werden - doch eben nur, wenn man erkennt, gegen wen man sich durchsetzen muss.

Eine linke Regierung darf nicht die Fehler der 1990er Jahre wiederholen

SPD, Grüne, aber auch viele in der Linkspartei behaupten, man könnte eine sozialökologische Reformagenda verfolgen und gleichzeitig "reibungslos" regieren. Doch nichts ist falscher als das - entweder das eine oder das andere. Eine Regierung, die die oben genannten Reformen in Angriff nimmt, wird den heftigsten Widerstand von Unternehmerverbänden, Immobilien-Lobbys und Medienkonzernen mobilisieren. Ihr würde nicht nur der Wind ins Gesicht blasen, sie hätte es mit einem wahren Orkan zu tun.

Wer ist heute bereit, solche Konflikte auszutragen? Wo man auch hinblickt: Es fehlt an Bewusstsein dafür, wie linke Reformen historisch eigentlich möglich waren. Die gesellschaftlichen Kompromisse, die wir heute als soziale und demokratische Errungenschaften schätzen, gehen nämlich nicht in erster Linie auf das Konto von Regierenden. Es waren die gesellschaftlichen Kämpfe und die Angst der Mächtigen vor radikalen Brüchen, die den Spielraum für den sozialliberalen und sozialdemokratischen Reformismus überhaupt erst eröffneten.

Wenn wir heute etwas Vergleichbares anstreben, dann müssen wir zunächst begreifen, dass wir uns mit den mächtigsten Interessen unserer Gesellschaft anlegen - den Eigentumsverhältnissen. Eine linke Reformregierung muss sich in diesem Sinne auf politischen Realitätssinn stützen - aber ganz anders als gemeinhin unterstellt. Realpolitisch sein heißt zu verstehen, dass alle anstehenden sozialen und ökologischen Reformen die Freiheit des Kapitals beschneiden und deswegen von ihm bekämpft werden. Dennoch brauchen wir diese Veränderungen, weil sie die einzige Chance sind, sich auf die heraufziehende sozialökologische Großkrise vorzubereiten.

Möglich werden solche Reformen nur sein, wenn sich sowohl ein breites gesellschaftliches Bündnis als auch eine Reformregierung den Interessen der ökonomisch Mächtigen mit aller Kraft widersetzen. Fehlt diese Bereitschaft, wird sich die Erfahrung der 1990er Jahre wiederholen - eine nominell linke Regierung macht rechte Reformen.

Raul Zelik ist Mitglied des Parteivorstands der Linken. Er arbeitet als Sozialwissenschaftler, Autor und Übersetzer. 2020 ist sein Buch Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus bei edition suhrkamp erschienen .

Quelle: der FREITAG vom 13.09.2021. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Raul Zelik und des Verlags.

Veröffentlicht am

14. September 2021

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