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Bewertung des NATO-Afghanistan-Einsatzes

Von Clemens Ronnefeldt

Nach 20 Jahren endet 2021 der Afghanistan-Einsatz der NATO, der damit doppelt so lang wie der erste und zweite Weltkrieg zusammen war.

Um eine Bewertung vornehmen zu können, möchte ich zunächst eine historische Einordnung der Zeit von 2001 bis 2021 versuchen. 1893 wurde die nach dem britischen Diplomaten Mortimer Durand benannte 2.670 Kilometer lange Durand-Linie gezogen, die damals Britisch-Indien und das Emirat Afghanistan trennten. Bis heute stellt diese Trennlinie die Staatsgrenze zwischen Afghanistan und Pakistan dar - eine koloniale Grenzziehung mit Folgen. Sie trennte damals - und tut dies bis heute - den bevölkerungsreichen Stamm der Paschtunen in zwei Gebiete. Heute leben etwa Zwei Drittel der Paschtunen in Pakistan, ein Drittel in Afghanistan - und haben noch immer Familienbande über die Grenze hinweg. Im Jahre 2017 sagte der frühere Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, Afghanistan werde die Durand-Linie niemals als Staatsgrenze zweier Länder anerkennen.

Afghanistan befindet sich seit 1979 ununterbrochen im Kriegszustand, seit am 24. Dezember 1979 sowjetische Truppen das Land besetzten. "620.000 sowjetische Soldaten waren von 1979 bis 1989 im Einsatz. Mindestens 15.000 Mann kamen ums Leben, über 70 Prozent wurden verwundet oder traumatisiert. Von den rund 15 Millionen Bewohnern Afghanistans wurden mehr als eine Million getötet und jeder zweite in die Flucht getrieben", bilanzierte die F.A.Z. am 3.7.2017.

Die Sowjets wollten u. a. Großgrundbesitzer enteignen und deren Ländereien unter Kleinbauern aufteilen. Was sie nicht bedachten: Diese Großgrundbesitzer waren vielfach gleichzeitig religiöse Autoritäten - deren Tötung durch sowjetische Besatzungssoldaten die Wut der Bevölkerung auf die sowjetischen Mörder lenkte.

Briten, Sowjets und auch die NATO-Staaten machten nacheinander einen gemeinsamen Fehler: Afghanistan ist eine Stammesgesellschaft mit großen regionalen Selbständigkeiten einzelner Stämme. Jeder Versuch, über eine von außen eingesetzte Zentralregierung in Kabul dieses Vielvölkerland von oben nach unten regieren zu wollen, wird vermutlich auch in Zukunft zum Scheitern verurteilt sein.

Zur Geschichte Afghanistans nach 2001

Als 2001 US-Truppen Osama bin Laden in Afghanistan finden wollten und die Nordallianz, bestehend vor allem aus usbekischen, tadschikischen und Hazara-Kämpfern, zu ihrer Bodentruppe im Kampf gegen die Taliban machte, wichen viele paschtunische Taliban-Kämpfer zu ihren Familienangehörigen und Stammesfreunden nach Pakistan aus, wo sie nicht angegriffen wurden.

Pakistan wurde von den USA als Stützpunkt gebraucht für den Kriegsnachschub in Afghanistan - daher wollte die US-Regierung die pakistanische Regierung nicht durch Bombardierungen auch auf pakistanischem Boden zu sehr verprellen.

Nach der schnellen Siegverkündung über die Taliban in Afghanistan von US-Präsident George W. Bush und der zügigen Verlegung der US-Kampftruppen von Afghanistan nach Irak, wo das nächste Desaster ab 2003 begann, kehrten die Kämpfer heimlich aus Pakistan zurück. Sie hatten die Zeit, die NATO-Soldaten die Uhren - bis heute.

Neben dem "offiziell" genannten Grund der Suche nach Osama bin Laden und den Attentätern von 9/11 hatten die USA noch eine Reihe anderer gewichtiger Gründe für den Einmarsch in Afghanistan.

Durch Afghanistan sollte eine von Turkmenistan kommende Pipeline mit Abzweigen nach Pakistan und Indien gebaut werden, die bereits 1998 zwischen dem Taliban-Regime und dem US-Konzern Unocal vereinbart war. Lobbyist von Unocal war seinerzeit Hamid Karzai, späterer Präsident Afghanistans. Das Taliban-Regime änderte vor 2001 jedoch seine Meinung und wollte dem argentinischen Konkurrenzunternehmen Bridas den Zuschlag geben, was die US-Regierung sehr verärgerte.

Vom persischen Golf wollte Iran eine bis heute nicht gebaute Pipeline von Iran nach Pakistan verlegen, die nach Indien verlängert werden sollte. Ziel der USA ist nach wie vor, dieses Projekt zu verhindern, um Iran zu isolieren, das Öl- und Gas-Langzeitlieferverträge mit Indien und China geschlossen hat.

Iran, obwohl nicht an den 9/11-Anschlägen beteiligt - im Gegensatz zu Saudi-Arabien, wo 15 der 19 Attentäter herstammten - war nach dem 11. September 2001 zusammen mit Irak und Nordkorea von US-Präsident George W. Buch auf die "Achse des Bösen" gesetzt worden. Mit einer umfangreichen Stationierung von US-Truppen und dem Aufbau von militärischer Infrastruktur in Afghanistan sollte Iran von zwei Seiten - im Osten von Afghanistan und im Westen von Irak - in die Zange genommen werden. Weil beide Kriege in Afghanistan und im Irak in einem westlichen Desaster endeten, fiel der große Krieg gegen Iran bis heute aus.

Zahlen-Bilanzen nach 20 Jahren Krieg

Am 30.6.2021 bilanzierte die IPPNW, basierend auf ihrer Studie "Body Count" und den Forschungsergebnissen des "Costs of War Project" an der Brown University in Boston, dass in Afghanistan und Pakistan mindestens 238.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen starben, über 71.000 davon Zivilist*innen. Die tatsächliche Zahl der zivilen Opfer liege jedoch vermutlich fünf- bis achtmal so hoch. Der Bevölkerungsanteil, der unter der Armutsschwelle lebt, liege mit 54,5 Prozent auf dem Niveau vor dem Sturz der Talibanherrschaft. Die Covid-19-Krise verschärfe die Situation noch. Hilfsorganisationen zufolge seien 13 Millionen Afghaninnen akut von Hunger bedroht.

Die finanziellen Gesamtkosten des Krieges belaufen sich allein für die USA auf 2.261 Milliarden US-Dollar.

Zu Deutschland und dem Bundeswehr-Einsatz

In 20 Jahren Kriegseinsatz gab es 59 Bundeswehrsoldat*innen, die ihr Leben verloren, davon 35, die in Kampfhandlungen getötet wurden - und mehrere Tausend an Leib und Seele Verletzte.

Die zunächst 500 deutschen Soldat*innen, die noch von der rot-grünen Regierung nach Kabul zur Unterstützung der neuen afghanischen Regierung entsandt wurden, waren nicht von der US-Regierung angefordert, sondern eine freie Entscheidung der Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Durch diese "Übernahme internationaler Verantwortung" erhoffte sich die Bundesregierung damals auch, die Chancen auf einen angestrebten ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhöhen.

2001 und 2002 wurden auf dem Petersberg bei Bonn im Rahmen zweier Konferenzen die Weichen für Afghanistan nach einer Entmachtung der Taliban gestellt.

Der "Geburtsfehler" der ersten und zweiten Petersberg-Konferenz liegt darin, dass er die Machtverhältnisse in Afghanistan zugunsten der damals vermeintlichen Sieger der Nordallianz mit Tadschiken und Usbeken verschieben wollte und die damals vermeintlich geschlagenen Taliban faktisch ausschloss.

Wer bei der Neuordnung eines Landes wie Afghanistan allerdings einen so großen Teil der Bevölkerung ausschließt, zahlt einen späteren Preis für diese Ausgrenzung.

In der SZ-Printausgabe vom 7. Mai 2021 schrieb Johannes Clair, als Fallschirmjäger der Bundeswehr im Afghanistaneinsatz, einen Artikel unter der Überschrift "Unser aller Krieg":

"Wir alle vertrauten darauf, dass sich Deutschland nicht in ein militärisches Abenteuer stürzen würde. Und doch erlebten wir Soldatinnen und Soldaten genau das: ein militärisches Abenteuer. (…)
Die Regierenden sind zerstritten, die Sicherheitskräfte überfordert, viele fühlen sich verheizt. ,Es gab nie eine klare, allumfassende sicherheitspolitische Strategie für diesen Einsatz. Und es gab nie eine Exitstrategie’, sagte mir ein Freund vor Kurzem. Ich stimme ihm zu."

Die Interessenlage der US-Regierung, die vornehmlich an der Vernichtung der Taliban interessant war und dabei auch Folter und hohe Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung in Kauf nahm, war nicht kompatibel mit dem Versuch einiger anderer Staaten - u. a. auch Deutschland - zum "nation building" - und führte letztlich den NATO-Einsatz in eine Sackgasse.

Einige Gründe für das Scheitern der Bundeswehr in Afghanistan nannte nach sechs Jahren bereits der damalige militärpolitische Berater der Bundesregierung in Kabul, Oberstleutnant Jürgen Heiducoff, 2007 in einem Brief an Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier:

"Es gibt keine Entschuldigung für das durch unsere westlichen Militärs erzeugte Leid unter den unbeteiligten und unschuldigen Menschen … Es ist unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime der Zivilgesellschaft bekämpfen… Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen. Dies müssen die Paschtunen als Terror empfinden. Wir sind dabei, durch diese unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der Afghanen zu verlieren… Ich stelle dabei zunehmend fest, dass die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt wird. Auch deutsche Generäle beschönigen oder verschweigen eigene Probleme… Das Militär droht sich zu verselbstständigen und von den politischen und völkerrechtlichen Vorgaben zulösen…" Zeidler, Markus/Restle, Georg: "Brandbrief aus Kabul - Schwere Vorwürfe gegen westliche Militärs in Afghanistan", Monitor vom 31. Mai 2007, www.wdr.de/tv/monitor/ presse_070531.phtml .

Als Konsequenz dieser offenen und mutigen Worte wurde Oberstleutnant Jürgen Heiducoff von den militärischen Lagebesprechungen in Afghanistan ausgeschlossen, vom Informationsfluss abgeschnitten und schließlich 2008 von seiner Stelle abberufen und nach Deutschland versetzt.

Im Jahre 2014 bilanzierte dann auch der damalige Sonderbeauftragte des Auswärtigen Amtes, dass bei allen Zielen des deutschen Einsatzes "teils ganz erhebliche und schmerzhafte Lücken gegenüber dem anzustrebenden Endzustand verbleiben".

Fazit und Ausblick

Die Taliban verlangten die Beteiligung an einer Übergangsregierung bis zu Neuwahlen, der afghanische Präsident Ashraf Ghani lehnte dies bisher ab.

In Doha verhandelten im Februar 2021 Unterhändler der afghanischen Regierung mit Vertretern der Taliban. "Deutschland ist dort moderierend beteiligt", schrieb die Süddeutsche Zeitung am 25.2.2021.

Diese sinnvolle diplomatische Arbeit, an deren Ende ein Friedensabkommen zwischen Taliban und afghanischer Regierung stehen könnte, ist zeitlich zu intensivieren, damit nach dem weitgehenden Abzug der NATO-Truppen sich die extrem angespannte Lage in Afghanistan etwas beruhigt.

Die Forderung der Taliban ist der vollständige Abzug aller NATO-Truppen. Auch nach dem offiziell bekannt gegebenen Ende des NATO-Einsatzes werden vor allem einige kleinere US-Militäreinheiten in Nachbarstaaten Afghanistans stationiert bleiben, um von dort über einen erneuten schnellen Truppenaufwuchs notfalls zukünftig erneut militärisch eingreifen zu können.

Afghanistan - in der Nähe von Russland und China - ist geostrategisch und auch geologisch als Kontrolleur etlicher Flüsse Asiens, die in große Nachländer fließen, zu wichtig und hat zudem auch noch zu viele Bodenschätze, um es aus NATO-Sicht vollständig zu verlassen.

Ein wirklicher Frieden in Afghanistan, der durch den 20-jährigen NATO-Einsatz um viele Jahre zurückgeworfen wurde, ist weiterhin eine Herkulesaufgabe, bei der ehrliche Makler zwischen Taliban und afghanischer Regierung wie z. B. Norwegen oder die OSZE, ebenso zivile Friedensfachkräfte, zukünftig gefragt sind.

Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.

Quelle: FriedensForum 5/2021.

Fußnoten

Veröffentlicht am

12. September 2021

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