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Jüdische Stimme: Nachruf auf Rolf Verleger

Rolf Verleger (1951-2021)

 

Von Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.

Rolf Verleger, unser Freund, Lehrer, moralischer und politischer Wegweiser, ist am Montag, den 8. November, nach schwerer Krankheit verstorben, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Sein Verlust ist ein furchtbarer Schlag für uns alle in der Jüdischen Stimme, die wir nicht nur seine Genoss:innen im gemeinsamen Kampf für Gerechtigkeit waren, sondern auch seine Freund:innen und Teil der jüdischen Gemeinschaft, die in Deutschland nicht zuletzt dank seiner eigenen Bemühungen gewachsen ist.

Rolfs ganzes Leben wurde von den Schrecken des Holocaust geprägt. Sein Vater, Ernst Jissruel-Jossef Verleger (1899-1965), war ein Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz, der dort  seine erste Frau und seine drei Söhne verloren hat. Er heiratete Rolfs zukünftige Mutter, Helga Drexler, die selbst 1942 nach Raasiku deportiert wurde und von dort aus in das Konzentrationslager Jägala und das Konzentrationslager Stutthof kam.

Rolfs Eltern erzogen ihn in einem religiösen Haushalt, und die jüdischen Werte der Gerechtigkeit und der Unantastbarkeit des Lebens blieben in Rolfs politischer, ehrenamtlicher und akademischer Arbeit zeitlebens präsent. Nach seiner Promotion in Sozialwissenschaften an der Universität Tübingen habilitierte er sich in Medizinischer Psychologie an der Universität Lübeck und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2017 Psychologie.

Rolf war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Lübeck und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Schleswig-Holstein. Während der israelischen Invasion in den Libanon im Jahr 2006, die fast 2.000 Menschen (90% davon Libanesen) das Leben kostete, blieb Rolf nicht still. Er kritisierte die israelische Aggression und sein Mandat als Vorsitzender seines Landesverbands im Zentralrat der Juden wurde deshalb widerrufen. Unter großem persönlichem Aufwand bewies Rolf, dass die offiziellen jüdischen Organisationen in Deutschland keine jüdischen Werte vertreten, sondern den Staat Israel unterstützen, und dass die Jüd:innen in Deutschland dringend Organisationen brauchen, die die Meinungsvielfalt unter den Jüd:innen vertreten können, einschließlich der Werte von Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie.

Danach initiierte er die Online-Petition "Berliner Erklärung Schalom 5767", die von namenhaften Jüd:innen in Deutschland unterschrieben wurde, darunter Kurt Goldstein, Ernst Tugendhat und Wolfgang Edelstein. Mehrere unsere Mitglieder nahmen dann Kontakt mit ihm auf und unterschrieben auch. Später wurde er Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden im Nahost und danach auch Vorsitzender. Er blieb bis zu seinem Lebensende Mitglied. Innerhalb der Organisation organisierte er Veranstaltungen, Proteste und vor allem interne Diskussionen, die die Jüdische Stimme zu einer wahrhaft pluralistischen Organisation machten, einem sicheren Raum für Jüd:innen, in dem sie über ihren Glauben und ihre Identität diskutieren und sich nicht scheuen müssen, die israelische Besatzung in Palästina, die deutsche Staatsräson der blinden Unterstützung der israelischen Regierung und den antipalästinensischen Rassismus in Deutschland zu kritisieren, der im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus gerechtfertigt wird.

Die israelische Invasion des Gazastreifens zwischen dem 27. Dezember 2008 und dem 18. Januar 2009, bei der fast 1.400 Palästinenser getötet wurden (die meisten von ihnen wehrlose Zivilisten), brachte viele von uns auf die Straße. Während einer Demonstration gegen die Invasion setzte Rolf seine Kippa auf und sprach das "Shema Yisrael", ein Gebet, das jeder Jude in Momenten großer Angst, Trauer und Hilflosigkeit spricht.

Rolfs Stil des politischen Aktivismus wurde durch seine akademische Arbeit geprägt. Er hat nicht nur seinen Mitstreiter:innen ein enormes Wissen vermittelt, sondern war auch bereit, selbst zu lernen und seine Meinung zu ändern, wenn er mit für ihn unbekannten Fakten konfrontiert wurde. So lernte er zum Beispiel während der Diskussionen in der Jüdischen Stimme, dass die Trennung zwischen "biblischem Hebräisch" und "modernem Hebräisch" (das die Deutschen fälschlicherweise "Iwrit" nennen) eine künstliche Trennung ist, die von der zionistischen Bewegung erfunden wurde, und dass modernes Hebräisch schon lange vor der Gründung der zionistischen Bewegung in Zeitungen und Büchern gesprochen und geschrieben wurde. Rolfs Bescheidenheit, mit der er anerkannte, dass er etwas Neues gelernt hatte, war ein Beispiel für uns alle.

Rolf wollte, dass die Jüdische Stimme mehr wie die US-Amerikanische Jewish Voice for Peace wird, eine massive Bewegung mit Zehntausenden von Mitgliedern. JVP hat aber den Vorteil, dass in den USA, wo die Trennung von Kirche und Staat gilt, der Staat proisraelische jüdische Gruppen nicht finanzieren darf, um ihnen einen Vorteil gegenüber Organisationen zu verschaffen, die Gerechtigkeit für alle Menschen fordern. Zudem gilt es in den USA als anstößig, Jüd:innen des Antisemitismus zu beschuldigen. In Deutschland ist es unter Nicht-Jüd:innen inzwischen akzeptabel, die Jüdische Stimme sowie andere jüdische Gruppen wie die jüdisch-israelischen Künstlerinnen in der "School for Unlearning Zionism" direkt oder indirekt des Antisemitismus zu bezichtigen. Rolf selbst, dessen ganzes Leben vom Aufwachsen bei traumatisierten Eltern geprägt wurde, wurde auch von anonymen proisraelischen Aktivist:innen in Freiburg, vom Jungen Forum der Deutsch-israelischen Gesellschaft in Heidelberg und von proisraelischen Gruppen in Mannheim des Antisemitismus bezichtigt. Gegen ihn wurden hasserfüllte Flugblätter verteilt, sein Mannheimer Vortragssaal kündigte den Vertrag mit ihm und verweigerte ihm das Rederecht. Dennoch hat Rolf stets gelassen reagiert und ist den Vorwürfen gegen ihn mit Fakten begegnet.

Im Jahr 2016 gründete Rolf zusammen mit prominenten Politiker:innen, Pfarrer:innen, Professor:innen und Künstler:innen die Organisation Bündnis für Beendigung der israelischen Besatzung, die sich später in Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) umbenannte. Und auch hier zeigt sich wieder die zentrale Bedeutung des Wortes "Gerechtigkeit" in Rolfs Arbeit. Die Hauptaufgabe dieser Organisation besteht darin, der deutschen Öffentlichkeit Informationen über die Realität in Israel-Palästina zukommen zu lassen. Rolfs seltene Fähigkeit, Fakten zu sammeln, akademische Texte auf hohem Niveau zu formulieren und mit Stil und Genauigkeit zu schreiben, hat BIP innerhalb weniger Jahre zu einer großen und erfolgreichen Organisation gemacht.

Im Rahmen seiner Arbeit für BIP organisierte Rolf eine Petition an deutsche Universitäten, nachdem die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) 2019 beschlossen hatte, die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zu übernehmen, ohne sie zu verstehen und ohne Gegenargumente zu hören. In der Petition wurde davor gewarnt, jede Form der Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus zu verwechseln und dabei das wachsende Phänomen des proisraelischen Antisemitismus zu vernachlässigen. Über 2.000 Professor:innen und Dozent:innen an deutschen Hochschulen unterzeichneten die Petition und stellten den HRK-Beschluss als fehlgeleitete Geste bloß. Mittlerweile haben sich deutsche Universitäten einen internationalen Namen bei der Einschränkung der akademischen Freiheit gemacht.

Während seiner akademischen Laufbahn hat Rolf 158 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Zusätzlich zu seinen herausragenden Leistungen auf dem eigenen Fachgebiet bewies Rolf seine Fähigkeit, mit Sachverstand auch über andere Themen zu forschen und zu schreiben. In seinem Buch aus dem Jahr 2008, Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht, hat er herausgearbeitet, inwiefern der Staat Israel jüdische Werte nicht repräsentiert. Im Jahr 2017 schrieb er das Buch Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus, ein erhellendes historisches Werk, das aufzeigt, wie der Antisemitismus die jüdische Geschichte sowohl in Ost- als auch in Westeuropa geprägt hat, also im zaristischen Russland und im britischen Empire, die beide eine Lösung für die sogenannte "Judenfrage" durch die Errichtung eines Heimatlandes für Juden in Palästina anstrebten.

Rolf hat auch Vorträge gehalten, in denen er seine Analysen einem großen Publikum näherbrachte, obwohl mehrfach versucht wurde, ihn zum Schweigen zu bringen. Sein bekannter Vortrag über Antisemitismus in Deutschland zeigte einen klaren Zusammenhang zwischen der Unterstützung der Menschenrechte von Jüd:innen und Palästinenser:innen auf. Die Botschaft erreichte Tausende von Deutschen, nicht aber die deutsche Regierung, die den Staat Israel weiterhin als Verkörperung des jüdischen Volkes betrachtet. Dieser Vortrag basiert auf einer Studie von Wilhelm Kempf aus dem Jahr 2015, für die Rolf das Vorwort geschrieben hat.

In seinen letzten Tagen litt Rolf unter seiner Krankheit, aber er teilte seine Zeit weiterhin zwischen seiner Familie und seinem politischen Engagement auf. Selbst als er nicht mehr in der Lage war, Texte zu schreiben, nutzte er seine Verbindungen, um Redner einzuladen, Vorträge zu moderieren und Veranstaltungen zu kommentieren.

Rolfs klare, intelligente und weise Stimme, eine Stimme für Gerechtigkeit, wird schmerzlich vermisst werden.

Baruch dayan ha’emet

Quelle:  Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost - 10.11.2021.

Weblinks:

Veröffentlicht am

15. November 2021

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