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Offener Brief an die Friedensbewegung: Gemeinsame Sicherheit mit dem Atomwaffenverbot zusammendenken

Von Mohssen Massarrat

Das Afghanistan-Desaster stellte für die USA und auch für die Nato eine Zäsur dar, es hat (trotz der neuen Einigkeit über den Umgang mit Russland im Ukraine-Konflikt) einen tiefen Riss innerhalb der Nato hinterlassen) und vor allem die USA spürbar geschwächt.Bei der im Oktober 2021 in Frankfurt durchgeführten Afghanistankonferenz habe ich dieses Thema angesprochen. Hier würde ich es gern weiter ausführen.  Das Vorpreschen Russlands, jetzt erstaunlich selbstbewusst, Garantien gegen die Nato-Osterweiterung zu verlangen und die Unbekümmertheit Chinas, das eigene Projekt der "Wiedervereinigung des Vaterlandes" zielstrebig durchziehen zu wollen, sind unbestreitbare Belege für die globale Machtverschiebung zu Ungunsten der Nato. Es wäre allerdings verhängnisvoll, liebe Freundinnen und Freunde, daraus falsche Schlüsse zu ziehen.

Die Nato ist ebenso weit entfernt von einem Zusammenbruch, wie die USA von der Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung. Die von Aufrüstung, Kriegen und der US-Hegemonie profitierenden Kräfte, wie der Militärindustrielle Komplex, der fossil-nukleare Energiesektor und die zahlreichen durch Imperialismus und Rassismus sozialisierten Machtzentren dürften auch in Zukunft stark bleiben und mit allen propagandistischen Methoden der psychologischen Kriegsführung in der Lage sein, die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner auf ihre Seite zu ziehen.

Raus aus der Nato, aber wohin?

Aus diesem Grund und auch aus zwei weiteren Gründen ist deshalb m. E. die Zeit reif dafür, dass die internationale Friedensbewegung sich neu sortiert:

Erstens ist die Idee von "Raus aus der Nato", ohne eine perspektivisch positive wie realistische Alternative aufzuzeigen, nicht vermittelbar, daher war sie bisher auch nicht mehrheitsfähig. Inzwischen reagiert sogar ein Teil der Sozialdemokratie auf die Forderung "Raus aus der Nato" reflexhaft mit dem beinahe religiös anmutenden Mantra vom Bekenntnis zur Nato.

Mit der aktuell herrschenden Politik der Nato und ihrer unbestreitbar konfrontativ-hegemonialen Sicherheitsstrategie, deren einziger Zweck darin besteht, die Lebensweise einer kleinen globalen und sündhaft reichen Minderheit für weitere Jahrzehnte zu sichern, ist weder Frieden noch Klimaschutz und erst recht keine Gerechtigkeit zu machen. Und dennoch ist eine Zukunft ohne Atomwaffen, ohne die Nato und ohne eine militärisch basierte Sicherheitspolitik durchaus nicht alternativlos: Eine solche und für das friedliche Zusammenleben der Völker glaubwürdige Alternative ist das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit. Dieses Konzept beruht auf der Kooperation und auf einem Verständnis, das die Sicherheit jedes Landes strukturell an die Sicherheit des anderen Landes koppelt. Diese seit der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt und Egon Bahr längst bekannte Friedensidee müsste im Grunde nicht nur für Europa mit Russland, sondern auch für Asien mit China, für den Mittleren Osten mit Iran und Israel sowie für alle anderen Weltregionen m. E. das Friedensthema ersten Ranges sein, das in den letzten Dekaden durch die aggressive Kriegspolitik der US-Neokonservativen gezielt ins Hintertreffen getrieben wurde. Die für Februar 2022 geplante Strategiekonferenz der deutschen Friedensbewegung mit dem Schwerpunktthema "Gemeinsame Sicherheit" ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ein Blick über den europäischen Tellerrand in Richtung Asien und nicht zuletzt auch in den Mittleren Osten hätte der Konferenz allerdings gut gestanden. Immerhin arbeiten aus dem Kreis der deutschen Friedensbewegung einige seit längerem an der Konzeption einer Konferenz für Kooperation und gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) und das durchaus erfolgreich. Die iranische Regierung hat sich beispielsweise inzwischen dem zentralen Gedanken dieser Initiative angenähert und 2019 die Persischen Golfanrainerstaaten zu einer gemeinsamen Initiative für Kooperation und Sicherheit, und insbesondere zum Schutz freier Schifffahrt (Hormuz Peace Endeavour), aufgerufen, die sich gegenwärtig auch im Vorbereitungsstadium befindet.

Ein Fenster der Hoffnung für den UN-Atomwaffen-Verbotsvertrag

Zweitens darf der seit Januar 2021 in Kraft getretene und inzwischen von fast 150 Staaten unterzeichnete Atomwaffen-Verbotsvertrag und die das Projekt vorantreibende grandiose Bewegung nicht ins Hintertreffen geraten, weil sich die fünf Atomstaaten USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich und die US-Verbündeten in der Nato beharrlich weigern, den Wunsch der Völker für eine nuklearfreie Welt zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb müsste eine Perspektive durchdacht und durchdekliniert werden, die geeignet ist, die Atommächte für nukleare Abrüstung zu sensibilisieren. Die USA – und in ihrem Schlepptau Israel – wären, allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wenn überhaupt, die letzten, die bereit wären, ihre Nuklearmacht und damit jene darauf beruhende Hegemonialmacht freiwillig zur Disposition zu stellen. Russland und die Volksrepublik China, beide Staaten als Befürworter von Gemeinsamer Sicherheit und große Gewinner einer nuklearfreien Welt wären dagegen für die Perspektive der nuklearen Abrüstung deshalb geradezu prädestiniert.

Tatsächlich ist eine Gemeinsame Sicherheit für Russland und China mit ihren westlichen Nachbarstaaten überhaupt nur denkbar, wenn diese Nuklearmächte bei den Verhandlungen für die Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur ihre Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung glaubwürdig unter Beweis stellen würden. Denn kein westliches Land, weder in Europa, noch in Asien, wäre bereit, sich ohne die perspektivische Überwindung ihrer nuklearen Überlegenheit mit diesen Staaten auf eine gemeinsame Sicherheit einzulassen. Je weiter die Perspektive einer Gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in Europa mit Russland und in Asien zwischen Japan, Südkorea sowie anderen westlich orientierten Staaten Asiens mit China voranschreitet, desto höher steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die mächtigen nuklearen und hegemonialen Befürworter in den USA die politische Legitimation für ihre ohnehin perspektivlose wie zerstörerische Politik verlieren und daher gezwungen werden, sich ebenfalls auf nukleare Abrüstung einzulassen.

So gesehen öffnet die Gemeinsame Sicherheit also ein Fenster für nukleare Abrüstung, und sie ist daher auch ein Schlüssel zu Sicherheit neu Denken. Des Weiteren stellt gemeinsame Sicherheit übrigens die Nato vor die größte Herausforderung und ist auch die friedenspolitische Antwort auf dieses aggressive Militärbündnis. Vor dem Hintergrund der obigen Analyse beider Projekte und deren systemsprengende Wechselwirkung sind Gemeinsame Sicherheit und Atomwaffenverbot notwendigerweise zusammen zu denken.

Es wäre daher zu überlegen, zeitnah in Deutschland eine größere Konferenz zu organisieren, um gemeinsam die Details einer solchen Perspektive zusammen mit den relevanten Befürwortern beider Konzepte der gemeinsamen Sicherheit und der Initiative Atomwaffen-Verbotsvertrag, sowie mit Experten aus Russland, China, Iran, Israel und anderen betroffenen Staaten zu beraten.

Berlin, 06. Januar 2022 Mohssen Massarrat

Fußnoten

Veröffentlicht am

09. Januar 2022

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