Geistige PandemienEs geht in diesem Text nicht um die Covid-19-Pandemie - eine körperliche Seuche -, sondern um ähnliche Phänomene in unseren Köpfen und Herzen, um sozusagen geistige Pandemien. Vielleicht können wir dabei von den Erfahrungen aus der Corona-Pandemie lernen. Überlegungen von Gerhard Breidenstein. Von Gerhard Breidenstein Da gilt es zunächst die alarmierenden Anzeichen wahrzunehmen: Wir beobachten mit Erschrecken, wie Diffamierungen, Hass, Aufforderungen zu Gewalt gegen Einzelne zunehmen. Wir sehen, wie in aller Welt ethnische Konflikte, Bürgerkriege, zwischenstaatliche Kriege immer wieder mit brutaler Gewalt ausbrechen. Wir haben den Eindruck, dass die Gier nach Macht und nach Reichtum offenbar zunimmt, auch in ganz zivilisierten Gesellschaften. Auch die Sucht nach immer mehr und immer unsinnigerem Konsum ist alarmierend, weil dadurch Rohstoff- und Energieverbrauch und die Müllberge exponentiell zunehmen. Und wir realisieren, dass Technisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche uns immer weiter von unserer natürlichen Mitwelt entfremden. Dann geht es darum, diese Krisen-Phänomene als Symptome einer gesellschaftlichen, ja kulturellen Krankheit zu erkennen. Ja, da sind sozusagen Viren unterwegs, Massen-Infektionen, es handelt sich um so etwas wie Pandemien. Sehr deutlich ist der Ansteckungseffekt in den "Social Media" zu erkennen: Wenn da jemand eine Hass-Botschaft ins Netz stellt, meist vielfach, so wird sie erschreckend oft und schnell "geteilt", d.h. weitergegeben und dabei multipliziert. Zuweilen ist erkennbar, dass politische Drahtzieher diese Möglichkeit gezielt einsetzen. Und die Infektion kann zu tödlichen Folgen führen, wenn jemand den Worten Taten folgen lässt und sich mit diesen auch noch brüstet. Ebenso sind Korruption, Steuerhinterziehung und Raffgier ansteckende Krankheiten nach dem Motto "Die Anderen machen das doch auch!" so sind sie erschreckend weit verbreitet. Unser Konsum wird durch Werbung immer wieder angestachelt, weil im Interesse des Kapitals die Wirtschaft weiter und weiter wachsen soll. Und so wird nicht nur bei der Kleidung auf das geschaut, was gerade "in" ist; auch bei Handys, Computern und sogar bei Autos (SUVs!) muss es immer das Neueste sein. Eine solche (gemachte) Mode wirkt ansteckend, zumal in einer kulturellen Atmosphäre des Materialismus. Masseninfektionen gab und gibt es auch zwischen ethnischen Gruppen innerhalb eines Landes und zwischen Staaten. Wie anders sind der wuchernde Antisemitismus unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und dessen abgründige Folgen zu erklären? Oder solch schreckliche Massaker, wie es sie in Ruanda gab, auf dem westlichen Balkan, in Myanmar oder in vielen anderen Ländern? Sie alle wurden von Herrschenden gezielt angestachelt. Und Rassismus grassiert noch immer in vielen Ländern, steckt in subtiler Dosis sogar noch in unseren Köpfen fest. Sind wir solchen Pandemien hilflos ausgeliefert? Nein, es gibt zwar keine Impfstoffe gegen sie, wohl aber Mittel der Immunisierung. Es gibt die Idee der Gewaltlosigkeit, wie sie bereits Buddha predigte, Jesus von Nazareth vorlebte und die in Menschen wie Franziskus, Gandhi oder dem Dalai Lama verkörpert ist. Es gibt spätestens seit der Aufklärung die Idee der Toleranz und daraus entwickelt das Konzept der Menschenrechte, zu dem fast alle heutigen Staaten sich (zumindest formal) verpflichtet haben und für das sich die Vereinten Nationen unterstützend einsetzen. Es gibt die Idee der Solidarität, aus der die weltweite Gewerkschafts- und Genossenschafts-Bewegung entstand. Vielleicht ist sie geistesverwandt mit der Idee der Nächstenliebe, die heutzutage mehr Menschen denn je in aller Welt zu konkreten Hilfen für Menschen in Not motiviert. Und es gibt die Liebe zur Mitwelt. Eine achtsame Beziehung zur umgebenden Natur war vermutlich überlebenswichtig in den frühen menschlichen Kulturen, wie sie "natürlich" noch heute bei indigenen Völkern zu finden ist. Sie erwacht heutzutage wieder in der Ökologie-Bewegung und in spirituellen Erfahrungen der All-Verbundenheit. Schließlich ist da das Ideal eines einfachen Lebens, das uns und die Mitwelt von der Last des modernen Konsums befreien kann. Diese Mittel zur Abwehr der Infektionen sind seit Jahrzehnten und Jahrhunderten, also schon lange bekannt, überall vorhanden, nirgendwo patentiert, kostenlos und ohne Nebenwirkungen! Warum gibt es dennoch die anfangs aufgezählten Krankheitssymptome? Weil die Herrschenden jeder religiösen oder politischen Ideologie diese "Medikamente" als verfälscht, nicht anwendbar oder wirkungslos diffamieren, oder sie sogar als gefährlich bekämpfen und unterdrücken bzw. in Diktaturen deren Vertreter*innen verfolgen. Allerdings spielt wohl auch die "Herzensträgheit" von uns allen eine Rolle. Diese kulturellen Werte kann man zwar nicht mit einem Pieks "verimpfen", aber sie breiten sich dennoch seit Jahrzehnten, gar Jahrhunderten über die ganze Welt aus. Sie sind ebenso "ansteckend" wie die entsprechenden Viren und wirken immunisierend. So fand in unserer Zeit das Beispiel Gandhis vielfach Nachfolger (Mandela, Martin Luther King und zahllose Namenlose in aller Welt). Marshall Rosenberg, ein US-amerikanischer Psychotherapeut, erfand und lehrte eine Methode der Gewaltfreien Kommunikation (GfK), die er in höchst angespannten rassistischen und ethnischen Konflikten in vielen Ländern erfolgreich praktizierte. Heute gibt es Kurse in GfK auf allen Kontinenten, zumal diese Methode sich auch bei Konflikten im privaten Bereich bewährt hat. Die Idee der Gewaltlosigkeit ist auch als gewaltfreie Aktionsform in unserer Zeit und weltweit wirksam und ansteckend geworden. Denn an ihr können viele Menschen mit ein wenig vorbereitender Schulung teilnehmen, die bei gewaltsamen Aktionsformen abseits blieben. Die großen Demonstrationen der früheren Friedens- und der Anti-AKW-Bewegungen oder die heutigen für Umwelt- und Klimaschutz zeugen von der Kraft dieser Idee, zumal sie meist gepaart ist mit der Sorge um die globale Zukunft. Ohne diesen Ansteckungscharakter wäre die unglaublich schnelle und weltweite Verbreitung von Fridays for Future nicht zu erklären und nicht die erstaunlich ausdauernden Besetzungen von gefährdeten Waldregionen. Dabei ist offenbar auch die wiederentdeckte Liebe zur "Mutter Erde" wirksam. Auch das Ideal eines einfacheren und insofern nachhaltigen Lebensstiles kann ansteckend wirken, wenn man erfährt, wie jemand auch ohne ein eigenes Auto mittels Carsharing oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln überall hinkommen kann; wenn man hört, wie attraktiv Urlaub auch ohne Fliegen oder Kreuzfahrtschiffe sein kann; wenn man erlebt, dass auch vegetarisches, gar veganes Essen sehr schmackhaft und reich an Eiweiß sein kann; und wenn man mal selbst sieht, welch gute Qualität an Oberbekleidung und Alltagswaren man heutzutage in wohl geordneten Secondhand-Läden für wenig Geld erwerben kann. Nicht vergessen werden darf das Wirken der Idee der Solidarität in den unzähligen meist unsichtbaren Aktivitäten der Nichtregierungs-Organisationen (NGOs), die ebenfalls auf allen Kontinenten für praktische Hilfe zur Selbsthilfe sorgen oder örtliche Widerstandsbewegungen unterstützen, die ihrerseits für den Schutz der Natur oder die Einhaltung der Menschenrechte kämpfen. Bei dem weltweiten Kampf gegen den Hunger ist die Idee der Solidarität sehr direkt wirksam, wie sich auch bei großen Katastrophen irgendwo in der Welt bei uns eine enorme Spendenbereitschaft regt. Damit ist schon angesprochen, dass wir etwas zur Verbreitung dieser Immunstärker tun können. Erfolgreiche und sichtbare Aktionen der beschriebenen Art wirken ansteckend gegen die geistigen Pandemien und gegen Resignation. Größer noch wäre der Infektionsschutz, wenn die genannten Ideen, Werte und Methoden regelmäßig in allen Schulen gelehrt und praktiziert würden und in den Medien eine angemessene Beachtung fänden. Wie bei der Corona-Pandemie gilt also auch für die geistigen Pandemien: wir müssen nicht wie gelähmt auf die Schlange der globalen Krisen starren, wir können etwas tun gegen die Ausbreitung der Viren und für den kulturellen Immunschutz unserer Gesellschaften. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 14.01.2022. 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