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Andreas Zumach: NATO-Osterweiterung. Wer wem wann was in den 1990er Jahren versprach, und warum diese Frage bis heute relevant ist.

Von Andreas Zumach

Am 6. Dezember 2021, dem Tag vor der Videokonferenz zwischen den Präsidenten Russlands und der USA, Wladimir Putin und Joe Biden, hatte ich in einem Kommentar in der "tageszeitung" (taz) unter der Überschrift "Beide Seiten müssen deeskalieren" geschrieben:

"Entgegen dem im Westen weitverbreiten Narrativ begann die Verschlechterung der Beziehungen nicht erst mit Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim im März 2014, sondern bereits mit der NATO-Osterweiterung, die ab 1996 vollzogen wurde. Es wurde das Versprechen gebrochen, das US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow Anfang Februar 1990 nachweislich gegeben hatten. Die Osterweiterung war ein schwerer historischer Fehler der Nato."

Dieser Kommentar, insbesondere mein Satz über das nachweislich gegebene und gebrochene Versprechen, löste eine große Zahl von Kommentaren auf taz-online und anderswo aus, in denen das gegebene Versprechen - sei es aus Unkenntnis der Fakten oder wider besseres Wissen - bestritten und abgetan wurde als "Hirngespinst" oder als "irgendein angebliches Geschwätz von Genscher".

In einer ausführlichen Mail reagierte ein von mir sehr geschätzter Journalistenkollege und ehemaliger Chefredakteur der taz. Nachfolgend meine ausführliche Antwort.

Lieber T.

Danke für Deine ausführliche Mail zu meinem Kommentar in der taz vom 6.12.2021. Zunächst zu Deinen Fragen und Zweifeln, ob und in welcher Form es das von mir als "nachweislich" beschriebene Versprechen gegeben hat.

Für mich gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass - so wie ich es in meinem Kommentar geschrieben habe - US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei ihren Moskauer Gesprächen mit Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse Anfang am 8./9. und 10. Februar 1990 das Versprechen gegeben haben, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Entsprechend haben sich damals auch andere Regierungsmitglieder und Diplomaten der USA, der Bundesrepublik Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens sowie der damalige NATO-Generalsekretär Wörner geäußert -sowohl gegenüber der Regierung in Moskau wie gegenüber Regierungen ost-/mitteleuropäischer Staaten wie Polen und der CSSR als auch öffentlich. Dafür gibt es zahlreiche Belege und Zeugen. Die wichtigsten:

1) Von der Geheimhaltung freigegebene Dokumente des National Security Archive der USA

Beschrieben in einem Artikel unter der Überschrift "NATO-Expansion: Who promised what to Whom"

Teil 1: "What Gorbatschow heard western leaders say"

Teil 2: "What Yeltsin heard"

Dieser 2. Teil behandelt die Zeit der Jelzin-Regierung ab 1991. Aus den Dokumenten wird deutlich, wie Jelzin und seine Regierung von der damaligen US-Administrationen von George Bush und Bill Clinton im Unklaren gelassen oder gar vorsätzlich in die Irre geführt wurde über die damaligen Absichten mit Blick auf eine Erweiterung der NATO.

2) Von der Geheimhaltung freigegebene Dokumente des Auswärtigen Amtes in Bonn, zitiert in dem SPIEGEL-Artikel "Absurde Vorstellung" vom 22.11.2009.

3) Die Äußerungen Genschers in einem Vortrag in der Akademie Tutzing vom 31. Januar 1990

"Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. […] Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen."

Genschers Äußerung vor den Medien nach seinem Treffen mit US-Außenminister James Baker am 2. Februar 1990 in Washington:

"Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Oste. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir gar nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell." Dokumentiert u.a. im "Weltspiegel" des ARD-Fernsehens.

4) Die Erinnerungen des ehemaligen US-Diplomaten William Burns sowie die Erkenntnisse der US-Historikerin Mary Elise Sarotte. Beides zusammengefasst in einer Bücherbesprechung von Klaus von Dohnanyi in der ZEIT vom 18. Juni 2019.

Interview und Artikel mit/von Sarotte vom Oktober/November 2019 ( Manuskript ).

Du verweist darauf, dass Horst Teltschik, der als außenpolitischer Chefberater von Kohl bei dessen Gespräch mit Gorbatschow am 10. Februar 1990 anwesend war, die damals gemachten Zusagen bestreitet. Warum sich Teltschik anders (und im Widerspruch zur Dokumentenlage) erinnert, weiß ich nicht. Ich kann nur spekulieren: Es gab damals die starke Konkurrenz über die federführende Zuständigkeit für die Außenpolitik zwischen Genschers Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt. Möglicherweise war Teltschik auch nicht einverstanden mit den Zusagen, die Kohl, Genscher und Baker in Moskau gemacht hatten. Oder aber er wurde - ebenso wie Kohl damals von US-Präsident George Bush - unter Druck gesetzt, von den gemachten Zusagen abzurücken.

5) Die diversen schriftlichen und mündlichen Äußerungen von Jack Matlock, der im Februar 1990 als damaliger US-Botschafter in Moskau bei Bakers Gesprächen mit Gorbatschow und Schewardnadse dabei war.

Aus den oben zitierten Dokumenten und Aussagen geht auch hervor, dass/warum

a) sich die im Februar 1990 gemachten Zusagen einer Nichterweiterung der NATO keineswegs nur auf das Territorium der DDR bezogen, sondern darüber hinaus auch auf die anderen osteuropäischen Staaten;

b) Baker, Kohl und Genscher von ihren im Februar 1990 gemachten Zusagen später abgerückt sind;

c) Gorbatschow bei den zwischen Mitte März Mai 1990 bis 12. September 1990 geführten formalen 4+2 Verhandlungen über die Herbeiführung der deutschen Einheit nicht mehr auf den im Februar erhaltenen Zusagen bestand.

Zudem bezog sich seine spätere (2014), häufig zitierte Erklärung, es habe "kein Versprechen der NATO" gegeben, ausdrücklich auf diese Phase der formalen Verhandlungen. Ein "Versprechen" des gesamten NATO-Bündnisses hatte es tatsächlich nicht gegeben, allerdings politische Zusagen von Regierungsmitgliedern der vier gewichtigsten NATO-Mitgliedsstaaten.

Ich käme auch ohne die unter 1-4 genannten Belege und Zeugen aus und bin seit 32 Jahren der Überzeugung, dass es die von mir beschriebenen Zusagen vom Februar 1990 gegeben hat. Denn

1) Bin ich am 11. Februar 1990 alleine mit zwei weiteren Journalisten und Genscher unmittelbar nach seiner (und Kohls) Rückkehr aus Moskau in seinem Regierungsflugzeug von Köln/Bonn zur KSZE-Außenministerkonferenz "Open Skies" nach Ottawa geflogen. Genscher hat uns während des Fluges im Detail und hochbeglückt über seine Gespräche in Moskau berichtet und dabei auch mehrfach ausdrücklich seine und Kohls Zusage betont, dass das das Territorium der DDR zwar als künftiger Teil des vereinten Deutschlands politisch zur NATO gehören solle, aber ohne Truppen und militärische Strukturen der Allianz, und dass die NATO nicht um neue Mitglieder aus Osteuropa erweitert werden solle. Baker habe für die USA dieselben Zusagen gemacht. Ich habe das damals für so selbstverständlich und auch richtig gehalten, dass ich diese Zusagen in meinem taz-Artikel über dieses Gespräch mit Genscher gar nicht erwähnt habe.

2) Hat mir auf der Pariser KSZE-Gipfelkonferenz vom 19.-21. November 1990 Jiri Dienstbier, der damalige Außenminister der CSSR, ausführlich berichtet, dass die Regierung Kohl/Genscher der Regierung von Vaclav Havel von diesen Zusagen unterrichtet habe. Dienstbier (und nach seiner Darstellung damals auch Havel, der später seine Haltung änderte) setzte alle Hoffnung auf das von Gorbatschow vorgeschlagene "Gemeinsame Haus Europa" im institutionellen Rahmen der KSZE, deren politische, finanzielle und logistische Stärkung in Paris in den Reden ausnahmslos aller 35 Staats-und Regierungschefs (Kohl: "Die KSZE muss das Herzstück der europäischen Architektur werden") sowie im Abschlussdokument ( "Charta für ein neues Europa" ) gefordert und versprochen wurde. "In einem solchen kollektiven Sicherheitssystem wären auch die ost-und mitteleuropäischen Staaten mit ihren historisch begründeten Bedrohungswahrnehmungen gegenüber dem großen Nachbarn gut aufgehoben", meinte Dienstbier damals mir gegenüber.

In der öffentlichen Debatte ist heute immer wieder zu hören (u.a. von Wolfgang Ischinger, scheidender Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und von 1982-2008 in führenden Positionen im Auswärtigen Amt sowie als Botschafter in Washington und London tätig), die Sowjetunion/Russland habe der Aufnahme osteuropäischer Staaten in den 1990er Jahren "ausdrücklich zugestimmt", bzw. diese Ausnahme sei mit der Regierung in Moskau "vereinbart worden". Diese Behauptungen verweisen dann auf

- das 2+4-Abkommen über die Vereinigung Deutschlands vom 12. September 1990 und/oder

- die auf der Pariser KSZE-Gipfelkonferenz vom 19.-21 November 1990 verabschiedete "Charta für ein neues Europa" und/oder

- die NATO-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 .

Derlei Behauptungen sind zumindest unseriös. Denn tatsächlich findet sich in keinem dieser drei Abkommen eine "ausdrückliche Zustimmung" Moskaus oder eine entsprechende "Vereinbarung". Begriffe wie "NATO-Mitgliedschaft", "NATO-Erweiterung" o.ä. kommen in diesen Abkommen überhaupt nicht vor.

Es gibt lediglich Formulierungen in zwei der drei Abkommen, die allenfalls die Interpretation zulassen, Moskau habe das Recht des Beitritts von Staaten zur NATO anerkannt.

In der Charta von Paris heißt es:

"Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden….

Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte durch den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wird - gemeinsam mit neuen Ansätzen für Sicherheit und Zusammenarbeit innerhalb des KSZE-Prozesses - unser Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und unseren Beziehungen eine neue Dimension verleihen. In diesem Zusammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen".

In der NATO-Russland-Grundakte heißt es:

"Zur Verwirklichung der Ziele dieser Akte verpflichten sich die NATO und Russland gemeinsam dazu, ihre Beziehungen an folgenden Grundsätzen auszurichten:

Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen"

Im Weiteren füge ich meine Kommentare in den Text Deiner Mail in fetter Kursivschrift ein:

Aber unabhängig davon, ob es ein Versprechen gegeben hat oder nicht, und worauf sich dieses Versprechen bezog, stellt sich doch die Frage, welchen Wert ein nicht schriftlich in einem Vertrag kodifiziertes Versprechen überhaupt hat. Drei Männer geben einem vierten Mann mündlich ein Versprechen und danach ist das Hindernis überwunden, ist die Sache geritzt und Deutschland kann wiedervereinigt werden.

Es war allerdings ein großer handwerklicher Fehler, dass sich Gorbatschow und Schewardnadse die im Februar 1990 gemachten Zusagen nicht schriftlich geben ließen. Ich kann mir das nur so erklären, dass insbesondere Gorbatschow in dieser historischen Stunde des Zusammenbruchs der 45 Jahre alten Blockkonfrontation und der damit verbundenen Erleichterung so überzeugt war von seiner positiven Alternative "Gemeinsames Haus Europa" im Rahmen der KSZE, dass er annahm, die westlichen Akteure würden genauso denken/fühlen. Das kann man als naiv kritisieren. (Ich bekenne mich auch zu dieser Naivität. Bis zur Pariser KSZE-Konferenz im November 1990 hatte ich auch den Eindruck, dass die westlichen Regierungen tatsächlich zu dieser Option "Gemeinsames Haus Europa" bereit waren). Und Gorbatschows Versäumnis, sich Zusagen schriftlich geben zu lassen, ist überhaupt kein Argument dagegen, dass diese Option die bessere gewesen wäre - und nach wie vor ist.

Mit welcher Legitimation können denn die drei westlichen Männer für die Nato ein bindendes Versprechen abgeben? Pacta sunt servanda.

Gewiss. Allerdings handelte es sich bei Baker, Kohl und Genscher ja nicht um irgendwen in der NATO, sondern um die Regierungsmitglieder der NATO-Führungsmacht USA und des gewichtigen Mitgliedes BRD. Es gab damals von den anderen NATO-Mitgliedern keinerlei Widerspruch gegen die von Baker, Kohl und Genscher gemachten Zusagen. Niemand drängte auf eine Ausweitung der NATO gen Osten. Ich bin sicher, die USA und die BRD hätten, wenn sie gewollt hätten, einen offiziellen Konsensbeschluss der NATO zum Verzicht auf eine Ostausdehnung herbeiführen können.

Aber weshalb sollten sich z.B. ein sozialdemokratischer Kanzler und eine grüne Außenministerin an ein möglicherweise vor 31 Jahren gegebenen mündliches Versprechen eines christdemokratischen Kanzlers gebunden fühlen? Und ein französischer Präsident? Das gebe ich unabhängig davon, wie man den Konflikt mit Russland entschärfen kann, zu bedenken.

Es geht nicht darum, ob sich jemand heute im formalen Sinn an eine vor 31 Jahren gegebene politische Zusage gebunden fühlt. Und welche Parteien damals in Bonn und heute in Berlin regieren, ist dabei irrelevant. Es geht darum, ob in Berlin, Washington, Paris, London und anderen Hauptstädten endlich die Einsicht wächst, dass die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland eben nicht erst mit den Gewaltkonflikten in der Ukraine ab 2014 begann, sondern dass die ab der 2. Hälfte der 90er Jahre vollzogene Osterweiterung der NATO und dann auch noch die Absichtserklärung des NATO-Gipfels 2008 zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens eine wesentliche Vorgeschichte dieser Konflikte sind. Wer die fatale Dynamik der Konfrontationseskalation zwischen Moskau und dem Westen endlich beenden und umkehren will, muss diese Vorgeschichte mit berücksichtigen.

Im übrigen glaube ich auch, dass man Russland in eine europäische Friedensordnung einbeziehen muss. Aber dabei ist doch auch zu bedenken, dass die Nato - anders als der Irak in Kuweit oder Russland in der Krim (beides wäre ja völkerrechtlich eine Legitimation für eine internationale Intervention) - nicht die Souveränität eines andern Staates verletzt hat, sondern sie hat - gewiss aus machtpolitischen Gründen - Staaten in ihr Bündnis aufgenommen, die dies wollten.

Und dabei hat die NATO (zumindest mit Blick auf ihren Gipfelbeschluss zur Ukraine im Jahr 2008) die "legitimen Sicherheitsinteressen" Russlands nicht berücksichtigt. Als Pazifist habe ich mich mit diesem im Kalten Krieg geprägten Begriff immer sehr schwer getan, weil mit der Berufung auf "legitime Sicherheitsinteressen" immer auch die Rüstung, Stationierung oder gar der Einsatz von Waffen und Soldaten gemeint waren. Aber wenn eine Seite in einem Konflikt "legitime Sicherheitsinteressen" für sich reklamiert, dann muss sie diese auch der anderen Seite zugestehen. Natürlich hatten die osteuropäischen Staaten das souveräne Recht, Mitglied der NATO zu werden. Bei der Bekräftigung dieses Rechts wird in der öffentlichen Diskussion aber fast immer unterschlagen, dass es nach 1989 zumindest kurzfristig eine Alternative gab (KSZE, kollektives Sicherheitssystem mit Russland, siehe oben). Erst als in Warschau, Prag, Budapest und anderen osteuropäischen Hauptstädten klar wurde, dass die westlichen Regierungen diese Alternative nicht ernsthaft wollten, entstand der Sog zur NATO-Mitgliedschaft.

Mir kommen all diese Gedanken, weil ich auch gerade ein Essay von Charlotte Wiedemann (in der taz vom 15.12.) gelesen habe, die ich sehr schätze. Sie schreibt vom "antirussischen Kurs der Nato", präziser wäre es vermutlich, man würde von einem "Kurs der Nato gegenüber Russland" reden.

Ich schätze Charlotte auch sehr. Vielleicht wäre "Kurs der NATO gegenüber Russland" tatsächlich präziser. Aber wer weiß, vielleicht hat sie ganz bewusst "antirussischer Kurs der NATO" geschrieben (wir müssten sie einfach mal fragen). Ich könnte diese Formulierung auf jeden Fall nachvollziehen.

Zurecht stellt sich doch die Frage, welchen Kurs man einschlagen soll gegenüber Putins Kurs, der darin besteht, die Ukraine - über die recht unverfrorene Annexion der Krim und die anhaltende Schürung eines Krieges im Donbass, der schon Tausende Tote gekostet hat - zu destabilisieren und die EU - im Verein rechter Populisten in Frankreich, Italien und Ungarn - zu spalten. Letzteres mag im übrigen durchaus verständlich und auch legitim sein, wenn man - wie Putin und anders als Jelzin und Gorbatschow - auf eine Blockkonfrontation alten Stils und nicht auf eine europäische Friedensordnung setzt.

Die Krim-Annexion war nicht nur unverfroren, sondern völkerrechtswidrig. Gerade wer die Völkerrechtsverstöße westlicher Staaten in den letzten 30 Jahren völlig zu Recht kritisiert, sollte mit Blick auf die Krim-Annexion keine anderen Maßstäbe anlegen (wie das in Teilen der Linken und der Friedensbewegung leider passiert). Und nichts, was ich zur erklärenden Vorgeschichte dieser Annexion seit der der NATO-Osterweiterung geschrieben habe, soll diese Annexion und auch das Schüren des Konflikts im Donbass in irgendeiner Weise rechtfertigen, verharmlosen oder relativieren. Der Versuch, die EU zu spalten - und das im Verein nicht nur mit rechten Populisten, sondern auch mit rechtsextremen bis neonazistischen Parteien und Organisationen wie z.B. der AFD mag aus einer Blocklogik alten Stils heraus zwar "verständlich" im analytischen Sinne sein, "legitim" sind sie nicht.

Das Problem, das ich auch bei den 15 von mir moderierten Podiumsdiskussionen mit BundestagskandidatInnen aller Parteien, mit Ausnahme der AFD, im Vorfeld der Septemberwahl als sehr bedrückend empfunden habe: die KandidatInnen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen beließen es alle ohne Ausnahmen bei scharfer, weitgehend berechtigter (in einigen Fällen überzogener) Kritik an Putins Außen- und Innenpolitik. Niemand hatte irgendeinen konstruktiven Vorschlag für Schritte, um aus dieser Konfrontationslogik und Eskalation herauszukommen. Auch die VertreterInnen der Linken nicht.

Zu Deiner Frage, welchen Kurs man einschlagen soll gegenüber Putins Kurs:

Dazu siehe bitte meinen Artikel "Russland, die Ukraine und der Westen - Wege aus der Eskalation kurzfristig und auf längere Sicht" .

Herzliche Grüße
Andreas Z.

 

Andreas Zumach. Journalist und Buchautor, Experte für internationale Beziehungen und Konflikte. Von 1988-2020 UNO- und Schweizkorrespondent der taz mit Sitz in Genf und freier Korrespondent für andere Printmedien, Rundfunk-und Fernsehanstalten in Deutschland, Schweiz, Österreich, USA und Großbritannien; zudem tätig als Vortragsreferent, Diskutant und Moderator zu zahlreichen Themen der internationalen Politik, insbesondere:UNO, Menschenrechte, Rüstung und Abrüstung, Kriege, Nahost, Ressourcenkonflikte (Energie, Wasser, Nahrung), Afghanistan… BÜCHER: Reform oder Blockade - welche Zukunft hat die UNO? (2021); Globales Chaos - Machtlose UNO - ist die Weltorganisation überflüssig geworden? (2015), Die kommenden Kriege (2005), Irak -Chronik eines gewollten Krieges (2003); Vereinte Nationen (1995) AUSZEICHNUNGEN: 2009: Göttinger Friedenspreis, 2004: Kant-Weltbürgerpreis, Freiburg, 1997: Goldpreis "Excellenz im Journalismus" des Verbandes der UNO-KorrespondentInnen in New York (UNCA) für DLF-Radiofeature "UNO: Reform oder Kollaps"; geb. 1954 in Köln, nach zweijährigem Zivildienst in den USA 1975-1979 Studium der Sozialarbeit, Volkswirtschaft und Journalismus in Köln; 1979-81 Redakteur bei der 1978 parallel zur taz gegründeten Westberliner Zeitung "Die Neue"; 1981-87 Referent bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, verantwortlich für die Organisation der Bonner Friedensdemonstrationen 1981 ff.; Sprecher des Bonner Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung.

Veröffentlicht am

26. Januar 2022

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