Michael Schmid: “Nicht auszudenken, wenn es eine weitere Eskalation bis hin zu einem alles vernichtenden Atomkrieg geben würde”Von Michael Schmid - Rede bei der Kundgebung am 18.03.2022 in Gammertingen Erneut wird in Europa ein Krieg geführt. Allerdings stimmt die Behauptung nicht, Putin habe "den ersten Krieg gegen die Europäische Friedensordnung" nach 1945 angefangen und "zum ersten Mal in Europa gewaltsam Grenzen verletzt". Denn es war die NATO, die bereits 1999 mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro zum ersten Mal militärische Mittel zur Lösung politischer Konflikte eingesetzt und Grenzen verschoben hat. Das ändert aber nichts daran, dass der vor 3 Wochen von der russischen Führung befohlene Angriffskrieg auf die Ukraine völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen ist. Dieser Krieg ist wie jeder Krieg eine Katastrophe und wir fordern, dass dieser sofort beendet werden muss. Schon jetzt gibt es viele Tote und Verwundete, Millionen Menschen sind geflüchtet. Und selbstverständlich gehört unser tiefes Mitgefühl allen unmittelbar Betroffenen dieses schrecklichen Krieges. Politik und Medien überbieten sich derzeit in bellizistischer Empörung über den Angriff Russlands auf die Ukraine. Darüber wundere ich mich, gelinde gesagt, schon. Denn dieses Ausmaß an Empörung und der hohen Bereitschaft zur Unterstützung einer Kriegspartei gab es bei uns noch bei keinem einzigen Krieg seit 1945. Und Kriege gab es in dieser Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg jede Menge, nämlich mindestens 250 Kriege weltweit. Der einzige kurze kriegsfreie Zeitraum überhaupt waren 26 Tage im September 1945. Seither wurden Tag für Tag Kriege geführt, teilweise weit über 50 pro Jahr. 2020 waren es 29 Kriege. Unzählig viele Millionen Menschen sind in all diesen Kriegen ermordet, verletzt, verstümmelt, traumatisiert worden. Viel Zerstörung, viel Leid! Jeder dieser Kriege ist ein Verbrechen an der Menschheit! Und jedes, wirkliches jedes Opfer ist eines zu viel! Haben uns all diese Kriege und ihre Opfer interessiert und haben wir etwas dagegen unternommen? Ich muss bekennen, dass ich das meiste weltweite Kriegsgeschehen während meines Lebens eher nicht zur Kenntnis genommen oder verdrängt habe. Es gab allerdings Kriege, gegen die ich - natürlich gemeinsam mit anderen Menschen - protestiert habe. Zum Beispiel gegen den US-geführten Angriffskrieg gegen Irak 1991, gegen den Angriffskrieg der NATO auf Serbien, die Kriege gegen Afghanistan, Irak 2003, Libyen oder Syrien etc. Zumeist waren wir eher weniger Menschen, die sich überhaupt gegen diese Kriege gewandt haben. Jetzt beim Ukrainekrieg ist alles ganz anders. Es werden uns stündlich Bilder von betroffenen Menschen ins Haus geliefert. Furchtbar und kaum auszuhalten. Nach etwas über drei Wochen haben wir allerdings bereits weit mehr Bilder leidender Zivilisten gesehen, als in sieben Jahren des immer wieder von Politikredaktionen "vergessenen Jemenkriegs". Dafür, dass es sich bei dem Krieg, der seit 2015 im Jemen herrscht, laut den UN um die "größte humanitäre Krise der Welt" handelt, ist dessen Präsenz in den Medien bei uns sehr gering. Für andere brutale Kriege gilt ähnliches. Im Jemenkrieg bekämpfen sich Konfliktparteien gnadenlos. Auf der einen Seite die aufständischen Huthi, auf der anderen Seite die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition. Deutschland und andere NATO-Mitglieder zählen zu den Unterstützern der Militärintervention von Saudi-Arabien im Jemen. Mit ihrer offensiven Rüstungsexportpolitik an Saudi-Arabien, an die Vereinigten Arabischen Emirate, an Ägypten und weitere kriegführende Staaten leistet die Bundesregierung Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Mord. Wer Waffen in die Welt exportiert, macht sich mitschuldig am Morden mit den Exportwaffen. Zudem gehört Saudi-Arabien zu den Ländern mit den meisten Hinrichtungen weltweit. Nach eigenen Angaben wurden nun an einem einzigen Tag, am 12. März, 81 Menschen exekutiert. Ein barbarischer Rekord. Und wo bleibt hier der empörte Aufschrei? Der russische Angriff auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber nun beherrscht die Kriegslogik das Geschehen. Sie dominiert derzeit auch hierzulande völlig in Politik, Medien und Öffentlichkeit. Und mir wird dabei angst und bange. Denn es drohen enorme Risiken für Europa und für die Welt. Nicht auszudenken, wenn eines der 15 AKWs der Ukraine beschädigt wird. Und nicht auszudenken, wenn es eine weitere Eskalation bis hin zu einem alles vernichtenden Atomkrieg geben würde - eine wahrlich beängstigende Perspektive. Derzeit tauchen sowohl aus der Ukraine als auch aus NATO-Staaten vielfach Forderungen auf, deren Umsetzung einen Weltkrieg und ein nukleares Inferno auszulösen droht. Es geht um die häufig erhobene Forderung, über der Ukraine eine Flugverbotszone einzurichten. Diese auch in Deutschland zu hörende Forderung lautet, russische Kampfjets mit Waffengewalt aus dem Luftraum der Ukraine fernzuhalten. Zum Glück gibt es noch führende Politiker, darunter US-Präsident Joe Biden, die immer wieder warnen, die Errichtung einer Flugverbotszone laufe unmittelbar auf einen Krieg zwischen der NATO und Russland und damit auf einen Dritten Weltkrieg hinaus. Am Mittwoch hat Harald Kujat, ein ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und einstiger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, geschildert, wie eine Flugverbotszone im Kern durchgesetzt werden müsste: "Damit Kampfflugzeuge der Nato nicht abgeschossen werden, müssten zunächst die Luftverteidigungssysteme Russlands ausgeschaltet werden." Dazu wäre es erforderlich, russisches Territorium zu bombardieren. "Selbst wenn dies gelingen sollte, würden Luftkämpfe folgen", beschrieb Kujat: "Die Nato und Russland wären miteinander im Krieg und stünden an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg." Trotzdem verlangt der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, von solchen Warnungen dürfe man sich nicht abschrecken lassen. "Angst ist jetzt der Ratgeber", kritisiert Melnyk und spottet: "Atomkrieg - oh Gott, bloß nichts tun, damit wir nichts riskieren." Der Botschafter erhält Unterstützung aus Teilen der westlichen Eliten, die umstandslos bereit sind, zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele die Welt in den Abgrund zu reißen. Die konservative Neue Zürcher Zeitung kommentierte dies kürzlich entgeistert: "Wahnsinn". Wie hat der große SPD-Politiker Egon Bahr mal treffend festgestellt: "Verstand ohne Gefühl ist unmenschlich; Gefühl ohne Verstand ist Dummheit." Aufgrund der Brutalität des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine gibt es eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Das ist sehr positiv! Allerdings nutzen mit der Nato und der Bundeswehr verbundene Kräfte dies aus, um eine nie gekannte Hochrüstung in einem atemberaubenden Tempo durchzusetzen. Sie tun so, als verkürze diese Steigerung der jährlichen Militäretats auf über zwei Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung das Leid der Menschen in den Kriegszonen. Und sie flankieren die Propaganda für dieses Vorgehen mit einer Diskreditierung der Friedensbewegung. Friedenskräfte werden als naive Gefährder der Freiheit, als Putin-Versteher oder als Ideologen ohne Bezug zur Realität abgetan. Natürlich muss das Geld für die neue Hochrüstung irgendwo herkommen. Vorgestern hat das Hilfswerk "Brot für die Welt" in einer Pressemitteilung seine Bestürzung zum Ausdruck gebracht, dass in der jetzigen Situation nun die Bundesregierung eine Kürzung des Entwicklungsetats angekündigt hat. Und das zu einer Zeit, wo es aufgrund dieses Krieges in der Ukraine eine weiter verschärfte Preisexplosion bei Weizen gibt, die sich drastisch auf die importabhängigen Ernährungssysteme in vielen Ländern des Globalen Südens auswirkt und deshalb mehr finanzielle Unterstützung bräuchte. Aber auch in unserer Gesellschaft wird diese gigantische Aufrüstung enorme soziale Folgen haben. Zumindest Menschen mit geringem Einkommen müssen den Gürtel künftig enger schnallen, denn Hochrüstung heizt die Inflation weiter an und aufgrund ihrer enormen Kosten nötig werdende Leistungskürzungen des Staates beeinträchtigen den Lebensstandard von Einkommensschwachen ebenfalls. Eine weitere Folge des aktuellen Kriegs: Die Umweltbelastung durch eine solche Invasion ist enorm. Dabei schadet bereits ohne Krieg nichts so sehr der Umwelt, der Natur und dem Klima wie das Militär. Und wer redet jetzt noch von der Reduktion der Emissionen? Nachhaltigkeit ist kein Thema mehr, auch weil der Westen alle umweltpolitischen Vorsätze vergisst, um aufzurüsten und um Russland zu sanktionieren. Fracking-Gas aus den USA statt konventionelles russisches Gas. Vom Bericht des Weltklimarats zeigt man sich zwar verbal alarmiert. Aber die Prioritäten sind jetzt anders gesetzt. Klimaschutz und Artenschutz geben keine Schlagzeile mehr her. Der zerstörerische Charakter des auf Wachstum programmierten Systems gerät völlig aus dem Blick. Die Befürchtung ist also begründet, dass unser Planet durch diesen Krieg endgültig nicht mehr zu retten sein wird. Und warum das alles? Dieser Krieg ist offensichtlich mehr als nur ein Territorialkrieg zwischen Russland und der Ukraine. Dies gilt sowohl für seine Entstehungsgeschichte als auch für die sehr vielfältigen Interessen an möglichen Szenarien für eine Beendigung des Krieges. Egon Bahr hat 2013 Gymnasten in einem Gespräch folgende Sätze eingeschärft: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt." Deshalb täten wir gut daran uns zu erinnern, dass wir seit dem Ende der Blockkonfrontation nach 1990 nicht in einer Friedensdekade leben, die nun mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu Ende gegangen ist. Vielmehr leben wir in einer Epoche, die sich zunehmend durch die Ausweitung von Kriegen sehr unterschiedlicher Form auszeichnet. Seit mehr als 20 Jahren haben wir Kriege wie in Tschetschenien und Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und in Syrien. Und nun zum zweiten Mal wieder einen Krieg in Europa. Diese Kriege und ihre Brutalität haben ihre Gründe in einer neuen Gestaltung geopolitischer und geostrategischer Interessen, von denen bis heute nicht klar ist, wie sie ausgehen werden: Wir leben in einer Zeit zunehmender wachsender Rivalität imperialistischer Großmächte. Dazu gehören die USA, Europa, China und eben auch Russland. Wie immer geht es um Einflusssphären, um Rohstoffe, um globale Wertschöpfungen und Lieferketten. Und unter diesen Interessen, machen wir uns nichts vor, leiden Menschen in Afrika, Lateinamerika, China, und auch der Ukraine und Russland am meisten. Wer diese Zusammenhänge ausblendet, wird die Ursachen und die Geschichte dieses Krieges verkennen. Und er wird nicht zu einer Deeskalation der Verhältnisse beitragen können. Denn wir haben es hier nicht mit einem Verteidigungskrieg zu tun, der militärisch gewonnen werden kann. Jede Rede von einem Verteidigungsrecht der Ukraine, so ist zu befürchten, wird zum Gegenteil dessen führen, was damit erhofft wird: nämlich zu einer Ausweitung, Verlängerung und noch weiteren Brutalisierung dieses Krieges. Die Stimmung ist auch hierzulande schon so aufgeheizt. dass wer heute noch auf solche Zusammenhänge hinweist und auf Entspannung, Diplomatie, Annäherung oder Deeskalation setzt, Gefahr läuft, diffamiert und verbal niedergemacht zu werden. Lasst uns trotzdem mit Bertha von Suttner an der Forderung festhalten: "Die Waffen nieder!" Lasst uns eintreten für eine Friedenslogik, die Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien anstrebt. Und die zudem auf zivilen Widerstand und soziale, gewaltfreie Verteidigung setzt. Katrin Warnatzsch: Erklärung Versöhnungsbund: Für Verständigung - Gegen die KriegstreibereiIn diesen Zeiten, in denen sich die Erregungen überschlagen und wir emotional überflutet werden ist es wichtig, an einigen einfachen Wahrheiten festzuhalten: 1. Jeder Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Krieg traumatisiert Täter und Opfer. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass Kriege das Erleben einer oder sogar mehrerer Generationen schmerzlich verändern. 2. Ein Krieg endet immer mit Verhandlungen, mit Verständigung und mit Kompromissen. Daher ist es wichtig, mit allen im Gespräch zu bleiben, auch mit dem Feind, dem "Bruder Wolf" (Franz v. Assisi). Eine Verteufelung des Gegners ist nicht hilfreich. Wir bestehen darauf, dass auch der Gegner ein Mensch ist und ein Mensch bleibt, mit dem Gespräch möglich ist. 3. Widerstand mit Waffen ist Gewalt: Er verlängert und verschlimmert den Krieg und kostet Menschenleben. Die Unterstützung von Dritten durch Waffen verleitet dazu, sich stark zu fühlen, nährt unrealistische Siegesphantasien, erhöht die Gewaltspirale und verhindert die Bereitschaft zum Gespräch und Kompromiss. Nicht um Sieg geht es, sondern um die Rettung möglichst vieler Menschenleben. Deshalb muss eine Situation angestrebt werden, in der alle Konfliktparteien unter Wahrung ihres Gesichts den Krieg beenden können. Vermittlung und Ausgleich von Interessen sind zentral, nicht weitere Aufrüstung. Im Zeitalter der Atomwaffen gibt es zu Verständigung und Ausgleich keine denkbaren Alternativen mehr. Wer eine atomare Macht militärisch besiegen will, provoziert den atomaren Einsatz. 4. Wir stehen auf der Seite aller Menschen, die ohne Waffen für ihre Rechte einstehen. Wir sehen uns daher in Solidarität mit den Gruppen in der Ukraine und in Russland, die dem Kriegstreiben gewaltfrei Widerstand leisten. Was können wir tun, was ist jetzt wichtig? 1. Wir treten jeder Entmenschlichung, jeder Ausgrenzung entgegen und lehnen jedes pauschale Verurteilen ("die Russen") ab. 2. Wir fordern: Keinen Abbruch, sondern Fortführung und Intensivierung zivilgesellschaftlicher Kontakte - sowohl zu Russland als auch zur Ukraine. 3. Wir widersprechen jedem nationalistischen und imperialistischen Denken. Stattdessen halten wir Autonomie, Minderheitenrechte und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für unverzichtbare Bestandteile von Demokratien. 4. Wir wollen bei der Wahrheit bleiben: Die massive Aufrüstung der Bundeswehr ist eine unverantwortliche Geldverschwendung, die wir uns gesellschaftlich weder sozial noch klimapolitisch leisten können und nicht leisten dürfen. 5. Wir halten Sanktionen für eine mögliche Antwort auf staatliche Gewalt und Krieg. Diese sollten aber nicht die Menschen treffen, denen es sowieso schon schlecht geht. 6. Wir fordern: Jeder Mensch, der vor Krieg und Unrecht flieht oder den Kriegsdienst verweigert, soll uns willkommen sein. Der Vorstand des Int. Versöhnungsbund, dt. Zweig, 10.03.2022.
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