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Wolfram Wette: “Diesen Krieg hätte man verhindern können”

Pazifismus und Engagement gegen Aufrüstung haben gerade wenig Konjunktur, bleiben aber wichtig und richtig, meint der Historiker Wolfram Wette. Ein Gespräch über die Friedensbewegung, Kriegsprävention und die Gefahren einer Militarisierung der Welt als Folge des Ukrainekriegs.

Von Oliver Stenzel (Interview)

Herr Wette, in der Friedensbewegung herrscht wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Ratlosigkeit. Ist momentan eine schlechte Zeit für Pazifisten?

Auf den ersten Blick haben wir es mit einem Scheitern des Projekts "Ernstfall Frieden" zu tun, das an Gustav Heinemanns Satz anknüpft: "Der Frieden ist der Ernstfall!" In der Friedensbewegung ist man schockiert und stellt sich die Frage: Haben alle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für ein dauerhaftes Friedensprojekt gearbeitet haben, etwas falsch gemacht?

Haben sie? Oder anders: Was war richtig, was falsch?

Zunächst: Eine moderne Friedensbewegung muss man wohl mit dem Buchenwald-Schwur "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" beginnen lassen. Diese Forderung richtete sich an jene, die in der Vergangenheit Krieg zu verantworten hatten, und das waren die Deutschen selbst. Es war ein Appell an die Bevölkerung zu begreifen, dass wir ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufschlagen müssen.

Die Friedensforderung war also nach innen gerichtet.

Nach innen, es ging um eine Mentalitätsveränderung, weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen. Daran haben nach 1945 Generationen gearbeitet. Es gab Bewegungen von unten, die sich der Remilitarisierung Deutschlands entgegen gestellt haben, es gab aber auch ein großes Lernen in den politischen Eliten, die sich von kriegerischen Überlegungen verabschiedeten und sagten: Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht. Darauf aufbauend, haben wir Jahrzehnte erlebt, in denen das militärische, machtpolitische Denken in die Defensive geraten ist und sich neue Mehrheiten für friedlichere Lösungen gefunden haben. Machtpolitisch geprägte Menschen haben das als "postheroisch" zu verunglimpfen versucht, nach dem Motto: Wer von militärischer Macht nichts versteht, soll gefälligst von der Politik die Finger lassen. Doch eine große Mehrheit hat im Sinne Heinemanns begriffen: Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall. Jetzt wird diese fundamentale Einsicht massiv in Frage gestellt.

Das Friedensprojekt, das stark nach innen gerichtet war, ist nun herausgefordert durch einen Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht. Wie reagiert man darauf?

Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Kriegsschuldfrage zunächst einmal klar: Russland hat, aus welchen Gründen auch immer, das Land überfallen. Aber alle anderen Probleme, die damit zusammenhängen, scheinen aktuell wenig interessant zu sein. Es drängt sich der Eindruck auf, als falle die lange Vorgeschichte von Putins Aggression der offensichtlichen Kriegsschuld Putins zum Opfer. Eine wirkliche Analyse der Kriegsursachen gibt es zurzeit nicht.

Ein Versäumnis in ihren Augen?

Stets ist zu fragen, ob mit jedem Krieg, der beginnt, die Diplomatie versagt hat, oder ob in der Vorgeschichte die Fehler zu suchen sind. Zurzeit ist es unpopulär, solch eine Frage überhaupt zu stellen. Aber ich bin überzeugt: Auch dieser Krieg hätte verhindert werden können. Kriege sind keine übernatürlichen Erscheinungen, keine Schicksale. Kriege sind Menschenwerk, deshalb gilt grundsätzlich: Auch die Kriegsverhinderung ist Menschenwerk und damit der Erhalt des Friedens möglich - eine mehr als wichtige Aufgabe. Nun hört man sagen, Putin hat den Krieg gewollt, ergo ließ er sich nicht verhindern. Aber so ist es eben nicht, Putin hat eine Entwicklung durchgemacht. Die zurückliegenden Jahrzehnte sind dabei von allergrößter Bedeutung, wenn man verstehen will, was jetzt los ist. Zum Beispiel habe ich die Beobachtung gemacht, dass die Rolle der USA nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bildung der neuen Länder, die zuvor zur Sowjetunion gehört hatten, die NATO-Osterweiterung mit ihren verschiedenen Etappen, dass all das fast völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Darauf ist aufmerksam zu machen, ohne gleich ein abschließendes Urteil darüber abzugeben.

Quelle:  KONTEXT:Wochenzeitung - 16.03.2022.

Veröffentlicht am

24. März 2022

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