Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Michael Schmid: “Entsetzt über das Kriegsgetöse hierzulande”

Mit dem Motto "’Die Waffen nieder!’ Friedenslogik statt Kriegslogik" fand am 15. April 2022 in Gammertingen eine weitere Mahnwache zum Ukraine-Krieg statt. Neben einem Redebeitrag von Michael Schmid wurde durch Katrin Warnatzsch ein Text vorgelesen, in dem es um Unterstützung für Verweigerer aus Russland, Belarus und der Ukrainer ging. Mit Schweigeminuten brachten die Anwesenden ihr Mitgefühl und ihre Solidarität für die vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck. Bernd Geisler gestaltete den musikalischen Rahmen. Ein Text von Nirit Sommerfeld bildete den Abschluss. Veranstalter waren "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V." und "Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Gammertingen". Mahnwachen werden vorläufig wöchentlich jeden Freitag in Gammertingen stattfinden. 

Von Michael Schmid - Redebeitrag

Wir verstehen diese Mahnwache heute auch als Beitrag zu den Ostermarsch-Aktivitäten. Damit stehen wir in einer sehr langen Tradition. Den ersten Ostermarsch in Deutschland gab es 1960. Nachdem es in den 1970er Jahren eine Pause gab, wurde die Ostermarsch-Tradition ab 1980 wieder aufgegriffen und bis heute fortgesetzt. Und so finden vom 14. bis 18. April an zahlreichen Orten Ostermärsche und andere Aktivitäten statt. Sie sind eine gute Gelegenheit, den von fast allen politisch Verantwortlichen vertretenen Positionen und bereits gefassten Beschlüssen zum Krieg in der Ukraine und zur gigantischen Aufrüstung Deutschlands öffentlich zu widersprechen und Alternativen aufzuzeigen.

Daran gab es jetzt schon im Vorfeld heftige Kritik. So hat beispielsweise der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Demonstranten:innen kritisiert, die rund um die Ostertage auf die Straße gehen und für den Pazifismus eintreten wollen. "Wenn Ostermarschierer jetzt Abrüstung fordern und in Interviews vorschlagen, die Ukraine ‘gewaltfrei zu unterstützen’, spucken sie den Verteidigern Kiews und Charkiws ins Gesicht", schreibt der Außenpolitiker in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung DIE ZEIT. "Sie traumatisieren die zu uns Geflüchteten ein zweites Mal, denn sie schützen die Mörder und Vergewaltiger von Butscha, Irpin und Mariupol." Er fährt fort: "Die Ostermarschierer sind die fünfte Kolonne Wladimir Putins, politisch und militärisch."

Lambsdorff stellt die Ostermärsche sogar als Gefahr für die Sicherheit Deutschlands und Europas dar. Wladimir Putin sehe sich im Krieg mit dem freien Westen. "Putin will den amerikanischen Nuklearschirm über Westeuropa durch seinen eigenen ersetzen", schreibt er. "In dieser Lage schlagen die Ostermarschierer vor, den Weg der Ukraine zu gehen und den Schutz durch Atomwaffen aufzugeben. Nichts wünscht sich Wladimir Putin dringender."

Von solchen diffamierenden Äußerungen sollten wir uns allerdings nicht irre machen lassen. Auch den Ostermärschen in den 1960er Jahren wurde entgegengehalten, sie seien kommunistisch unterwandert und die fünfte Kolonne Moskaus. Neu sind solche Diffamierungen also wahrlich nicht.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Dieser Krieg ist wie jeder Krieg ein Verbrechen! Auch wenn angesichts des damit verursachten großen Leids ein schneller Waffenstillstand sehr zu wünschen wäre, so sieht es derzeit nicht danach aus. Und Allen, die angesichts der verheerenden Folgen dieses Krieges zur Mäßigung aufrufen, bläst der mediale Wind eiskalt entgegen. Unverblümt ertönt der Ruf nach einer Kriegsbeteiligung Deutschlands und der NATO.

Um nur wenige Beispiele zu nennen: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock spricht sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus. "Die Ukraine braucht weiteres militärisches Material - vor allen Dingen auch schwere Waffen", sagte die Grünen-Politikerin am Montag am Rande eines EU-Außenministertreffens in Luxemburg. CDU-Chef Friedrich Merz fordert die Bundesregierung auf, der Ukraine alle von ihr gewünschten Waffentypen zu liefern. Und als ich am Montag bei SWR1 Leute der früheren grünen Spitzenpolitikerin Marielouise Beck zugehört habe, ist es mir, ehrlich gesagt, kalt den Rücken runter gelaufen. Sie fordert dort unwidersprochen durch den Moderator, nachdem sie Putin genügend dämonisiert hat, den Sieg über Putins Russland, wofür es wichtig sei, der Ukraine nicht die Waffen zu liefern, die wir liefern wollten, sondern den Ukrainern endlich militärisch das zu liefern, von dem sie sagen, dass sie es benötigen. Außerdem sei Putin ein Völkermörder und sie könne sich nicht vorstellen, dass "frei gewählte" Politiker wie Biden, Scholz, Macron mit einem Völkermörder an einem Tisch sitzen und mit ihm über eine Nachkriegsordnung verhandeln.

Mit einer ähnlichen Haltung hat der EU-Außenminister Borrell die Ukraine besucht - ich zitiere den früheren SPD-Politiker Albrecht Müller - und war dabei "nicht auf dem Weg, Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen anzustoßen. Das wäre sein Job. Aber er regt an, sich richtig für die Schlacht zu wappnen. Auch Putin plädiert für die Entscheidung in der Schlacht. Das Geringste, was wir für Sie tun können, meinte Borrell an den ukrainischen Präsidenten gewandt und im Beisein der EU-Kommissionspräsidentin, ist, Waffen zu liefern. - Sind wir denn alle verrückt geworden. Wie kann man im 21. Jahrhundert auf eine militärische Schlacht setzen?" ( Albrecht Müller )

Wer Waffen in die Ukraine liefert, wird das unermessliche Leid der Menschen nicht stoppen, den Krieg nicht beenden und die zugrunde liegenden Konflikte nicht befrieden. Dabei könnte die Lieferung schwerer Waffen von der Staatsführung Russlands als Kriegsbeteiligung der NATO begriffen werden. Und ein direktes militärisches Eingreifen der NATO in diesen Krieg würde die Eskalationsspirale noch weiter nach oben treiben. Die Gefahr eines Atomkriegs mit verheerenden Folgen würde drohen.

Ehrlich gesagt, bin ich seit Beginn des russischen Angriffskrieges insgesamt entsetzt über das Kriegsgetöse auch hierzulande. Und es entsetzt mich besonders, wie sich gerade auch Bündnis 90/Die Grünen an die Spitze derjenigen stellen, die einen scharfen Konfrontationskurs vorantreiben und befeuern und schwere Waffen in die Ukraine liefern wollen. Ich war ja in meinem langen Leben überhaupt nur in einer einzige Partei Mitglied, nämlich bei den Grünen. Dort bin ich 1982 gerade deshalb eingetreten, weil dort soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Frieden und Ökologie als Ziele verfolgt wurden und eine der tragenden Säulen die Gewaltfreiheit war und Abrüstung, Entmilitarisierung sowie Soziale Verteidigung programmatisch festgeschrieben wurden. Für solche Ziele habe ich mich während meiner 10-jährigen Mitgliedschaft sehr aktiv eingesetzt - u.a. als Kandidat bei Landtags- und Bundestagswahlen und als Kreisvorsitzender. 1992 habe ich diese Partei wieder verlassen, weil immer deutlicher wurde, dass die Entwicklung der Grünen sich weg bewegte von einem Verständnis, nach dem die außerparlamentarische Bewegung das Standbein und die Arbeit in Parlamenten das Spielbein sein sollte. Der Kurs lief ganz stark in Richtung Parlamentarismus. Weil ich dadurch die Gefahr sah, dass dieser Weg in eine starke Anpassung an die gegebenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse münden würde, verließ ich die Partei und engagiere mich seitdem wieder ausschließlich in sozialen Bewegungen. Das alles ist nun schon sehr lange her. Aber es entsetzt mich immer noch, wohin sich meine frühere Partei entwickelt hat. Dabei hätte ich lieber überhaupt nicht recht gehabt mit meiner Einschätzung mit der Anpassung und deren Folgen.

Ich möchte nachfolgend aus einem Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs des Hamburger Abendblatts Matthias Iken von vorgestern zitieren.

Es muss nachdenklich stimmen, wenn der ehemalige militärpolitische Berater von Altkanzlerin Angela Merkel, Brigadegeneral a. D. Erich Vad, sich nun warnend zu Wort meldet. Er bezeichnet den Export von schweren Waffen an die Ukraine als potenziellen "Weg in den Dritten Weltkrieg". "Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik - aus guter gesinnungsethischer Absicht", sagt er. "Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert." Vad klingt wie die Grünen von gestern - dafür klingen die Grünen heute wie Militärs.

Die Grünen sind beileibe nicht allein - in Medien, sozialen Netzwerken, an Stammtischen oder in Talkshows drängt sich der Eindruck auf, als gehe es im Ukraine-Krieg um eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Natürlich ist die Ukraine das Opfer und Russland der Aggressor. Aber nicht jeder Russe ist böse und nicht jeder Ukrainer ein Held. Wir empören uns über einen 15-jährigen russischen Bengel, der bei einer Siegerehrung nach einem Kartrennen den Hitlergruß zeigt - aber die Hakenkreuze des ukrainischen Asow-Regiments interessieren kaum. Dabei war es genau die rechtsextreme Kampfgruppe, die den Russen gestern einen Chemieangriff vorwarf. Bei aller notwendigen Solidarität mit der Ukraine darf nicht aus dem Blick geraten: Jeder Krieg ist monströs und mörderisch. "Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan - so neu ist das alles nicht", sagt Vad. "Damit verglichen, fällt Putin nicht aus dem Rahmen." Das sagt ein ehemaliger Brigadegeneral. Er hat recht: Der völkerrechtswidrige Angriff der USA auf den Irak 2003 kostete Zehntausende Zivilisten (eher Hunderttausende) das Leben. Man sah sie nur nicht. Bei der Befreiung Kuwaits 1991 begruben US-Bulldozer Tausende von irakischen Soldaten bei lebendigem Leib im Schützengraben. Davon erfuhr die Welt nichts, wohl aber von irakischen Soldaten, die in Kuwait 1990 Frühgeborene aus ihren Brutkästen rissen. Nur, das Letztere war frei erfunden. Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit.

Wir müssen uns hüten, dass die Vernunft nun ihr zweites Opfer wird. Natürlich ist verständlich, dass die Ukraine Deutschland moralisch unter Druck setzt. Aber unser Interesse ist keine Eskalation des Krieges, sondern ein Weg zum Frieden. Damit steht Deutschland nicht allein: Es geht um die Zukunft Europas, es geht wegen der Weizenernte um das Überleben von Millionen Menschen in Afrika, es geht um den Weltfrieden. Wege nach einer Konfliktlösung sind kein Appeasement. Sondern bitter nötig. ( Matthias Iken )

Wir setzen uns ein für Wege zu einer Konfliktlösung, für eine Friedenslogik, die Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien anstrebt. Und die zudem auf zivilen Widerstand und soziale, gewaltfreie Verteidigung setzt. Auch wenn wir derzeit nur eine kleine Minderheit damit darstellen, fordern wir mit Bertha von Suttner: "Die Waffen nieder!"

(Musik von Bernd Geisler)

Ich möchte nun zu einem stillen Gedenken einladen. Damit soll allen vom Ukraine-Krieg betroffenen Menschen gedacht und unsere Solidarität ausgedrückt werden. Europa zeigt dieser Tage eindrucksvoll, dass es in der Lage ist, große Fluchtbewegungen zu bewältigen. Geflüchtete aus der Ukraine kommen vielfach die ersten Tage privat unter, erhalten nach der Registrierung direkt einen Status, dürfen sich frei bewegen und arbeiten. Es stellt sich die Frage: Warum nicht immer so?

Vielen anderen Geflüchteten, die ebenfalls aus Kriegs- und Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen und ebenso schreckliche Dinge erlebt haben, ist das leider nicht vergönnt. Sie dürfen - vorausgesetzt, sie kommen überhaupt noch hierher - die erste Zeit in Deutschland nicht aus der Erstaufnahmeeinrichtung ausziehen, erhalten je nach Nationalität keinen Zugang zu Integrationskursen, werden mit Wohnsitzauflagen und Arbeitsverboten gegängelt. Viele von ihnen müssen lange auf Entscheidungen über ihren Asylantrag warten oder müssen sogar eine Abschiebung fürchten.

Und vergessen wollen wir auch diejenigen nicht, die an den europäischen Außengrenzen einen verzweifelten Überlebenskampf führen, weil Europa seine Grenzen für sie nahezu völlig dicht gemacht hat. Und auch diejenigen dürfen wir nicht vergessen, die im Mittelmeer ertrinken. Erst vor wenigen Tagen war es wieder eine Randnotiz in den Medien: Fast 100 Menschen sind im Mittelmeer bei einem Bootsunglück ertrunken, auf der Flucht nach Europa.

Jetzt wollen wir allen vom Krieg oder anderen Fluchtursachen betroffenen Menschen still gedenken.

(Stille, um Mitgefühl und Solidarität gegenüber vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck zu bringen)

Katrin Warnatzsch: "Weg mit dem Gewehr. Dem Kriegsdienst zu entkommen ist in Russland, Belarus und der Ukraine kaum möglich. Die Verweigerer brauchen Hilfe" von Matthias Drobinski in:  Publik-Forum vom 14.04.2022 .

(Musik Bernd Geisler)

Michael Schmid:

Im Oktober 2019 hatten wir die deutsch-israelische Jüdin Nirit Sommerfeld als Referentin bei unserer Tagung "We shall overcome!". Es war ein sehr eindrucksvoller Vortrag von Nirit. Wir hatten allerdings in der Vorbereitung einigen zusätzlichen Aufwand, weil wir verhindern wollten, dass wir aufgrund eines möglicherweise erhobenen "Antisemitsmus"-Vorwurfs plötzlich ohne Tagungsräumlichkeiten dastehen würden. Denn Nirit ist es leider öfter passiert, dass ihr als jüdischer Referentin wegen ihrer Kritik an der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik durch deutsche Regionalpolitiker eine Veranstaltung wegen des Verdachts auf Antisemitismus verboten wurde! Ein absurder Vorwurf! Nun ein kleiner Text von Nirit, den wir heute Morgen von ihr erhalten haben.

Katrin Warnatzsch:

Was wenn Krieg ist
und keiner geht hin (frei nach Bertolt Brecht)

Was wenn es jetzt schon zu spät
was wenn alles Vertrauen geschwunden
was wenn die letzte Chance verspielt
was wenn Angst und Schmerz regiert
was wenn Flucht uns treibt
wenn Verletzung um Verletzung
ins Gedächtnis sich schreibt
von Generationen beerbt
was wenn Hoffnungslosigkeit
Sinnlosigkeit Verzweiflung Hass
Zukunft verschlingt?

Einen Baum pflanzen.
Ein Lied singen.
Eine Berührung schenken, ein Lächeln.
Auch wenn alles zu spät

Frohe Ostern
Ramadan Kareem
Chag Pessach sameach

Herzlichst,

Nirit ( nirit.de )

(gemeinsames Schlusslied mit Bernd Geisler: We shall overcome)


Kleine Auswahl von Weblinks zu zivilem Widerstand in der Ukraine:

Bundesweit: Ostermärsche und -aktionen 2022

Auf der Website von Netzwerk Friedenskooperative finden sich:

Auf der Lebenshaus-Website finden sich:

Veröffentlicht am

16. April 2022

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