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Regelbasierte Welt(un)ordnung

Von Georg Rammer

Der ukrainische Präsident Selenskyj will die Krim und das von Russland besetzte Territorium zurückerobern. Der Kampf werde als eine der brutalsten Schlachten in die Militärgeschichte Europas eingehen. Selenskyj gab Deutschland noch eine Chance, seine von Außenministerin Baerbock beklagte Kriegsmüdigkeit zu überwinden. Kanzler Scholz muss liefern: 100 Haubitzen, 300 Raketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen sollen als Wiedergutmachung der Zögerlichkeit gelten. Übrigens: Die deutschen Medien haben – von Ausnahmen wie den NachDenkSeiten abgesehen – "vergessen", über den Rücktritt der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Lyudmila Denisova zu berichten, die in Brüssel, bei der UN und diversen Sendern entsetzliche russische Gräueltaten geschildert hatte. Sie hatte sie frei erfunden, um ihrem Land zu Waffenlieferungen zu verhelfen.

Immer drängender stellt sich die Frage, warum der Westen dem Krieg in der Ukraine bis an die Grenzen eines atomaren Weltbrandes bedingungslos Vorschub leistet, statt auf Waffenstillstand und Verhandlungen zu drängen, etwa auf der Basis der Vorschläge der italienischen Regierung (s. heise.de, 6.6.22). Derzeit müssen wir zuschauen, wie der Krieg immer neue Krisen und Verbrechen in der Welt erzeugt, nicht nur in der Ukraine. Menschenrechtsorganisationen informieren über Katastrophen und warnen vor den Folgen für die Betroffenen, täglich treffen alarmierende Meldungen ein: In Lateinamerika droht eine Hungerkrise, mahnt die Leiterin des Welternährungsprogramms. Die Hilfsorganisation Oxfam meldet, dass sich die Zahl der vom Hungertod bedrohten Menschen in den Ländern Kenia, Somalia und Äthiopien in wenigen Monaten von zehn auf 23 Millionen mehr als verdoppelt hat. Laut UNICEF, dem Kinderhilfswerk der UN, sind am Horn von Afrika zehn Millionen Kinder durch die herrschende Dürre am Hungern; zehntausende Kinder sind vom Tod bedroht. Ohne sofortige Hilfe werden die Todeszahlen explosionsartig steigen, sagt Rania Dagash, stellvertretende UNICEF-Direktorin für die Region. Auch in Nigeria, Jemen, Südsudan, Somalia, DR Kongo, aber auch in Haiti, Afghanistan und Syrien gilt die höchste Hunger-Warnstufe. Wir stellen fest: Beim Sterben von Millionen bleibt die Aufmerksamkeit des Westens bescheiden, von einem Kampf gegen die Ursachen ganz zu schweigen.

Mit lebensbedrohlichen sozialen Problemen haben ferner Nigeria, Burkina Faso und Myanmar zu kämpfen. Das United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) analysiert detailliert die verzweifelte Lage für 2020/21 in 19 Ländern; zusätzlich zu den bereits genannten auch in Palästina, Jemen, Libanon, Irak und Venezuela. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, wird wegen ihrer vorsichtigen Schilderung der Situation in der chinesischen Provinz Xinjiang in den Medien heftig kritisiert, so dass sie auf eine zweite Amtszeit verzichtet; ihren Bericht über die Lage von weltweit 1,2 Milliarden von Armut und Ernährungsunsicherheit Betroffenen wie auch ihr Resümee finden wir dagegen nur in der Tageszeitung junge Welt: "Wir leben in einer Welt erschütternder Ungleichheit" (jW, 14.6.). So sieht also der "Fortschritt für eine gerechte Welt" aus, wie ihn die Regierungen der mächtigen G7 in Elmau verhandeln.

Keineswegs überraschend sei die Zahl von Geflüchteten zum ersten Mal über 100 Millionen gestiegen, gibt die UN bekannt. Hauptursache seien Kriege, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Millionen haben bereits die Ukraine verlassen, übrigens nicht wenige von ihnen wegen der desolaten Lage im Land auch schon vor dem Krieg. Bei der Aufnahme und Behandlung der Flüchtlinge stellen wir eklatante Unterschiede fest, die politische und wirtschaftliche Ursachen haben, aber auch als staatlicher Rassismus zu bezeichnen sind und Menschenrechte grob missachten. Während die Menschen aus der Ukraine willkommen geheißen werden (auch als billige Arbeitskräfte) und Unterstützung bei der Integration bekommen, klagen Geflüchtete aus Asien und Afrika, die in Internierungslagern zusammengepfercht werden: "Sie behandeln uns wie Tiere." Ihre Behandlung ist unmenschlich, die Pushbacks illegal – die EU kümmert es wenig. Nicht einmal Hilfsorganisationen dürfen polnische Lager besuchen. Das Sterben in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze löst bei EU-Bürokraten keine menschlichen Regungen aus, genauso wenig wie Tausende Tote im Mittelmeer. Welche Werte des Westens werden hier sichtbar?

Menschenrechte betrachtet die EU oder die deutsche Bundesregierung als zu vernachlässigende Größe bei ihren wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Für deutschen Strom soll Steinkohle aus den riesigen Tagebauminen des Schweizer Konzerns Glencore in Kolumbien besorgt werden. Glencore, war da nicht was? Vorwürfe und Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen, Steuermanipulation und Korruption gibt es zuhauf. Die Koordinatorin der Menschenrechtsprogramme der Region warnt vor den Folgen, die dort ein deutsches Engagement für Rechte und Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung wie für die Umwelt hätte, denn Vertreibung und tödliche Umweltzerstörung gigantischen Ausmaßes werden von den Profiteuren billigend in Kauf genommen. Die "Initiative Lieferkettengesetz", ein Zusammenschluss von 130 zivilgesellschaftlichen Organisationen warnt: "Ob Gas aus Katar, Kohle aus Kolumbien oder Öl aus Uganda: Der Krieg in der Ukraine führt zu einem regelrechten Ansturm auf Rohstoffe aus anderen Weltregionen und bedroht dort Menschenrechte und Umwelt." Und: "Indigene in Kolumbien dürfen nicht zu den Leidtragenden der Sanktionen gegen Putin werden." Wann enteignet der Westen diese Oligarchen, wer bestraft die politisch Verantwortlichen?

Indien, das eigentlich Getreide exportiert, beklagt einen Rückgang der Ernte um 40 Prozent. Allerdings weist medico international darauf hin, dass dieser "Hunger mit System" tiefere Ursachen hat als den Ukraine-Krieg. Neben dem massiven Klimawandel haben westlich dominierte internationale Organisationen und Spekulanten für einen Höchststand der Lebensmittelpreise gesorgt. Freihandel, Öffnung der Märkte für Billigimporte aus der EU und die "Economic Partnership Agreement" (EPA) hatten dafür gesorgt, dass afrikanische Länder die eigene Bevölkerung nicht mehr ausreichend versorgen können. Die Interessen der Konzerne und Investoren gelten allemal mehr als Menschenleben und -rechte. Die Folgen sind Hunger, Schulden, Gewalt, Flucht, Zerstörung der Infrastruktur, systematische Verletzung der Rechte von Frauen und Kindern: "Solche imperialistischen und (neo-)kolonialistischen Politiken produzieren nicht erst seit dem Krieg am laufenden Band Hunger und Gewalt. Humanitäre Notlagen sind die normalen und zu erwartenden Ergebnisse dieser Prozesse", schreibt Radwa Khaled-Ibrahim für medico. Zuständig für die Bestrafung der Täter in den Machteliten wäre der Internationale Strafgerichtshof.

Parallel zu dieser Politik melden die Unternehmensberater der Boston Consulting Group ein Rekordhoch der globalen Vermögen. Finanz- und Sachanlagen sind danach um über zehn Prozent gestiegen. Auch deutsche Oligarchen freuen sich über einen bedeutenden Anstieg ihres Privatvermögens. Besonders profitabel sei dabei der Wohnungsmarkt, ergänzt die junge Welt. Der Chef des Waffenkonzerns Rheinmetall, Papperger, gibt einen kräftigen Wachstumsschub von 10 bis 15 Prozent bekannt: "Nun rechnen wir uns gute Chancen aus, in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage in zahlreichen Ländern wertvolle Beiträge zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit leisten zu können." Mit dem Investitionspaket von gut 100 Milliarden Euro und dem "Gamechanger für die Gefechtsfelder der Zukunft" (Eigenwerbung), dem KF51 Panther, wird das gewiss gelingen. Aber wenn eine Diskussion über das Abschöpfen von krisenbedingten "Übergewinnen" aufkommt, engagiert sich Bundesminister Lindner sofort für die Profiteure und warnt, dass man dann den Geist aus der Flasche nicht mehr zurückdrängen könnte. Müsste das nicht das Ziel einer an Menschen orientierten Politik sein?

Der neue Sound der Zeitenwende: Die Reichen werden obszön reich, die Großmächte rüsten massiv auf, und Armut und Hunger nehmen ebenso massiv zu. Alle Nuklearmächte stocken ihre Arsenale auf, um die Welt schneller und effektiver zerstören zu können. Bundespräsident Steinmeier betätigt sich als Lobbyist für diese Interessen in Singapur und Indonesien (Rohstoffe!) und mahnt eine enge Kooperation und eine regelbasierte internationale Ordnung für sichere Investitionen an. Man sollte ihn daran erinnern, dass genau diese regelbasierte Ordnung die Katastrophen verursacht – sie werden von den Interessen reicher Investoren diktiert. Erinnert werden muss er offenbar auch daran, dass wir uns alle gemeinsam auf Menschenrechte geeinigt haben, übrigens auch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle, dass es ferner ein Völkerrecht und eine UN-Charta gibt, die nicht nur den russischen, sondern alle Kriege verbietet, auch die der Nato und des Wertewestens.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 13/2022. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

11. Juli 2022

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