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Gewaltfreie Blockadeaktion Großengstingen 1982: Lou Marin

Meine Erinnerung an die und Aufarbeitung der Blockade in Großengstingen 1982

Vom 1. bis 8. August 1982 fand bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb unter dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen" eine einwöchige Blockadeaktion des Atomwaffenlagers statt. Rund 750 Menschen beteiligten sich an dieser gewaltfreien Aktion. Für viele Beteiligte hatte dies auch juristische Folgen.

Seit dieser gewaltfreien Aktion sind nun 40 Jahre vergangen. Wir haben Menschen eingeladen, die damals bei dieser Aktion dabei waren, sich nach dieser langen Zeit zurück zu erinnern.

Hier findet sich eine Übersicht über alle Beiträge: Einwöchige gewaltfreie Sitzblockade vor dem Atomwaffenlager bei Großengstingen Sommer 1982 - Beteiligte erinnern sich

Nachfolgend ein Interview mit Lou Marin.

  • Wie blickst Du heute mit dem Abstand von vier Jahrzehnten auf diese Aktion zurück?

1982 hatte sich gerade die Organisation "Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen" (FöGA) um die Zeitung Graswurzelrevolution herum konsolidiert und war fähig geworden, ihre örtlichen Gruppen zur Beteiligung an direkten gewaltfreien Aktionen aufzurufen. Das war in der Anti-Atom-Bewegung 1980 mit den Gorleben-Freundeskreisen und den überregionalen Aufrufen zur Beteiligung am Hüttendorf Bohrloch 1004, sowie dem gewaltfreien Räumungskonzept, das dort zur Anwendung kam, gut gelungen. Die FöGA entwickelte sich, neue Gruppen wurden gegründet.

Es war die Zeit der so genannten "Ökopax-Bewegung", d.h. des Zusammengehens von Anti-AKW-Bewegung und neuer Friedensbewegung der 1980er-Jahre. Gleichzeitig sollte die "friedliche" wie die "militärische Nutzung der Atomtechnologie" durch direkte gewaltfreie Aktionen angegriffen werden.

Die FöGA hatte das Ziel, die beginnende neue Friedensbewegung, die aus ihrer Sicht noch eine Anti-Atomwaffen-Bewegung war, in eine antimilitaristische Bewegung zu "radikalisieren". Gleichzeitig sollte einem entstehenden inneren Nationalismus innerhalb der Friedensbewegung entgegengesteuert werden. Der rechte CSU-Stratege und Militärforscher Alfred Mechtersheimer sah die BRD auf nationalistische Weise als "Opfer" der Westmächte im Kalten Krieg, dem die NATO-Mittelstreckenraketen aufgezwungen wurden. Damit verbunden war die rechte Forderung nach einem "Friedensvertrag". Rechte deutsche Politiker wie F-J. Strauß forderten ihrerseits die deutsche Atombombe.

In der entstehenden unabhängigen Friedensbewegung und ihrem Bündnis "Bufo" wurde der Austritt aus der NATO propagiert und von uns als auch nur negativer Nationalismus kritisiert. Gleichzeitig gab es eine blockübergreifende europäische Friedensbewegung, ausgehend von END (European Nuclear Disarmament), die den Status der Neutralität propagierte. Theoretisch wurde bei uns, in der gewaltfreien Aktionsgruppe GARN ("Gewaltfreie Aktion Rhein-Neckar"), die Mitglied der FöGA war, der Analyseansatz des "Exterminismus" des britischen Libertären Edward P. Thompson diskutiert, das Hauptthema des Bundestreffens der FöGA im Jahre 1983 wurde. Die dazu geführte Diskussion ist gut zusammengefasst in dem Aufsatz

S. Münster: "Exterminismus und Revolution", in: Wege des Ungehorsams, Jahrbuch für gewaltfreie und libertäre Aktion, Politik und Kultur, Verlag Weber, Zucht & Co., Kassel 1984, S. 19-48.

An die Fahrt aufnehmende Friedensbewegung und diese Diskussionen erinnere ich mich gerne zurück. Sie waren Ansätze zur dann sich entwickelnden breiten blockübergreifenden Friedensbewegung, die hin zum Mauerfall 1989 und dann zur Blockauflösung 1990 führten. Die vorhandenen rechten und nationalistischen Tendenzen innerhalb der Friedensbewegung konnten aus meiner Sicht erfolgreich zurückgedrängt werden. Dass heute auf der Alb keine Atomwaffen mehr stationiert sind und nur noch ein oder zwei Standorte der Bundeswehr dort sind, sehe ich als konkreten Erfolg dieser Aktionskultur, der jetzt jedoch durch den gegenwärtigen "Zeitenwende"-Militarismus bedroht wird.

  • Wie ist es zu Deiner Teilnahme überhaupt gekommen und was waren Deine Gründe?

1980 war ich nach meiner Kriegsdienstverweigerung und nach meinem Zivildienst neu in die Unistadt Heidelberg gekommen. Ich war bereits im Milieu der gewaltfreien Aktionsgruppen aktiv und nahm in Heidelberg Kontakt zum damaligen "AK Philippsburg" (Arbeitskreis Philippsburg) auf, der 1980 bereits am "Internationalen Marsch für Entmilitarisierung", organisiert von der War Resisters’ International, teilgenommen hatte. Der AK Philippsburg arbeitete vor Ort in direkten gewaltfreien Aktionen im AKW-Standort Philippsburg zwischen Heidelberg und Karlsruhe, das 2021 abgeschaltet und dessen Kühlturm gesprengt wurde. Ende 1981/Anfang 1982 hatte sich die Gruppe umbenannt in "Gewaltfreie Aktionsgruppe Rhein-Neckar" und war der FöGA beigetreten. Im Mai 1982 beteiligten wir uns an den direkten gewaltfreien Aktionen gegen die Waffenausstellung IDEE in Hannover:

https://www.kulturzentrum-faust.de/files/idee_extrablatt_3.pdf

Direkt danach erfuhren wir über die FöGA (es gab damals einen internen FöGA-Rundbrief) von den Plänen zu einer einwöchigen Sommerblockade in Großengstingen auf der Schwäbischen Alb. Wir erachteten die Blockade als Möglichkeit, konkret Sand ins Getriebe der militärischen Abläufe zu streuen, weil wir den alltäglichen Betrieb eines Raketenstandorts eine gesamte Woche lang stören wollten. Das Vorhaben wurde wahrgenommen als Versuch, von rein symbolischen Aktionen zu konkret, d.h. materiell störenden Aktionen überzugehen. Mir persönlich war damals wichtig, dass sich die Blockade nicht gegen eine US-Kaserne oder einen US-Standort richtete, die damals oft Ziele von Aktionen waren, die aber dem Mythos einer nationalistischen Anti-Atom-Bewegung hätten dienlich sein können, sondern gegen die Lance-Raketen innerhalb einer Bundeswehrkaserne, wodurch auch die eigenen, nationalen Ambitionen für eine Integration der BRD in die Atompolitik angegriffen werden konnten. Die Perspektive, eine direkte gewaltfreie Aktion gegen einen Bundeswehr-Standort machen zu können, war für mich der wichtigste politische Motivationsgrund für meine Teilnahme an der einwöchigen Dauerblockade.

  • Erinnerst du dich an die Vorbereitung und den Verlauf der Aktion?

Wir haben uns damals als Gruppe einmal wöchentlich getroffen. Zusätzlich gab es gemeinsame Gruppenaktivitäten, d.h. Veranstaltungen zu antimilitaristischen Themen oder auch Gruppenausflüge/Wandertage oder Gruppenwochenenden. Die persönlichen Freundschaften und der Austausch der Gruppenmitglieder untereinander war sehr intensiv. Auf die Blockade bereiteten wir uns mit gewaltfreien Aktionstrainings vor; in unserer Gruppe war ein seit einiger Zeit in den Trainingskollektiven für gewaltfreie Aktion tätiger "Trainer". Die Aktion der Blockadewoche ging aus meiner Erinnerung ohne gravierende Probleme über die Bühne. An den Blockadestellen gab es keine überflüssigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die immer wieder Blockierende - zwar mit staatlicher Gewalt, aber ohne Verletzungen - wegtrug. Auf den Camps und mit den anderen Aktionsgruppen wurde das Bezugsgruppensystem mit Sprecher*innenrat sowie Konsensentscheid praktiziert, was dann als Vorbild für spätere Aktionscamps dienen sollte. Weil es vom eigentlichen, vorher schon feststehenden Konzept keine wirklichen Abweichungen gab, war die Entscheidungsfindung immer problemlos geblieben.

Ich kann mich an zwei kritische Diskussionen zum Ablaufkonzept erinnern, die auf unserem Camp und in den Gruppen diskutiert wurden, ohne unmittelbar zu einer alternativen Aktion zu führen. Das eine war eine Kritik an der rein personellen Ausrichtung der Blockade. So wurde darüber diskutiert, ob nicht auch Materialblockaden durchgeführt werden könnten, anstatt immer die Person und den eigenen Körper in den Mittelpunkt der Aktion zu stellen. Die zweite Kritik bestand in der absoluten Ruhe, mittels derer die Aktion durchgeführt wurde. Dieses beeindruckte zwar dann die bürgerliche Presse und wurde im Spiegel-Film zur Aktion sehr gelobt. Sicher hat dies zum weiteren Zulauf von Jugendlichen zur gewaltfreien Aktionsszene geführt. Jedoch wurde dies bei uns und in der FöGA auch schon als Schematisierung der gewaltfreien Aktion diskutiert, dahingehend, dass die gewaltfreie Aktion so von einer unglaublichen Vielfalt von Aktionsmöglichkeiten wie Boykott, Blockade, Steuerverweigerung, KDV, Sabotage usw. usf. auf die Blockade als quasi "einzige" Form der gewaltfreien Aktion reduziert und damit schematisiert wurde.

Diese Kritik wurde schon auf dem Camp mit einer Kritik an der totalen Offenheit der Polizei gegenüber verbunden, die sich ohne Problem auf dem Camp bewegen und im Infozelt über die Blockadepläne informieren konnte. Diese "Offenheit" war dann später innerhalb der gewaltfreien Aktionsgruppen Anlass zur Kritik am Umgang mit der Polizei. Dazu gehörten Diskussionen gegen das damit vermittelte Bild "Die Polizei ist nicht mein Gegner", wogegen eingewandt wurde, dass die Polizei ebenso wie das Militär eine Gewaltinstitution des Staates sei und damit von Grund auf und immer gewaltsam.

Es wurde in den nachfolgenden Diskussionen auch immer wieder kritisiert, dass ein immer noch gewaltfrei bleibendes Ausscheren aus dem Blockadeschema sehr schnell als "Gewalt" bezeichnet werden konnte, etwa lautes Rufen gegen Polizeigewalt bei Räumungen oder Slogans anstatt des schnell als langweilig empfundenen Singens "Nach dieser Erde, wäre da keine…" usw. Solches Ausscheren war aber keine Gewalt, sondern eine negative Folge der Anpassungsdisziplin ans Schema. Daraus zogen wir in der FöGA den strategischen Schluss: Doch, die Polizei ist unser Gegner, den wir aber trotzdem nicht verletzen oder töten. Deswegen wurde hinterher das Konzept der totalen Offenheit gegenüber der Polizei vor Ort oder auf Aktionscamps kritisiert und hat sich meines Wissens bei Aktionscamps der FöGA so auch nicht mehr wiederholt.

Hier sehe ich auch meine aktuelle Kritik und Unterschiede zu gewaltfreien Aktionsgruppen wie Extinction Rebellion in der Klimagerechtigkeitsbewegung, die bei Aktionen ebenfalls bereits Beteiligte, die ihrem Ärger mit Geschrei oder Slogans gegen die Polizei Luft machten, zur Ruhe disziplinierten oder sie gar zum Gehen aufforderten. Ich sah im Nachhinein solcherart Versuche, die Leute wieder in die Schematisierung zurückzuzwingen, ebenfalls als eine Disziplinierung der gewaltfreien Aktionsabläufe an, die ich mehr und mehr kritisch sah. Dazu gehörten dann auch die generellen Verhandlungen eines Wolfgang Sternstein mit der Polizei auf Landesebene Ba-Wü., in denen er sich anmaßte, für die gesamte Friedensbewegung zu verhandeln. Ich sehe auch in der Wendlandblockade von 1985, der ersten Vorläuferblockade gegen Castor-Transporte nach Gorleben, in der es zu einer Vielzahl von Materialblockaden auf der Transportstrecke kam, eine konstruktive Weiterentwicklung des schematischen, disziplinierenden Ablaufcharakters gewaltfreier Aktion, die in Großengstingen praktiziert wurde.

  • Hatte diese Aktion Folgen für Dich und wenn ja, welche?

Ja, bei der Aktion wurden bei einer Räumung meine Personalien aufgenommen, in Großengstingen wurde ich allerdings nicht eingeknastet. Ich bekam dann eine Anzeige und einen Strafbefehl wegen Nötigung von, ich weiß nicht mehr genau wieviel, vielleicht zwanzig Tagen. Es kam zu einem Prozess, in dem dieses Strafmaß bestätigt wurde.

Damals bei der Blockade schwirrte noch die Utopie in unseren Kreisen herum, dass wir gewaltfreie Aktivist*innen durch die Nötigungsverfahren und die Festnahmen bei Nicht-Ableistung der Bezahlung der Tagessätze die Gefängnisse so füllen könnten, dass das Strafsystem damit überfordert werden könnte und so eine Gesellschaftsveränderung möglich würde. In der Folge der Großengstingen-Blockade hatten wir in der gewaltfreien Aktionsgruppe und auch der FöGA Diskussionen über diese Utopie, meinten dabei aber recht schnell, dass dies eine unrealistische Utopie wäre und uns nur persönlich selbst schaden würde. In diesem Fall und in einem weiteren Fall, in dem ich zu 30 Tagessätzen wegen Landfriedensbruch verurteilt wurde, habe ich mich deshalb dazu entschlossen, auf die Erfahrung eines längeren Knastaufenthalts bewusst zu verzichten.

Im bereits referierten Ablaufschema gehörte es damals absolut dazu, die vom Gericht verkündete Strafe real abzusitzen und sich nicht freizuzahlen. Es hieß, durch Absitzen würde man zu der Aktion "stehen". Wer dagegen zahle, "stehe nicht" dazu. So wurde die Verbüßung der Strafe zur Schematisierung gemacht und das Bezahlen der Strafe als "Sich-Entziehen" und damit entgegen des Begriffs der gewaltfreien Aktion potentiell ebenfalls als Gewalt gezählt.

Es gibt von Hannah Arendt einen Text zur US-Bürgerrechtsbewegung, der dieses Dogma das Abzahlenmüssens scharf als unlogisch kritisiert. Diese Haltung machte ich mir dann während unserer Gruppen- und FöGA-Diskussionen zu eigen. So zahlte letztlich der Heidelberger Rechtshilfefonds meine Geldstrafe wegen "Nötigung".

  • Welche Bedeutung hat diese Aktion in Deiner eigenen Biografie gespielt?

Für mich war diese Blockade eine wichtige Erfahrung in meiner Aktionssozialisation. Zwar hatte ich bei den einige Monate vorher stattgefundenen Anti-IDEE-Aktionen bereits gewaltfreie Aktionen wie Besetzungen, Go-Ins, usw. durchgeführt, also andere Formen der gewaltfreien Aktion. Dennoch empfand ich diese lange, ausdauernde Blockadeaktion als produktiven, weiteren Schritt einer materiell wirksam werdenden Friedensbewegung, weil der Charakter der Blockade nicht mehr nur symbolisch war, sondern materiell störend.

Wir haben überdies dazu beigetragen, die Konzepte der gewaltfreien Aktion und des Zivilen Ungehorsams in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen und sie dort so zu verankern, dass sie auch von neu entstehenden Gruppen praktiziert und auch weiterentwickelt werden konnten. Es ist über unsere engen Kreise hinaus eine Kultur des zivilen Ungehorsams entstanden, die noch heute andauert. Die Zeitung Graswurzelrevolution, bei der ich seit 43 Jahren mitarbeite, wird dieses Jahr 50 Jahre alt, was bei der 6. Anarchistischen Buchmesse Ende Mai in Mannheim gebührend gefeiert worden ist. Der Zivile Ungehorsam als Aktionskonzept geht jedoch heute weit über unsere Kreise hinaus und wird etwa von der Klimagerechtigkeitsbewegung in ihren Aktionsstrategien selbstbestimmt aufgegriffen. Das finde ich u.a. auch einen Erfolg der Blockade in Großengstingen, zu dieser Verbreitung und kulturellen Verwurzelung beigetragen zu haben. Kurz danach wurde der Zivile Ungehorsam von einigen Autoren (Glotz, Habermas, usw.) allerdings als "aktiver Verfassungsschutz" in den bürgerlichen Medien bezeichnet. Dagegen habe ich mich in meinen publizistischen Veröffentlichungen immer gewandt und den Zivilen Ungehorsam als ein gewaltfreies Mittel zur Utopie der gewaltfrei-revolutionären Gesellschaftsveränderung interpretiert, jüngst etwa hier:

Lou Marin: "Ein Jahrhundert des Revolutionären Zivilen Ungehorsams. Ein kurzer Abriss des aktivistischen zivilen Ungehorsams aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht, in: Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit (Hg.): "Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution. Texte zum gewaltfreien Anarchismus & anarchistischen Pazifismus", Band 1, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, S. 143-168.

Inhalte aus der damals entwickelten Kritik am Ablaufschema und der angesprochenen Schematisierung der gewaltfreien Aktion in Großenstingen sind in dieses Verständnis eines revolutionären Zivilen Ungehorsams im Gegensatz zu einem reformistischen Zivilen Ungehorsam eingeflossen.

  • Haben Aktionen des Zivilen Ungehorsams aus Deiner Sicht in der heutigen Zeit einen Sinn? Falls ja: Welchen?

Wir befinden uns derzeit mitten in der Klimakatastrophe und im Angriffskrieg des russischen Diktators Putin gegen die Ukraine, die von der NATO und der rot-grün-gelben Ampelkoalition mit grenzenloser Medienpropaganda und Zusagen und inzwischen auch realen Lieferungen von immer schwerer werdenden Waffen unterstützt wird. Der von mir mit vertretene gewaltfreie Anarchismus richtet sich gegen diesen Krieg, sowohl gegen den Angriffskrieg des Diktators Putin, als auch gegen den, u.a. mit den integrierten faschistischen Azow-Regimentern geführten Verteidigungskrieg der Ukraine unter Selenskyi, und seines permanent aggressiv auftretenden Diplomaten in der BRD, Melnyk.

Natürlich haben also Aktionen des Zivilen Ungehorsams gegenwärtig Sinn, einmal für die Klimabewegung, weil die Bewegung gegen Kohleabbau heute von den Regierenden wieder angegriffen wird: Um das Abdrehen des Gashahns durch Putin auszugleichen, wird von der FDP und der CDU/CSU rücksichtslos der Rückgriff auf die Kohleverbrennung propagiert. Dagegen muss die Klimabewegung Widerstand, auch in Form von Aktionen zivilen Ungehorsams, leisten. Und sie darf sich gleichzeitig auch nicht dem ebenfalls täglich steigenden Druck beugen, die drei noch laufenden Atomkraftwerke (und nicht: Kernkraftwerke - es kommt derzeit im Mediendiskurs alles wieder; auch die verharmlosende Benennung Kernkraft) mit längeren Laufzeiten am Leben zu halten. Es fällt uns jedoch derzeit schwer, in die dortigen Aktionen konstruktiv einzugreifen. Vielerorts wird in der Bewegung gegen Kohleabbau der angeblich notwendige Übergang zur Gewalt in Form von Sabotage propagiert, etwa von Andreas Malm, einer nicht nur von seinem Gewaltbegriff her, sondern auch von seinem Züge des Antisemitismus tragenden, Geschichtsverständnis her, problematischen Person:

https://www.graswurzel.net/gwr/2021/10/vom-klimawandel-zum-aufstand-im-warschauer-ghetto/

Malm und mit ihm Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung propagieren Sabotage von Sachen als notwendigen Übergang dieser Bewegung zur Gegengewalt, zur "Gewalt gegen Sachen". Wir in der Graswurzelrevolution und unserer strategischen Beteiligung an der Anti-AKW-Bewegung haben jedoch ein Verständnis von Sabotage als "gewaltfreier Sachbeschädigung" entwickelt und auch in der Öffentlichkeit offensiv vertreten, das wir derzeit versuchen, in die Anti-Braunkohle-Bewegung einzubringen, siehe hierzu jüngst:

Helena Schäfer: "Revolte im Baumhaus. Eine Spurensuche mit Luisa Neubauer, Ronni Zeppelin, Iris Radisch und Lou Marin", in: Philosophie-Magazin, Sonderausgabe 21, Frühling 2022, S. 76-81.

Es geht in der Klimabewegung also darum, bei den Diskussionen um "Radikalisierung" aktuell eine Grenze zu setzen, die die Bewegung vor dem Abgleiten in Gegengewalt, die medial leicht als "Terrorismus" diffamiert werden kann, bewahrtm und dort gleichzeitig ein radikales Verständnis von gewaltfreier Aktion und des Zivilen Ungehorsams zu verbreiten.

Dann gibt es den Krieg gegen die Ukraine, bei dem Aktionen des Zivilen Ungehorsams als spontane Formen der sozialen Verteidigung bereits jetzt eine Rolle spielen: Die Blockade von Bürger*innen aus Saporischschija hat bereits in den ersten Kriegsmonaten dazu geführt, dass die ukrainische AKW-Stadt Saproischschija nicht von russischen Panzern und Truppen besetzt worden ist. In der ukrainischen Stadt Cherson sind, als sie besetzt worden ist, öffentliche Demonstrationen durchgeführt worden und Panzerfahrzeuge der Besatzer*innen bestiegen worden, wie in Prag 1968 beim Widerstand gegen die sowjetische Invasion. Und in Belarus haben die Eisenbahner einen wirksamen Streik gegen Durchfahrttransporte mit russischen Waffen organisiert. Diese Formen des Zivilen Ungehorsams und der Sozialen Verteidigung sind jedoch erstens in den kriegsmonopolistischen herrschenden Medien nicht als unabhängig wirksam wahrgenommen worden, und sie werden gleichzeitig durch die ständige Kriegspropaganda und Rufe nach BRD-Waffenlieferungen an ihrer Verbreitung gehindert. Ebenso die vielen Beispiele von Kriegsdienstverweigerung, der Selbst-Sabotage (von russischen Panzern in den ersten Kriegswochen beim Konvoi gegen Kiew) durch russische Soldat*innen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich der Widerstand in Russland gegen den Krieg steigert, was etwa jüngst bei den direkten Aktionen auf russische Einberufungszentren bereits spürbar war. In diesem Rahmen wird dann in Russland der Zivile Ungehorsam ebenfalls eine Rolle spielen können.

Für die BRD ist der fast totalitär zu nennende Mediendruck pro Krieg und Waffenlieferungen (auch und vor allem bei den Grünen, die nach 1999 und dem Jugoslawien-Kosovo-Krieg bereits zum zweiten Mal bei Regierungsantritt alle bisher bestehenden Wahlprogramme und -grundsätze über Bord geworfen haben) noch ein starkes Hindernis für die Entstehung einer antimilitaristischen Bewegung, die auch in der Öffentlichkeit durchdringen könnte. So geht es für die Anti-Kriegs-Gruppen derzeit darum, ein Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer in der BRD zu fordern und das Wissen um historische Beispiele sozialer Verteidigung zu verbreitern. Zu Aktionen Zivilen Ungehorsams in der BRD gegen Waffenlieferungen und den Krieg kann es erst kommen, wenn eine wirkliche Massenbewegung gegen den Krieg entsteht, was im Moment noch nicht absehbar ist, aber als Möglichkeit besteht, je länger der Krieg und der Kriegskurs der BRD und der Bundeswehr andauert. Es besteht die Hoffnung, dass aus den bereits seit Jahren aktiven Aktionszusammenhängen gegen Rüstungsfirmen wie Rheinmetall oder Krauss-Maffei-Wegmann, Aktionen des Zivilen Ungehorsams gegen die militaristische Dominanz in Politik, Medien, Produktion entstehen könnten, wenn sich eine Bewegung gegen diesen Krieg auch in der BRD entwickeln würde.

Lou Marin, geb. 1961, war ab 1979 in Zusammenhängen der gewaltfreien Aktionsgruppen aktiv, zunächst Gewaltfreie Aktion Augsburg, dann, nach 1980 Gewaltfreie Aktion Rhein-Neckar (GARN), dann bis 2001 Gewaltfreie Aktion Regenbogen Heidelberg sowie Gewaltfreie Aktion Schwarze Katze Heidelberg. 1984-2001 Mitglied in unterschiedlichen Redaktionen und Regionalredaktionen der Zeitschrift Graswurzelrevolution . Schreibt noch immer für die Graswurzelrevolution und ist noch Mitglied des GWR-Herausgeber*innenkreises.

2001 Umzug nach Marseille/Frankreich, dort Beteiligung bis heute an der anarchistischen Bibliothek und Archiv CIRA (Centre International de Recherches sur l’anarchisme). Veröffentlichung mehrerer Bücher und Übersetzungen in Deutsch und Französisch zur Verbindung von Albert Camus und des Anarchismus; zu Simone Weil und Anarchismus, zur feministischen Anarchistin und Attentatskritikerin Rirette Maîtrjean; zuletzt zusammen mit Horst Blume: Gandhi. "Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art", Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019.

 

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Veröffentlicht am

20. Juli 2022

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