Soziale VerteidigungVon Christine Schweitzer Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben die NATO-Staaten angekündigt, neue Milliarden in die Rüstung zu stecken; Truppen und Waffensysteme werden nach Osteuropa verlegt. Aber was ist, wenn die Abschreckung versagt? Ein Krieg in Europa, dann wahrscheinlich auch mit Atomwaffen? Der Grundgedanke der Sozialen Verteidigung ist der des zivilen Widerstands als einer Alternative zu Krieg. Das Konzept der Sozialen Verteidigung geht von dem Gedanken aus, dass alle Macht vom Volk ausgeht, d.h. sie beruht auf der Zustimmung und Kooperation der Regierten. Wenn diese Kooperation entzogen wird, dann bricht die Basis der Macht zusammen. Auf den Fall einer militärischen Besetzung übertragen bedeutet dies, dass letztlich die Bevölkerung des angegriffenen Landes darüber entscheidet, ob ein (militärischer) Angreifer sein Ziel erreicht oder nicht. Es wird nicht das Territorium an den Landesgrenzen verteidigt, sondern die Selbstbestimmung einer Gesellschaft durch die Verweigerung der Kooperation. Sie ist damit eine Alternative zu Aufrüstung und Abschreckung, und auch vielleicht in Zukunft eine Alternative für die Ukraine, falls Russland diesen Krieg gewinnen sollte. Vorbilder und ErfahrungenEs gibt viele Beispiele, die andeuten, wie Soziale Verteidigung funktionieren könnte:
Methoden und StrategienDie Methoden von Sozialer Verteidigung (bzw. von Gewaltfreiheit allgemein) lassen sich in drei Kategorien einteilen: a) Methoden, die der Schaffung und Stärkung des Zusammenhalts der Aktiven gelten. Eine wichtige Aufgabe in gewaltfreien Auseinandersetzungen ist, die Widerstandskraft zu erhalten, die Mobilisierung zu erhöhen und ein Zusammenbrechen des Widerstandes so zu verhindern. Hierzu gehören symbolische Maßnahmen (Flaggen, Symbole, Protestmärsche und ähnliches). b) Methoden, die das Konfliktverhalten ändern und insbesondere den/die Gegnerin daran hindern sollen, Gewalt anzuwenden. Dabei wird gewöhnlich nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Einstellung des/r Gegners: in eingewirkt. Hierbei wird i. d. R. angenommen, dass es gewisse Hemmschwellen der Gewaltanwendung gegenüber einem/r unbewaffneten Gegnerin gibt, zumal wenn die internationale Reaktion (also die Reaktion externer Parteien) mitberücksichtigt wird. Das Argument: "Und wenn sie dann eine Atombombe werfen" scheint daher empirisch wenig haltbar zu sein. c) Methoden, die die gegnerische Partei von ihren Zielen abzubringen sucht (also gerichtet auf den Konfliktinhalt). Hierzu gehört vor allem die Nicht-Zusammenarbeit von Boykott über Streiks, Steuerverweigerung, Ungehorsam, bis hin zu Theodor Eberts "Dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration". Zeit für Soziale Verteidigung?Wie gesagt: Auch heute noch gilt, dass es keinen Staat gibt, der sich dazu entschlossen hat, sein Militär abzuschaffen und stattdessen Soziale Verteidigung vorzubereiten. Es gab ein paar Regierungen, die sich vorübergehend mit Sozialer Verteidigung beschäftigten, und Litauen gab 1991 entsprechende Empfehlungen an seine Bevölkerung, aber sie taten dies nur, weil sie keine militärischen Kapazitäten hatten und damals noch nicht Mitglied der NATO waren.Siehe Müller, Barbara (1996): Zur Theorie und Praxis von Sozialer Verteidigung, Arbeitspapier Nr. 3 IFGK, Wahlenau. Und auch die Beispiele von Anderson und Wallace sind Beispiele von spontanem Widerstand - zwar vorbereitet, aber kurzfristig und angesichts einer unmittelbaren Bedrohung, nicht als längerfristige grundsätzliche Strategie. Wenn wir Soziale Verteidigung als ein Konzept begreifen, das in der politischen Debatte - in Deutschland, in allen NATO-Ländern und weltweit - als Alternative zu militärischer Verteidigung vorgeschlagen werden soll, dann sehen wir uns wenigstens zwei Herausforderungen gegenüber: dem Vorbehalt des "Unrealistischen" - weiterhin herrscht in Politik und Gesellschaft weitgehend die Überzeugung vor, dass "nur Gewalt hilft" - sowie der fehlenden Bereitschaft, umfassend abzurüsten. Beides sind extrem "dicke Bretter", wenn sie aber nicht gebohrt werden, dann könnte das, was die Menschen in der Ukraine heute erleiden, bald schon Wirklichkeit in ganz Europa sein. Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK). Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen stark gekürzten und aktualisierten Artikel aus: Bund für Soziale Verteidigung (2018) (Hrsg.) Schnee von gestern oder Vision für morgen? Neue Wege Sozialer Verteidigung, HuD Nr 58, Minden. Quelle: Spinnrad Nr. 1 / 2022 - Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes - Österreichischer Zweig . FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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