Zur Aufarbeitung des Bundeswehr-Afghanistaneinsatzes durch die neue BundesregierungVon Clemens Ronnefeldt In dem 12-seitigen Dokument mit dem Titel "Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP" ist zum Thema "Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zu lesen": "Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr. Das Prinzip der Inneren Führung wollen wir stärken. Wir wollen die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten. Zudem wollen wir den Gesamteinsatz in einer Enquete mit wissenschaftlicher Expertise evaluieren. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufbereitet werden, so dass sie in die Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen". Damit wird die weitere Erhöhung des Rüstungshaushaltes betont. Der aktuelle Mali-Einsatz wird nicht infrage gestellt - und auch in Zukunft soll es weitere Auslandseinsätze geben. Einen Untersuchungsausschuss zum Gesamt-Einsatz in Afghanistan, der von Bündnis90/Die Grünen, FDP und Linkspartei gemeinsam am Ende der abgelaufenen Legislaturperiode zugesagt war, wird es nicht geben. Lediglich die "Evakuierungsmission" der allerletzten Phase des 20-Jahres-Einsatzes soll parlamentarisch untersucht werden. Dabei wäre ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss über alle Bundeswehreinsätze in den letzten 20 Jahren das friedenspolitische Gebot der Stunde. Die Bundeswehr und ihre Nato-VerbündetenUSAIn dem Buch von Sönke Neitzel: "Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik - eine Militärgeschichte". Propyläen Verlag, Berlin 2020.816 Seiten, ist zu lesen: "Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. (…) Und wenn US-Spezialkräfte nachts Taliban-Kommandeure töteten, brachte das auch der Bundeswehr mehr Sicherheit. Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten." (S. 547) Deutsche Soldaten wussten nicht nur von Kriegsverbrechen des wichtigsten Verbündeten - sie nahmen diese offenbar nicht nur hin, sondern unterstützten sie auch noch. AustralienDie Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete am 19.11.2020 unter der Überschrift: "Kriegsverbrechen in Afghanistan: Mord als Aufnahmeritual": "Ein Untersuchungsbericht beklagt ‘rechtswidrige Tötungen’ von 39 Zivilisten durch australische Sondereinheiten in Afghanistan. Neue Truppenmitglieder winden offenbar dazu angehalten, Menschen als Initiationsritual zu töten". Was wussten deutsche Soldaten von diesen Kriegsverbrechen ihres Verbündeten - und falls sie etwas wussten: Warum haben sie diese nicht öffentlich gemacht? In seinem Buch "Endstation Kabul, Berlin. 2008. S. 78, schreibt der in Afghanistan eingesetzte Bundeswehrsoldat Achim Wohlgethan: "Ich wurde nun Augenzeuge, wie ISAF-Soldaten sehr unkonventionell testeten, ob das Gelände an dieser Stelle vermint war - und zwar mit Äpfeln! Dazu winkten die Soldaten die vielen Kinder heran, die auf dem Schießplatz leere Messinghülsen sammelten, weil diese bares Geld wert waren. Dann griffen die Soldaten hinter sich in eine Kiste mit Äpfeln, hielten sie den Kindern vor die Nase und schmissen sie ins Gelände. Dann warteten sie ab. was passierte. Wenn die Kinder losliefen und es keinen Knall gab. wurde dieses Feld als geklärt und unvermint betrachtet". Warum nahm Achim Wohlgethan diese Praxis offenbar ohne Protest hin? Er lässt diese Passage kommentarlos stehen. Widerspruch zwischen Anspruch und WirklichkeitDer ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan. schrieb zum Thema "Soldat im Zeitalter der Globalisierung", in: Europäische Sicherheit, 2/2007, S. 16 und S. 20: Sönke Neitzel schreibt in "Deutsche Krieger": "Bei etlichen Soldaten war eine nicht zu überbietende Geringschätzung’ für die Afghanen unübersehbar. ‚Kuddel’, ‚Schmutzfüße’, ‚Eself…’ waren gängige Bezeichnungen, und mancher meinte, man solle doch einfach eine Atombombe auf das Land werfen. Selbstverständlich gab es auch die ‚Afghanistanversteher’, die durch nichts von ihrem Engagement für Land und Leute abzubringen waren. Aber die waren zumindest in der Zeit der angespannten Sicherheitslage in der Minderheit." (S. 550). Dass der Einsatz grundlegend schief lief, machte bereits im Jahre 2007 Jürgen Heiducoff öffentlich: Der militärpolitische Berater der Bundesregierung in Kabul, zuvor als Leiter für Aufklärung und Sicherheit der "Kabul Multinational Brigade" der ISAF eingesetzt, wurde am 31. Mai 2007 in der Sendung "Monitor" zitiert: "Es gibt keine Entschuldigung für das durch unsere westlichen Militärs erzeugte Leid unter den unbeteiligten und unschuldigen Menschen. (…) Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen Dies müssen die Paschtunen als Terror empfinden. Wir sind dabei, durch diese unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der Afghanen zu verlieren." Das Ergebnis seines "Brandbriefes- an die Bundesregierung war sein umgehender Ausschluss von Lagebesprechungen in Afghanistan und seine Versetzung nach Deutschland. Ein Jahr später, am 23. April 2008, schrieb die Süddeutsche Zeitung als Fazit des Verteidigungsausschusses des Bundestages: "Der geheimnisumwobene Einsatz der Bundeswehr-Elitetruppe ‘Kommando Spezialkräfte’ (KSK) in Afghanistan war rein politisch motiviert, schlecht vorbereitet und militärisch weitgehend überflüssig". Die Kriegsphase ab 2006 bis 2010Von 2001 bis 2006 erlebten die deutschen Soldaten im Korden Afghanistans eine relativ ruhige Phase, in der auch Wiederaufbauprogramme und deren Umsetzung möglich waren. Ab 2006 war der Krieg auch in den von der Bundeswehr kontrollierten Zonen angekommen, 2009 befahl Oberst Klein einen folgenschweren Angriff auf zwei Tanklastzüge mit mehr als 140 Toten. Ein Wendepunkt in der Wahrnehmung des Bundeswehreinsatzes als "Kriegseinsatz" war der 2. April 2010 mit drei getöteten Bundeswehrsoldaten. Sönke Neitzel schreibt zu diesem Tag: "Viele deutsche Soldaten hatten es in Afghanistan nur dem Zufall zu verdanken, dass sie kerne Verluste hatten. An diesem 2. April (2010) hatten die Soldaten kein Glück. (…) Besonders gravierend war, dass an jenem Karfreitag deutsche Panzergrenadiere auf dem Weg zum Schlachtfeld versehentlich ein Fahrzeug der ANA (Afghanische National Armee) beschossen und sechs afghanische Soldaten getötet hatten. Die Empörung der Afghanen war so groß, dass am Abend nur mit Mühe eine gewaltsame Eskalation verhindert werden konnte." (S. 527). Von den insgesamt 59 Toten des 20-jährigen Bundeswehreinsatzes wurden die meisten in Kämpfen getötet. Bei den Zügen der Fallschirmjäger der Bundeswehr aus dem Saarland waren teilweise mehr als ein Drittel Russlanddeutsche, die vorwiegend russisch untereinander sprachen. Sönke Neitzel schreibt: "Der 21-jährige Hauptgefreite Sergej Motz wurde getötet, als das Geschoss einer Panzerfaust sein Fahrzeug traf. Er war der erste deutsche Soldat, der seit dem zweiten Weltkrieg bei einem Feuergefecht fiel. Und er war Russlanddeutscher. Sein Vater Viktor hatte einst als sowjetischer Soldat in Afghanistan gekämpft." (S. 511) Stimmen von Bundeswehrsoldaten zur AufarbeitungJohannes Clair, Fallschirmjäger der Bundeswehr im Afghanistaneinsatz. schrieb in der Süddeutschen Zeitung am 7. Mai 2021 unter der Überschrift: "Unser aller Krieg*’: "Wir alle vertrauten darauf, dass sich Deutschland nicht in ein militärisches Abenteuer stürzen wurde. Und doch erlebten wir Soldatinnen und Soldaten genau das: ein militärisches Abenteuer. (…) Die Regierenden sind zerstritten, die Sicherheitskräfte überfordert, viele fühlen sich verheizt. .Es gab nie eine klare, allumfassende sicherheitspolitische Strategie für diesen Einsatz. Und es gab nie eine Exitstrategie’, sagte mir ein Freund vor Kurzem. Ich stimme ihm zu.". Daniel Lücking. Bundeswehr-Offizier in Afghanistan, schrieb im Friedensforum 5/2021, Bonn. S. 30: "Ich bin heute noch fassungslos, darüber, dass wir von einem Lynchmord unseres wichtigsten Kooperationspartners vor Ort wussten, aber nicht einschritten. Seit ich Jahre später in Unterlagen des Bundestages den Vorfall nachvollziehen konnte, selbst auf Aufklärung drängte, ist mein Vertrauen in die Parlamentsarmee, der ich einst angehören wollte, zerbrochen. (…) Gemessen am Grad dessen, was die Bundesregierung und das Einsatzführungskommando verschweigen, ohne dass gewählte Parlamentarier*innen etwas erfahren können, muss bei der Armee im Einsatz eher von ‚Regierungstruppen’, denn von ‚Parlamentsarmee’ geredet werden". Johannes Betz. Oberst a.D., 2013/2014 in Afghanistan als Leiter eines Beratungsteams für die Ausbildung der afghanischen Armee, wurde in der Süddeutsche Zeitung. 14./15.8.2021, S. 10 zitiert: "Mich überkommt inzwischen das Gefühl, dass das alles sinnlos war: Wozu waren wir überhaupt dort? Wofür sind so viele Soldaten der Koalitionstruppen gefallen? (…) Der jetzige Umgang mit den Menschen, die mit und für uns gearbeitet haben, ist beschämend. (…) Heute frage ich mich: Wäre es nicht besser gewesen, wir wären überhaupt nie nach Afghanistan gegangen". Sönke Neitzel, der in seinem Buch "Deutsche Krieger" seine grundsätzlich militärfreundliche Haltung immer wieder durchscheinen lässt, schreibt auf Seite 552f.: "Die Realitätsverweigerung trat auch in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift für Innere Führung zutage. Ein kritisches Wort über den Afghanistaneinsatz fand sich dort in den Jahren 2001 bis 2011 kaum. Stattdessen wurde ausschließlich von Frieden und Aufbauarbeit gesprochen. Die Militärführung war also Teil des Problems". Realitätsverweigerung hält anIn einer Anzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 14.10.2021, Seite 5, für die das Bundesministerium der Verteidigung verantwortlich zeichnete, war unter der Überschrift "AFGHANISTANEINSATZ 2001-2021" und einem Bild mit einem Panzer und mehreren Bundeswehrsoldaten in Großbuchstaben zu lesen" IHR HABT DEUTSCHLAND ALLE EHRE GEMACHT’. Darunter stand ein Kommentar von Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesministerin der Verteidigung, mit ihrem Portrait: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bundeswehr auf ihren Einsatz in Afghanistan stolz sein kann. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben alle Aufträge, die ihnen das Parlament gegeben hat, erfüllt". In den letzten 20 Jahren kamen nach Vorträgen, die ich bundesweit über Afghanistan gehalten habe, ebenso nach Podiumsdiskussionen mit Bundeswehrvertretern, immer wieder Bundeswehrsoldaten auf mich zu, die in Afghanistan im Einsatz waren - und bedankten sich bei mir für meine kritischen Aussagen. Für diese Soldatinnen und Soldaten, von denen viele an Körper und Seele bis heute verwundet sind, und die um die Kostenübernahme ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen gestritten haben und teilweise immer noch streiten, wird diese Anzeige vermutlich wie eine Fortsetzung der von Sönke Neitzel als "Realitätsverweigerung’ beschriebenen Haltung gewirkt haben. Nachwort und AusblickAllein die US-Militärausgaben in Afghanistan in Höhe von rund 2,2 Billionen Dollar von 2001 bis 2021 bedeuten umgerechnet für jede Person in Afghanistan ca. 50.000 US-Dollar, für eine 5-köpfige Familie ca. 12.500 Dollar im Jahr, in 20 Jahren pro Person und pro Jahr ca. 2.500 Dollar. Das reale Prokopfeinkommen hegt aktuell in Afghanistan bei rund 450 Dollar pro Jahr. Die prognostizierten Zinszahlungen auf amerikanische Kriegsschulden wegen des Afghanistaneinsatzes bis 2050 werden sich auf 6.500 Milliarden US-Dollar belaufen, bis Herbst 2021 zahlte die US-Regierung rund 300 Milliarden US-Dollar an US-amerikanische kriegsverletzte Veteranen, deren Suizidrate um ein Vielfaches höher ist als die Zahl der im Einsatz getöteten US-Soldatinnen und Soldaten. Die Bundeswehr ist an der Seite der Führungsmacht USA in Afghanistan ethisch, politisch und völkerrechtlich in einem Ausmaß gescheitert, das eine umgehende Neubewertung auch des Mali-Einsatzes notwendig macht. In der Süddeutschen Zeitung ist am 6.9.2021 auf Seite 4 ein Kommentar von Bernd Dörries erschienen. Der Autor schreibt u.a.: "Zur Ehrlichkeit gehört: Einsätze wie in Mali sind vor allem dazu da. Flüchtlinge davon abzuhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Sie dienen zudem dem Kampf gegen den Terrorismus. Europa kämpft in Mali also für europäische Ziele, nicht für malische. Es unterstützt dabei eine korrupte Elite und macht der dortigen Jugend klar, dass sie es nur zu etwas bringen kann, wenn sie zur Armee geht und so viel Macht wie möglich an sich reißt". Das Grundgesetz, Art. 87a, setzt dem Einsatz von Bundeswehrsoldaten enge Grenzen:
Die Flüchtlingsabwehr in fremden Ländern gehört nicht zum Aufgabengebiet der Bundeswehr. Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes . Quelle: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig - in: Versöhnung 4/2021.
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