Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Die Rückkehr zum menschlichen Maß

Welche Religion brauchen wir in der ökologischen Krise?

Von Bruno Kern

Zum ersten Mal in der Geschichte", so schrieb der Philosoph und Psychologe Erich Fromm in den 1970er-Jahren, "hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab." Im Kontext der heutigen Ökologiebewegung muss ein solcher Satz verständnisloses Kopfschütteln auslösen. Ein zügiger Ausbau der erneuerbaren Energien, der Einsatz einer effizienteren Technik und eine intelligente |Beeinflussung der Märkte (CO2-Steuern) - so konnte man es auf jeder Fridays-for-Future-Demo hören - garantieren uns eine "grüne Zukunft", die uns keine der vielen Annehmlichkeiten unserer Industriegesellschaft vermissen lässt. Wie naiv diese Illusion ist, wird bereits an einer Zahl deutlich: Wir verbrauchen in Deutschland zurzeit etwa 2500 Terawattstunden (TWh) an Endenergie (auf den Strom entfallen davon lediglich zwanzig Prozent). Nach einer Studie von Ökoinstitut und Prognos im Auftrag des World Wildlife Fund (WWF) haben wir aber ein Potenzial an erneuerbaren Energien von lediglich 700 TWh! Die umfassende Biosphärenkrise der Menschheit auf ein rein technisch zu bewältigendes Problem zu reduzieren ist eine der gefährlichsten Ideologien, da sie uns von der eigentlichen politischen Aufgabe dispensiert, nämlich: Wie bauen wir eine solidarische Gesellschaft auf einer wesentlich schmaleren materiellen Basis?

Eine ehrliche Bestandsaufnahme führt schnell zur Einsicht: Wir kommen an einer drastischen Reduktion des absoluten Verbrauchs an Energie und Ressourcen nicht vorbei. Wir können das, was uns jetzt noch aus Quellen zur Verfügung steht, bei Weitem nicht durch erneuerbare Energien ersetzen. Industrielle Abrüstung heißt die Herausforderung. Nicht nur der wachstumsgetriebene Kapitalismus, sondern auch die Industriegesellschaften, wie wir sie kennen, stehen zur Disposition.

Die katholische Kirche in Deutschland hat bereits in den 1970er-Jahren im Papier "Unsere Hoffnung" der Würzburger Synode ein geschärftes Bewusstsein dafür an den Tag gelegt. "Mit zunehmender Deutlichkeit erfahren wir heute, […] dass die Grenzen der wirtschaftlichen Expansion, die Grenzen des Rohstoff- und Energieverbrauchs, die Grenzen des Lebensraums, die Grenzen der Umwelt- und Naturausbeutung eine wirtschaftliche Entwicklung aller Länder auf jenes Wohlstandsniveau, das wir gegenwärtig haben und genießen, nicht zulassen. Angesichts dieser Situation wird von uns - im Interesse eines lebenswürdigen Überlebens der Menschheit - eine einschneidende Veränderung unserer Lebensmuster, eine drastische Wandlung unserer wirtschaftlichen und sozialen Lebensprioritäten verlangt. Es werden uns neue Orientierungen unserer Interessen und Leistungsziele, aber auch neue Formen der Selbstbescheidung, gewissermaßen der kollektiven Aszese abverlangt."

Anstelle des Paradigmas der technischen Machbarkeit, das mit maximalem Materialeinsatz und ökoimperialistischen Projekten (Wasserstoffimporte, Lithium-Abbau, Ressourcenausplünderung für "grüne Technik" auf Kosten der Bevölkerung im globalen Süden) ein "Weiter so" mit anderen Mitteln garantieren will, haben wir uns das Paradigma der "Rückkehr zum menschlichen Maß" anzueignen. Wir müssen uns auf das Menschengerechte zurückbesinnen, das eingebunden ist in natürliche Zusammenhänge. Erst so bekommt Erich Fromms Satz einen Sinn. Und wenn er recht hat, dann wird dies zum entscheidenden Prüfstein von Religion: Ob sie eine Daseinsberechtigung hat, ob sie mehr ist als ein privates Für-wahr-Halten von Glaubenssätzen, muss sich daran erweisen, ob sie sich angesichts der zivilisatorischen Krise der Menschheit als Sinnressource bewähren kann, die zum notwendigen Handeln motiviert. Auf solche Sinnressourcen wird es entscheidend ankommen. Die gewaltige Transformation, die wir zu bewältigen haben, kann zumindest in den Industrieländern an keine unmittelbaren Interessen anknüpfen. Wir sind vielmehr auf eine kritische Masse von Menschen angewiesen, die bereit sind, gegen ihre eigenen materiellen Interessen zu handeln.

Gnadenlose Ausbeutung der Erde

Es spricht sehr viel für die Vermutung, dass das Prometheus-Projekt der gnadenlosen Ausbeutung der Erde das Verdrängen und Leugnen der "Grundlosigkeit" und Endlichkeit unseres Daseins zur Voraussetzung hat. Weil sich Sterblichkeit nicht abschütteln lässt, wird beschleunigt. Die religiöse Antwort auf die Nicht-Notwendigkeit und Endlichkeit unseres Daseins ist die Bejahung unseres Daseins durch den freien Schöpferwillen Gottes, das Verständnis unserer eigenen Existenz als eines verdankten Daseins. Diese religiöse Antwort ist nicht zwingend.

Aber unabhängig davon, ob wir eine religiöse oder eine dezidiert atheistische Antwort darauf geben oder die Frage einfach mit dem Verweis auf ihre Unbeantwortbarkeit agnostisch von uns weisen, stehen wir als Menschen alle unter dem Anspruch, unsere Conditio humana, unser konkretes, endliches Dasein, anzunehmen. Die Akzeptanz unserer eigenen Endlichkeit ist letztlich auch die Voraussetzung für die Hinwendung zum schwachen, gefährdeten Dasein. Die Ausblendung der Dimension der "Unverfügbarkeit" unseres Daseins hat ein aggressives Weltverhältnis und einen Verlust an Empathiefähigkeit zur Folge.

Die Einsicht, die Erfüllung der eigenen Existenz nicht selbst leisten zu können und zu müssen, befreit uns von einem Perfektionierungswahn, der allem weniger Vollkommenen, mit Defekten Behafteten, keinen Raum mehr lässt.

Auf der Würde des Angeschlagenen, des vom Verfall Gezeichneten, ja selbst des sinnlos Scheinenden zu beharren, gehört aber gerade zum innersten Kern der jüdisch-christlichen Tradition. Die blindwütige Verabsolutierung der instrumentell-technischen Vernunft, die unsere Moderne mit all ihren fatalen Folgen der Ausbeutung von Mensch und Natur geprägt hat, hat vermutlich viel mit der unzureichenden Kontingenzbewältigung zu tun. Umgekehrt gilt: Gerade ein kompromissloser Kampf für dasLeben setzt Akzeptanz der Endlichkeit voraus.

Diese Akzeptanz der Endlichkeit befreit von dem Druck, das "Leben als letzte Gelegenheit" (Marianne Gronemeyer) zu begreifen. Und wenn gläubige Menschen sich auf die Verheißung eines "Lebens in Fülle" einlassen, das sie nicht selbst produzieren müssen, sind sie nicht mehr darauf angewiesen, "gnadenlos" herauszuholen, was eben geht. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat uns gelehrt, dass es hier um eine im strengen Sinne theologische und eben nicht nur sozial-ethische Frage geht. Das heißt: Hier steht Gott selbst auf dem Spiel. Die religiöse Anmaßung des Kapitalismus ist letztlich in seinem ihm eingeschriebenen Wachstumszwang begründet, in seiner Tendenz, sich zu "totalisieren", alle geografischen Räume, aber auch alle Sphären des menschlichen Lebens zu durchdringen und unser Denken und Empfinden zu kolonisieren. Genau in diesem Sinne ist für den Theologen Eugen Drewermann dieses Wirtschaftssystem "weit mehr […] als ein bloß ökonomischer Organisationszustand der Gesellschaft. Es ist […] imstande, die Dynamik seiner eigenen Maßlosigkeit jedem Hersteller, jedem Händler, jedem Käufer, jedem und allen also, aufzuzwingen. Sein immanenter Wachstumsdruck verinnerlicht sich als Motiv der Unersättlichkeit."

Öko-Theologie der Befreiung

Leonardo Boff und Mark Hathaway machen in ihrem grundlegenden Werk "Befreite Schöpfung" darauf aufmerksam: Dem globalen Kapitalismus entspreche heute als Bewusstseinsform eine - säkulare - Kosmologie der Herrschaft, ein Weltbild, das dem Interesse an der Ausplünderung der Natur entgegenkommt und die Individuen durch Vermittlung von Gefühlen der Ohnmacht, der Resignation und durch die Verinnerlichung eines Suchtverhaltens hierfür gefügig macht. Die ökonomischen Verhältnisse, so die Autoren, haben ihre psychische Resonanz in den Phänomenen Verleugnung, Verzweiflung und Sucht. Der Verfestigung dieser systemkonformen Verhaltensweisen diene eine bestimmte Auffassung der Wirklichkeit und vom Platz des Individuums darin. Das Alltagsbewusstsein der Menschen gehe üblicherweise von einem determinierten, mechanistischen Kosmos aus, dem keinerlei Sinn eingestiftet ist. Es setzt eine Evolution des Lebens voraus, die im neodarwinistischen Sinne lediglich von den Mechanismen der Zufallsmutation und des Konkurrenzkampfes um das Überleben der am besten Angepassten geprägt ist. Diese Weltsicht entspricht exakt dem Interesse an der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur und der Alleinherrschaft eines ökonomischen Nutzenkalküls.

Diese Sichtweise vom Kosmos ist aber keineswegs mehr vereinbar mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften, die von Hathaway und Boff im Sinne einer ganzheitlichen Kosmologie aufgenommen und gedeutet werden. Die bestimmende Kraft der Evolution des Lebens ist für Boff und Hathaway nicht die unerbittliche Konkurrenz, sondern unterschiedliche Dynamiken eines kooperativen Altruismus: Wenn wir begreifen, dass wir der Natur "mit Fleisch und Blut und Hirn angehören" (Friedrich Engels), sie also nicht irgendwo außerhalb von uns existiert, dann werden wir sie nicht länger beliebig vernutzen. Was uns als mit Bewusstsein ausgestattete, gemeinschaftsfähige und liebesbedürftige Wesen auszeichnet, ist in den kosmischen Prozess selbst bereits eingestiftet; wir müssen uns nicht gegen die Welt behaupten. Anstelle eines fragmentierten, maschinenartigen Universums, das sich aus toten, miteinander nicht verbundenen Dingen zusammensetzt, legen die neue Kosmologie und die Quantenphysik nahe, dass wir es grundlegend mit einer Wirklichkeit dynamischer Beziehungen zu tun haben, innerhalb derer Raum, Zeit, Energie, Materie und Geist Teil eines größeren Zusammenhanges sind. Solange Natur und Mensch nur als komplexe Maschinen betrachtet werden, sind wir auch nur auf technologische und materielle Bedürfnisse reduziert.

Das Prometheus-Unternehmen der Industriegesellschaft erfordert eine Sichtweise der Evolution und der Biosphäre, die einer indifferenten Zufallswelt die umwälzende Kraft des Fortschritts entgegensetzen kann. Befreiendes Handeln im Sinne von Solidarität und Nachhaltigkeit bedarf aber, will es nicht selbst wieder illusionär werden, einer Grundlage in der Entwicklung des Kosmos, der "Kosmogenese", selbst. "Wenn der Kosmos keinen Sinn offenbarte, würde unser Leben letztlich auf einen Kampf ums Überleben oder vielleicht auf das Streben nach unmittelbarem Vergnügen reduziert", schreiben Boff und Hathaway. "Würde es sich in einem weiten Kontext wirklich lohnen, nach einer echten Befreiung zu streben und einen Weg zu suchen, in Harmonie mit der größeren Lebensgemeinschaft der Erde zu leben?"

Die großen Religionen, insbesondere die jüdisch-christliche Tradition, verbinden diesen Sinn mit einer Gotteshoffnung, in der gerade das Schwache, Angeschlagene, scheinbar Gescheiterte und Sinnlose aufgehoben ist. Sie befreien uns damit von jedem Zwang zur Selbstoptimierung, schrankenloser Durchsetzung unserer Bedürfnisse, grenzenlosem Steigerungswahn und Selbstbehauptung auf Kosten anderer Menschen und anderer Formen des Lebens. Das menschliche Maß ist das, was der Verbundenheit allen Lebens gerecht wird und die kosmische Balance nicht stört. Damit erhält das Engagement für gesellschaftliche Befreiung, das ein neues Verhältnis zur außermenschlichen Kreatur mit einschließt, erst seine tragfähige Grundlage und seinen Hoffnungshorizont jenseits aller berechtigten Verzweiflung.

Eine deutsche Übersetzung des Buches von Marie Hathaway/Leonardo Boff, "Die Weisheit des Kosmos. Ein zukunftweisendes Weltbild", erscheint im April im Lit-Verlag.

Quelle: Publik-Forum , Nr. 5/2021, S. 28ff. - Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bruno Kern und des Verlags.

Veröffentlicht am

30. März 2021

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