In Israel nichts NeuesVon Nirit Sommerfeld Du bist schockiert über den Ausgang der Wahlen in Israel? Ich nicht. Was mich schockiert - nein: entsetzt ist, dass es hier bei uns immer noch kein böses Erwachen gibt angesichts einer Wahl, die unzweifelhaft Rassisten und Faschisten an die Macht in Israel bringen wird. Leute, die keinen Hehl daraus machen, was ihre politischen Ziele sind: Auf jeden Fall mal kein palästinensischer Staat. Diese Leute schämen sich nicht, in aller Öffentlichkeit "Tod den Terroristen" zu schreien und damit alle Palästinenser zu meinen, die sie grundsätzlich für Terroristen halten. Es ist ihnen übrigens prima gelungen, dieses Bild auch in deutschen Köpfen zu etablieren - oder denkt jemand beim Wort ‘Palästinenser’ an die vielen Künstlerinnen, Künstler und Intellektuellen, die aus Palästina kommen, Hand auf Herz? Die israelischen Faschisten, die demnächst die Regierung in der "einzigen Demokratie im Nahen Osten" bilden werden, nennen Palästinenser bestenfalls ‘Araber’, womit sie ihnen ihre palästinensische Identität aberkennen. Um ihre Haltung noch deutlicher zu machen, bezeichnen sie sie auch gerne mal als ‘Tiere’, und sie können sich großer Zustimmung dafür in der israelischen Gesellschaft erfreuen. Das alles schockt mich nicht mehr, denn ich erlebe, dokumentiere und beschreibe seit 2009 genau diesen Verfall der israelischen Gesellschaft in die Abgründe offener Demokratiefeindlichkeit, Ethnokratie, Rassismus und faschistischer Haltungen. Ich tue dies mit wachsender Sorge um das Überleben der Palästinenser und mit größter Besorgnis um die israelische Zivilgesellschaft, die im übrigen immer weniger "zivil" ist, weil alles Militärische mehr denn je in jede Zelle israelischen Lebens eindringt. Dass es so weit kommen würde, ist also keine Überraschung; aber es macht mich wütend, dass die Reaktionen darauf in Deutschland entweder a) schlicht wegbleiben, b) weggelacht werden wie vom Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, dem das ‘Festhalten an der Kooperation’ mehr wert ist als alle verratenen Werte, die es einst (auch für ihn als Grünen) zu verteidigen galt, oder c) bestenfalls ein Bedauern oder verhaltene Besorgnis hervorrufen. HAALLLOOOOO!!! Wacht mal auf, Leute in verantwortlichen Positionen in deutschen Institutionen und Amtsstuben! Was muss denn noch alles an ‘facts on the ground’ passieren in Israel und Palästina, damit Ihr mal klare Kante zeigt und Eure ‘Freundschaft’ an Bedingungen knüpft, die Euren eigenen Demokratie- und Menschenrechtswerten entsprechen? Euer heuchlerisches Moralgesülze könnt Ihr Euch langsam sonstwohin stecken - Eure Moral findet problemlos ihre Anwendung bei Sanktionen gegen den russischen Staat, den Ihr immer schon mal in die Schranken weisen wolltet. Dafür nehmt Ihr sogar immense Nachteile in Kauf; aber wenn es um Israel geht, glaubt Ihr Eure historische Schuld durch ewige Freundschaftsbekundungen gegenüber dem ‘jüdischen Staat’ tilgen zu können; dann sind Moral und Werte, dann sind Menschenrechtsverletzungen an Menschen, denen Ihr beliebig den ‘Terroristen’-Stempel aufdrückt, kein Hinderungsgrund. Ihr werdet Euch noch wundern, wie wenig an Holocaust-Schuld Ihr durch Euren ewigen Kotau gegenüber einem Staat abarbeiten könnt, der jüdische Werte und die jahrtausendealte Diversität des Judentums selbst verrät. Stattdessen ergötzt Ihr Euch an angeblich antisemitischen Bildern, Karikaturen, Vorträgen, Liedern, Theaterstücken und sogar Juden und Israelis (sic!), um - auf sie mit Gebrüll! - Menschen mundtot zu machen, die ihre ganze künstlerische oder wissenschaftliche Energie darauf verwenden, Mißstände und Unrecht zu benennen. Jüngstes Beispiel (neben Annie Ernaux und Caryl Churchill ) ist die Absage eines Vortrags von Dr. Shir Hever , der für die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) Rhein-Neckar-Heidelberg einen Vortrag über Kinderarbeit in Palästina halten sollte. Die Veranstaltung wurde kurzfristig abgesagt, ohne Begründung. Shir schrieb mir, er wollte in seinem Vortrag u.a. über den Fall Mahmoud Sammoudi sprechen. Mahmoud fuhr regelmäßig nach Jenin im besetzten palästinensischen Westjordanland, um Wasser an vorbeifahrende Autofahrer zu verkaufen, selbst als Jenin zu einer sehr gefährlichen Stadt wurde. Am 28. September schossen israelische Soldaten vor der Muntaha Al-Hureini-Grundschule für Mädchen auf ihn, und am 10. Oktober starb er an seinen Verletzungen. Er war 12 Jahre alt. Will man solche Geschichten in Deutschland nicht hören? Kann man der GEW nicht trauen, weil die GEW enge Beziehungen zur großen israelischen Lehrergewerkschaft Histadrut haMorim unterhält? In Jerusalem sind 40% der Schulkinder Araber, aber keines von ihnen ist in einer Schule willkommen, in der die Lehrerschaft der Histadrut haMorim angehört. Shir, der selbst in Israel zur Schule ging, schrieb: "Die Lehrer:innen haben dieses System der Apartheid nicht eingeführt, sie haben nur angesichts der Rassendiskriminierung geschwiegen und dazu beigetragen, es aufrechtzuerhalten. Die GEW toleriert den Rassismus der Histadrut haMorim, und es ist leider nicht verwunderlich, dass sie einen Vortrag über palästinensische Kinderarbeit zensiert. (…) Das Vorgehen der GEW, die sich mit der Histadrut haMorim zusammengetan und eine Veranstaltung mit einem jüdischen Redner über palästinensische Kinderarbeit abgesagt hat, kann als Unterstützung der Apartheid, als Antisemitismus und als Rassismus interpretiert werden, oder vielleicht auch als alles drei." Worauf wartet Ihr also noch, Ihr, die Ihr schockiert seid und immer noch hofft, dass die jüngsten Wahlen in Israel ein Ausrutscher waren? Die Ihr durch Euer Schweigen dazu beitragt, Unrecht aufrechtzuerhalten? Die Ihr nicht begreifen wollt, dass Israels Unrechtsregime nicht erst mit Netanjahu, auch nicht mit Ariel Sharon, nicht einmal mit dem Revisionisten Menachem Begin 1977 seinen Anfang nahm, sondern mit den "sozialistischen", den "linken", den wahrhaft "aufrechten" Gründervätern um David Ben Gurion, mit den "guten Freiheitskämpfern" von Palmach und Hagana, denen übrigens auch mein Vater angehörte, und von denen viele ihr Leben riskierten und opferten, um einen "araberfreien" Staat aufzubauen. Die 1948er Vertreibung von Palästinensern und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wurde 1967 fortgesetzt - auch damals angetrieben von den Führern der "linken" Arbeiterparteien, den Zionisten, die den Grundstein dafür legten, dass heute noch vernunftbegabte Menschen an einen jüdischen und gleichzeitig demokratischen Staat glauben - also an die Quadratur des Kreises. Immerhin hat die Vernebelung der wahren Interessen israelischer Siedlungspolitik jetzt ein Ende; den Rechtsradikalen kann man nicht vorwerfen, sie würden ihre Absichten verschleiern. Es hätte Chancen für Frieden und Ausgleich gegeben, als es noch eine Mehrheit in der israelischen Bevölkerung gab, die an die Lippenbekenntnisse ihrer Regierungen glaubte. Heute haben die Interessen gesiegt, die immer schon die Triebfeder israelischer Politik waren. Wer das von Deutschland aus unterstützen will, kann gerne an der "unverbrüchlichen Freundschaft" zum "jüdischen Staat" festhalten und dementsprechend agieren. Der muss sich aber gefallen lassen, als Unterstützer(in) von Rassismus und Apartheid, von Demokratiefeindlichkeit und ja, auch von Antisemitismus bezeichnet zu werden. Denn für die vielen Abertausende von Jüdinnen und Juden weltweit, die sich - wie ich - von Israel nicht vertreten, ja sogar verraten fühlen, ist die kritiklose Unterstützung des Staates Israel in seiner heutigen Form ein Schlag ins Gesicht. Übrigens: Es sei auch einmal daran erinnert, dass Israel eine Atommacht ist, die sich bisher jeder internationalen Kontolle entzogen hat. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte vor wenigen Tagen mit überwältigender Mehrheit dafür, dass sich das ändert. Ob Israel sich davon beeindrucken lässt, darf bezweifelt werden. Weitere Kommentare zu den Wahlen in Israel aus israelischer und jüdischer Sicht, die Du in den üblichen Medien nicht oder selten findest: HIER WEITERLESEN Quelle: Nirit Sommerfeld - 05.11.2022. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Nirit Sommerfeld. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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