Ziviler Widerstand als Mittel der VerteidigungspolitikVon Theodor Ebert Die grundsätzlichen Überlegungen und KonzepteDie Ausübung des Monopols der physischen Gewaltsamkeit ist nach Max Weber selbstverständliches und unverzichtbares Merkmal des modernen Staates. Doch es existieren in libertärer (anarchistischer) und pazifistischer Tradition auch Staatskonzepte bzw. Konzepte der Ausübung von Volkssouveränität, welche von der Fähigkeit, militärische Gewalt anzuwenden, absehen und ihre Stütze in der Fähigkeit zur gewaltfreien, direkten Aktion finden. Während Kanonen zu Beginn der Neuzeit und bei der Herausbildung des modernen Territorial- und Nationalstaates noch mit der als typisch zu bezeichnenden Aufschrift "ultima ratio regis" (das letzte Mittel des Königs) versehen wurden und damit die Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Staat und Militärgewalt zum Ausdruck brachten, kann man im Blick auf Konzepte, die in partizipatorischen Demokratien den gewaltlosen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik vorsehen und die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, von einer "ultima ratio populi", also dem letzten Mittel des souveränen Volkes, sprechen. Die Verbindung von Staatlichkeit und Militär ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch das Übliche. Bei den Versuchen, konzeptionell diese herkömmliche Verbindung von Nationalstaat und Militär zu trennen, lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Im einen Falle wird angenommen, dass die Ausübung der herkömmlichen Aufgaben des nationalen Militärs an eine überstaatliche Weltorganisation oder an einen suprastaatlichen, regionalen Zusammenschluss von Staaten übertragen wird. Diese überstaatlichen Organisationen sollen dann ihrerseits das Monopol der physischen Gewaltsamkeit ausüben. Das soll dann noch nicht für alle, doch für einige, vertraglich definierte Konfliktfälle gelten. Dadurch ändert sich jedoch im Prinzip noch nichts an dem Grundgedanken, dass es Institutionen geben muss, die in einem bestimmten Territorium das Monopol physischer Gewaltsamkeit ausüben. Lediglich der Umfang des Territoriums, in dem dieses Monopol gilt, hat zugenommen. In der Praxis haben die Vereinten Nationen und andere überstaatliche Sicherheitsorganisationen bisher bei der Zusammenstellung von Truppenkontingenten auf die nationalen Armeen der einzelnen Staaten zurückgegriffen. Damit wird die Vorstellung, dass Nationalstaaten eine eigene Armee unterhalten, nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Costa Rica ist bislang der einzige Flächenstaat der Erde, der über keine eigene Armee verfügt. Bei der zweiten Variante wird die Staatlichkeit bzw. die Verhinderung einer Vielzahl von Gewalt ausübenden Institutionen nicht an die Existenz einer nationalen oder supranationalen Armee gebunden. Vielmehr wird angenommen, dass einzelne Staaten oder Zusammenschlüsse von Staaten durch die Vorbereitung auf zivilen Widerstand und durch seine Ausübung in der Lage sind, einheimische Usurpatoren oder auswärtige Mächte davon abzuhalten, illegal Herrschaft auszuüben und das Monopol physischer Gewaltsamkeit an sich zu reißen. Solchermaßen auf den zivilen Widerstand "umgerüstete", gewaltfrei transformierte Staaten betrachten dann eventuelle Angebote auswärtiger Mächte, sie mit Waffengewalt zu schützen als konterproduktiven Eingriff in ihr sicherheitspolitisches Design. Der wichtigste Impuls für die Entwicklung eines Staatswesens ohne Militär ging von Mohandas K. Gandhi aus, dem prominentesten Vertreter der indischen, antikolonialen Befreiungsbewegung. Er hoffte, dass es gelingen könnte, im Zuge eines lang anhaltenden, gewaltfreien Aufstandes gegen die englische Kolonialherrschaft, eine so genannte Shanti Sena (Friedenstruppe) aufzubauen. Diese nonviolent task force sollte sich aus den Satyagrahis (gewaltfreien Freiheitskämpfern) rekrutieren, die sich bei konstruktiven Aktionen zur Entwicklung Indiens, bei der Schlichtung lokaler, bewaffneter Zusammenstöße und im Widerstand gegen die Kolonialherrschaft kennen gelernt und vernetzt hätten. Gandhi hat diese Alternative zu einer herkömmlichen Armee und zu schwer bewaffneter Polizei nicht mehr in großen Stil erproben können. Er hinterließ zu diesem Thema nur theoretische Schriften in der Form von Zeitschriftenaufsätzen. Im Übrigen zeigte er bei schweren Zusammenstößen zwischen Hindus und Moslems, wie er sich das gewaltfreie Eingreifen in blutige, innenpolitische Konflikte vorstellte. Die Impulse Gandhis wurden in Europa und in den USA seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts von pazifistischen Organisationen und Friedensforschern aufgegriffen, die nach Alternativen zur atomaren Abschreckung suchten. Es wurde überlegt und mit Hilfe von Fallstudien über gewaltlosen Widerstand gegen Besatzungsregime und Staatsstreiche untersucht, ob sich demokratische Errungenschaften auch mittels gewaltfreien Widerstands gegen totalitäre Gleichschaltungsversuche behaupten ließen. 1958 kam er englische Publizist Sir Stephen King-Hall in seiner Analyse des britischen Verteidigungskonzeptes zu dem Ergebnis, dass sich mit den bereit gestellten atomaren Waffen der britische way of life gar nicht verteidigen lasse und darum untersucht werden müsse, ob und wie Großbritannien und sein demokratischer way of life sich mit gewaltlosen Mitteln verteidigen lasse. Sein Buch "Defence in the Nuclear Age" erschien auch in deutscher Sprache unter dem Titel "Den Krieg im Frieden gewinnen" und wurde in deutschen Massenmedien aufmerksam besprochen. King-Hall forderte die Entwicklung einer mehrere westeuropäische Staaten umfassenden Organisation zur Vorbereitung und zum Einsatz gewaltlosen Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik. Den Anstoß zu diesem Umdenken gab die Entwicklung der Waffentechnik. In dem Moment, in dem die äußerste Steigerung des Einsatzes vorhandener konventioneller und atomarer Waffen zur kompletten Zerstörung von Industriegesellschaften führen konnte, schien es plausibel, den kompletten Verzicht auf den Einsatz solcher Waffen durch einen Militärapparat zu erwägen. An der Universität Oxford kam es im September 1964 zur internationalen Civilian Defence Study Conference, während derer zum ersten Mal systematisch die Möglichkeiten der Vorbereitung und des Einsatzes gewaltfreien Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik untersucht wurde. Die Publikation der Ergebnisse der Konferenz durch Adam Roberts in "The Strategy of Civilian Defence. Nonviolent Resistance to Aggression" (London 1967) erfolgte kurz vor der weltweiten Überraschung, dass in der CSSR im August 1968 Regierung, Partei und Bevölkerung den Interventionstruppen des Warschauer Paktes unbewaffnet entgegentraten, die Zusammenarbeit verweigerten und die Kommunikation aufrecht zu erhalten verstanden. Obwohl der Widerstand nur wenige Monate aufrechterhalten werden konnte, und die Reformer einem Regime von Parteigängern der UdSSR weichen mussten, war der Eindruck des gewaltlosen Widerstands auf die Weltöffentlichkeit und auch auf die Aggressoren doch nachhaltig. Der gewaltlose Widerstand gegen Fremdherrschaft galt künftig als ein Faktor der internationalen Politik, der Berücksichtigung verlangte. Als sich in den 80er Jahren erneute Reformbestrebungen in Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, vor allem in Polen, zeigten, zögerten die sowjetischen Politiker, noch einmal zum Mittel der militärischen Intervention zu greifen und suchten sich mit mehr oder weniger willigen einheimischen Kollaborateuren zu behelfen, obwohl diese sich bei ihren Unterdrückungsmaßnahmen auffallend mäßigten. Das Regime von General Jaruzelski lässt sich am besten erklären, wenn man sich an die Erfahrungen der Truppen des Warschauer Paktes in der CSSR im Jahre 1968 erinnert. In der Bundesrepublik Deutschland gab es unter Friedensforschern ähnliche Überlegungen wie diejenigen, die in Großbritannien zur Oxforder Civilian Defence Study Conference führten. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler befasste sich unter der Leitung des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäckers mit Studien zu den Schäden atomarer Kriegführung auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass die BRD einen atomaren Krieg als Industriegesellschaft nicht überdauern könnte. Spätere Studien zeigten, dass auch beim Großeinsatz nichtatomarer Mittel die Zerstörungen um ein vielfaches größer sein würden als bei den Bombardements des Zweiten Weltkriegs und dass Großbrände und damit verbundene chemische Reaktionen und Giftschwaden volksvernichtende Ausmaße annehmen würden. Aus der Einsicht in die Unmöglichkeit atomarer und konventioneller Kriegführung in modernen Industriegesellschaften ergab sich die Frage, ob man auf Waffen und Soldaten nicht von vornherein verzichten und - statt weiterhin Grenzen und Territorien zu schützen - die sozialen und freiheitlichen Errungenschaften eines Landes direkt verteidigen sollte durch den gewaltlosen Widerstand der Bewohner eines Landes. Aus europäischer Sicht war der Schutz von Grenzen nicht mehr möglich. Wie John Herz in "Weltpolitik in Atomzeitalter" betonte, verfügten die Territorialstaaten seit der Erfindung ferntragender Waffen - und insbesondere der atomar bestückten Raketen - nicht länger über eine "harte Schale", weil jeder Ort des angegriffenen Landes in kürzester Zeit von Vernichtung bedroht sein könnte. Zog man daraus die Konsequenz, auf militärische Verteidigung zu verzichten, dann waren die künftigen Träger des Widerstands
Der Gedanke der Verteidigung der staatlichen Souveränität wurde darum aber nicht aufgegeben. Diese Souveränität der sich verteidigenden Nationalstaaten sollte sich aus der obstinaten Weiterarbeit der gesetzlichen Organe ergeben bzw. sollte nach eventueller, zeitweiliger Unterdrückung aus dem Volkswiderstand neu erwachsen. Diese nichtmilitärischen Verteidigungskonzepte wurden unter Begriffen zusammengefasst, die meist einen Aspekt des Vorgehens besonders herausstellten. Es wurde von gewaltloser, nichtmilitärischer, ziviler und sozialer Verteidigung gesprochen. Gemeint war immer das Gleiche: Das Kennzeichen der neuen Verteidigungskonzepte war, dass ihre Träger nicht uniformierte Soldaten, sondern Zivilisten waren. Diese sollten auch nicht besonders mobilisiert werden, sondern in der Form einer "dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration" ihrer geregelten Arbeit nachgehen und zwar gemäß den demokratisch erlassenen Gesetzen. Den Befehlen der Usurpatoren sollten sie sich auf einfallsreiche Weise verweigern und eventuelle Lücken schließen. Damit dies jedoch - trotz Androhung von Sanktionen durch den Aggressor bzw. Usurpator - auch durchgehalten werden könne, sollten entsprechende Übungen in Form von Manövern abgehalten werden. Bei ungleichen Belastungen durch den Widerstand sollte auch für Entschädigungen Vorsorge getroffen werden. Von der Vorbereitung auf diese neuen Verteidigungsformen sollte eine - der Abschreckung vergleichbare - warnende Wirkung ausgehen. Diese warnende Wirkung sollte sich aus einer Mischung wirtschaftlicher und politischer Faktoren ergeben. Die tragende Überlegungen waren:
Die Kosten, welche durch gewaltlosen Widerstand verursacht werden, sollen den Aggressor bewegen, sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder zurückzuziehen. Bei der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Jahre 1923 zeigte es sich rasch, dass die Okkupation kein geeignetes Mittel war, Reparationen zu erzwingen. Die Kosten der Besetzung waren weit höher als der Wert der Kohlen, die von Deutschland gefordert und mit Zwangsmaßnahmen schließlich nach Frankreich transportiert wurden - unter Einsatz von militärischem und zivilem französischen Personal. Ansätze zur politischen Durchsetzung der Sozialen VerteidigungObwohl eine Reihe von Fallstudien erwiesen hat, dass der Widerstand von Zivilisten eine Besatzungsmacht oder einen einheimischen Usurpator daran hindern kann, seine Ziele zu erreichen, gibt es bis jetzt keine Regierung, welche sich die Abschaffung ihrer Armee zu Gunsten der Umstellung auf vorbereiteten zivilen Widerstand zum Ziel gesetzt hätte. Am weitesten hatte sich in dieser Richtung bisher in der Bundesrepublik Deutschland die Partei der "Grünen" vorgewagt. Sie erklärte in den 80er Jahren die "Soziale Verteidigung" (identisch mit nonviolent, civilian defence) zu ihrem ausschließlichen Verteidigungskonzept und fasste den Austritt aus der NATO ins Auge. Um die "Grünen" bei dieser Zielsetzung zu unterstützen, formierte sich 1989 der "Bund für Soziale Verteidigung", eine Dachorganisation pazifistischer Verbände, welche sich die Entwicklung und Durchsetzung dieses alternativen Verteidigungskonzeptes zum Ziel gesetzt hatten. Es zeigte sich, dass das Konzept auch in anderen Parteien Anhänger hatte, auch wenn diese keine Mehrheiten oder auch nur profilierte Arbeitsgruppen zu bilden vermochten. Im Vorfeld des Eintritts der "Grünen" in eine Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten, was sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre abzeichnete, wurden bei den "Grünen" die Vorstellungen einer alternativen, gewaltfreien Verteidigung von der Bildfläche verdrängt. Sie blieben aber latent vorhanden und wurden und werden vom "Bund für Soziale Verteidigung" weiter gefördert. Dies geschieht seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 vor allem durch die Entwicklung eines "Zivilen Friedensdienstes", der im In- und Ausland die Praxis der gewaltfreien Konfliktbearbeitung befördert. Die "Friedensfachkräfte" des Zivilen Friedensdienstes erhalten in Deutschland (mit staatlicher Unterstützung aus dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit) eine Ausbildung, welche einer Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung nahe kommt und die Ausgebildeten auch zur Sozialen Verteidigung befähigen dürfte. Die pragmatische Anwendung des zivilen Widerstands in der VerteidigungspolitikNeben den Überlegungen, auf militärische Mittel grundsätzlich zu verzichten, ja sie als unpraktikabel aus dem politischen Instrumentarium auszuscheiden, gab es in der Vergangenheit mehrere Fälle, in denen militärische Mittel fehlten oder ihr Einsatz - wegen des Ungleichgewichts der Kräfte - so aussichtslos gewesen wäre, dass ihr Einsatz sich von vornherein verbot. Als es im Jahre 1920 in Deutschland zum so genannten Kapp-Putsch kam, der von Freikorps getragen wurde, weigerte die Reichswehr sich, diesen Putschversuch militärisch zu bekämpfen. Ein Generalstreik der Arbeiterschaft und die Befehlsverweigerung der Beamten zwangen Kapp und seine Mitverschwörer zur Aufgabe. Als drei Jahre danach Frankreich und Belgien - trotz der Bedenken ihrer Verbündeten im Ersten Weltkrieg - das Ruhrgebiet besetzten, um Reparationsleistungen zu erzwingen, forderte die deutsche Regierung ihre Beamten auf, den Befehlen der Besatzungsmacht nicht zu gehorchen; auch Arbeiterschaft und Unternehmer weigerten sich, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Obwohl der "Ruhrkampf" nach einem halben Jahr abgebrochen werden musste, weil die finanziellen Kosten für die Reichsregierung zu hoch wurden und es zu einer galoppierenden Inflation kam, mussten auch die Besatzungsmächte einsehen, dass sie mit ihrem weitergehenden Ziel, das Ruhrgebiet aus dem Deutschen Reich herauszulösen, gescheitert waren und sie mit Deutschland zu einer Verständigung kommen mussten. Im Zweiten Weltkrieg kam es in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten vielfach zu unbewaffnetem Widerstand, der nach Auskunft deutscher Generäle schwerer zu überwinden war als die bewaffneten Einsätze von Guerillaorganisationen. Aus den Erfahrungen mit dem Widerstand der norwegischen Lehrer gegen die Gleichschaltungsversuche des Quisling-Regimes wurden auch Überlegungen zur Gestaltung einer unmilitärischen Verteidigungspolitik abgeleitet. Der Pionier bei der Entwicklung solcher Konzeptionen war der amerikanische Soziologe Gene Sharp, der in Norwegen geforscht und die Lehrer nach ihren Erfahrungen befragt hatte. Keines der Länder, die im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger positive Erfahrungen mit der Anwendung gewaltlosen Widerstand gemacht haben, hat nach dem Krieg daraus die Schlussfolgerung gezogen, auf die weitere Entwicklung militärischer Verteidigungskapazität zu verzichten und stattdessen eine neue Form der nichtmilitärischen, sozialen Verteidigung zu entwickeln. Die meisten zogen die Mitgliedschaft in der NATO oder eine Mischung von militärischen und zivilen Widerstandsformen - mit einem starken Übergewicht des militärischen Faktors - dem grundsätzlichen Ausscheiden von militärischen Mitteln vor. Das galt sogar für die baltischen Staaten, die zu Beginn der 90er Jahre bei ihrer Neugründung zunächst über keine militärischen Mittel verfügten und ihren Souveränitätsanspruch nur mittels zivilen Widerstands gegen Putschisten und eine drohende Fortsetzung der sowjetischen Okkupation behaupten konnten. Die Aufstellung und Vereidigung bewaffneter Streitkräfte war eine der ersten Amtshandlungen der souveränen Regierungen dieser Länder. Sie meinten, gerade durch die Bildung einer Armee ihren Souveränitätsanspruch unterstreichen zu müssen. Nach der Aufnahme von Litauen, Lettland und Estland in die NATO trat die nichtmilitärische Komponente bei den sicherheitspolitischen Erwägungen noch weiter zurück. Im Jahre 1992 hatte eine Delegation des deutschen Bundes für Soziale Verteidigung Litauen und Lettland noch bereist und mit Verantwortlichen für die Sicherheitspolitik gesprochen und Verständnis für die Betonung der Kampfkraft zivilen Widerstands gefunden. Auch Tschechien und die Slowakei haben aus ihren Erfahrungen mit dem gewaltlosen Widerstand gegen die Okkupanten im Sommer und Herbst des Jahres 1968 und aus dem Verschwinden der damaligen Besatzungsmächte nicht gefolgert, künftig die Komponente des zivilen Volkswiderstandes in der Verteidigungspolitik zu entwickeln. Für Polen und alle anderen ehemaligen Mitgliedsstaaten der UdSSR gilt dasselbe. Man könnte aus diesen Erfahrungen die Schlussfolgerung ableiten, dass der zivile Widerstand nur in Notsituationen - mangels Waffen oder bei hoffnungsloser militärischer Unterlegenheit - zum Einsatz kommt, aber keine Regierung und kein Volk freiwillig auf das Militär verzichten will. Man scheint auf Regierungsebene davor zu scheuen, die Möglichkeit einer nichtmilitärischen Sicherheitspolitik auch nur zu durchdenken, geschweige denn damit zu experimentieren durch die Förderung entsprechender Formen der Ausbildung und des Einsatzes in geeigneten Bereichen, wie es vom deutschen "Bund für Soziale Verteidigung" schon angeregt wurde - vor allem im Blick auf das Auftreten rechtsextremer Organisationen in einigen Ländern der Bundesrepublik. Wenn man auf die Anfänge der Forschung über den zivilen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik zurückblickt, dann kann man zwar feststellen, dass das Wissen um diese Möglichkeit zugenommen hat und man auch viele Erfahrungen mit gewaltfreien Aktionen in anderen Bereichen des sozialen Lebens auf sicherheitspolitischen Herausforderungen übertragen kann, es aber keine systematischen Anstrengungen gibt, eine umfassende zivile Alternative zum Militär zu entwickeln. Dabei gibt es mehrere Staaten auf der Erde, in denen die Existenz von Militär das eigentliche Problem bei der Entwicklung demokratischer Verhältnisse ist. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis in Anlehnung an Gandhis Konzept einer Shanti Sena in Ländern mit Militärdiktaturen von den Befreiungsbewegungen, die für die Menschenrechte und demokratische Strukturen eintreten, die völlige Abschaffung des Militärs und die Vorbereitung auf die Verteidigung demokratischer Errungenschaften mit zivilem Widerstand erwogen und ins Befreiungsprogramm aufgenommen wird. Literatur:
Quelle: Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit. Heft 156-157, 2008, S. 42-47. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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