Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“Ein Floh macht einem Löwen oft mehr zu schaffen als ein Löwe einem Floh”

Aktive Erinnerung an die friedliche Revolution

Von Rudolf Albrecht

"Erinnern ist das Entfachen des Feuers, nicht die Verehrung der Asche." Dieser Satz, den mir ein Freund kürzlich schrieb, lässt mich nicht mehr los - bei vielen wichtigen Erinnerungen an den Herbst 1989 in den vergangenen Wochen. Erinnern, nicht nur an die Riesenfreude damals, sondern an die herrlichen Möglichkeiten, die sich für heute ergeben. Wenn ich an den 9. November 1989 zurückdenke: Ich habe diesen großartigen Moment deutscher Geschichte verschlafen! An diesem Abend war in unserer Kirchgemeinde eine Sitzung des Kirchenvorstands, der oft bis Mitternacht tagte. Erst am Tag darauf hörte ich im Deutschlandfunk von diesen bahnbrechenden Vorgängen, etwas ungläubig, wie ich noch weiß. Viel eindrücklicher waren für mich im Herbst 1989 andere Momente, die ich hautnah erlebte: die "Gorbi, Gorbi!"-Rufe der Demonstrationen am 7. Oktober auf dem Dresdner Altmarkt, die durch die dicken Mauern der Kreuzkirche in ihr Inneres drangen, während ich mit weiteren Pfarrkollegen auf die Kopien einer Ansprache von Superintendent Christof Ziemer - einem der bekanntesten Köpfe der Dresdner Ereignisse - wartete, die er bei einer überfüllten Kreuzchorvesper gehalten hatte und die am nächsten Tag in den Gottesdiensten Dresdner Kirchen verlesen wurden. Dieser Moment beinhaltete eine Energie und einen Aufbruchswillen, der mit Worten kaum zu beschreiben ist.

Keiner der an den Andachten und Demonstrationen Beteiligten wusste in diesen bewegten Tagen genau, auf welches Wagnis er sich mit seiner Anwesenheit oder Mitwirkung einließ. Umso höher zu bewerten ist deshalb der zur Gewaltfreiheit und zum Dialog aufrufende Appell, den Christof Ziemer in seiner Ansprache an die Zuhörer richtete und der in seinem Kern brennende Fragen dieser Zeit auf den Punkt brachte. Ich möchte wesentliche Gedanken aus dieser Rede zitieren:

  1. Lasst uns der Versuchung zur Gewalt widerstehen. Gewalt zerstört alles, was uns teuer ist.
  2. Lasst uns der Versuchung zum Weggehen, zur Flucht widerstehen. Probleme werden nicht durch Trennung gelöst.
  3. Lasst uns bedenken, dass die langfristige Lösung des Problems in unserer Gesellschaft nicht durch kurzfristige Aktionen unmöglich gemacht werden darf.
  4. Lasst uns unsere Aufgabe als Friedensstifter erkennen und aufnehmen. Friedensfähigkeit heißt heute und jetzt Konfliktfähigkeit. Es gibt keine einfachen, glatten Lösungen.
  5. Lasst uns in allem, was wir denken, reden und tun, vom Geist des Evangeliums inspirieren und leiten.

… Rinnsale, Bach, Fluss, reißender Strom

So bleibt auch der 8. Oktober lebendig in Erinnerung und wie sich die Stimmung im Verlauf des Tages wandelte. Nach zahlreichen Verhaftungen von Demonstranten am Nachmittag kam abends der Umschwung: von der Konfrontation zum Dialog. Einen weiteren eindrücklichen Moment erlebte ich am darauffolgenden Tag, als Vertreter der Gruppe der 20 in der wieder überfüllten Kreuzkirche von ihrem Gespräch mit dem Oberbürgermeister berichteten, und dann kam die Nachrieht von der überwältigenden Demonstration von 70.000 Menschen in Leipzig!

Das sind für mich die großartigen vorherlaufenden Momente. Die Gruppe der 20 brachte mit den Forderungen der Demonstranten auf den Weg, was sich nicht mehr aufhalten oder gar "zurückdrehen" ließ: Reise-, Presse- und Wahlfreiheit, Einführung eines Zivildienstes, die Legalisierung des Neuen Forums, den offenen und gewaltfreien Dialog in der Gesellschaft, das Recht auf friedliche Demonstration, Freilassung der politischen Gefangenen. Was sich immer stärker in Bürgerversammlungen und Demonstrationen Bahn brach, gipfelte in der Großdemonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz, fünf Tage vor der Öffnung der Mauer. Der Mauerdurchbruch kam nicht aus heiterem Himmel, veranlasst durch ein schussliges ZK-Mitglied, sondern war die logische Folge des Drucks von der Straße.

Aktives Erinnern: Mich interessiert heute, wie sich der Umbruchswille zu solch einer gewaltigen Bewegung entwickeln konnte und an welchen Stellen wir als Einzelne an diesem Prozess beteiligt waren, so dass aus Rinnsalen ein Bach, ein Fluss und schließlich ein reißender Strom werden konnte. Ich stehe hier, als Initiator des Meißner Friedensseminars - auf das ich an späterer Stelle eingehen werde - und als ein Vertreter der kirchlichen Friedensarbeit Sachsens, der zu DDR-Zeiten junge Männer unterstützte, die im Konflikt zwischen ihrem christlichen Glauben und der Wehrpflicht standen.

Im Hinblick auf meine pazifistische Lebenshaltung hat mich die Zeit bei den Bausoldaten in den Jahren 1966/67 nachhaltig geprägt. Dieser waffenlose Dienst innerhalb der Nationalen Volksarmee, einmalig im Warschauer Pakt, ist eher eine "Notgeburt" (Bernd Eisenfeld) gewesen, denn als in der DDR 1962 die "Allgemeine Wehrpflicht" eingeführt wurde, erklärte das "Neue Deutschland", dass die "Waffenführung" die ehrenvollste "Beschäftigung" sei, von der nur "Körpergebrechlichkeit, Blödsinn oder das Verbrechen" ausschließen können. Dennoch wurde 1964 die "Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten" erlassen und im Gesetzblatt abgedruckt. Zu diesem "Sinneswandel" kam es, weil ca. 1.500 junge Menschen bei ihrer Musterung den bewaffneten Dienst abgelehnt hatten, trotz drohender Gefängnisstrafen. Der Bausoldatendienst war ein zweifelhafter Kompromiss. Eine wirklich pazifistische Haltung zu demonstrieren war uns nicht möglich, denn als Bausoldaten mussten wir ausschließlich "militärische Objekte" bauen, Flugplätze und Übungsanlagen für Panzer usw. Eine Totalverweigerung hätte uns zwei Jahre "sozialistischen Strafvollzug" eingebracht.

Das Thema des Bausoldatenkongresses, der 2004 in Potsdam stattfand, bringt diese Doppelbödigkeit auf den Punkt: "Zivilcourage und Kompromiss - Bausoldaten in der DDR 1964-1990". Genauso empfand ich die eineinhalb Jahre, die mich nachhaltig bestimmten. Mit dem "Nein" zur Waffe rückte ich ein, und mit dem "Ja" zum Friedensengagement kehrte ich zurück. Diese Erfahrung machten viele meiner Mitsoldaten. Was den leitenden DDR-Funktionären zunächst nicht bewusst war, zeigte sich später sehr deutlich: In der besonderen Situation des Bausoldatendienstes trafen sich viele junge Männer mit ähnlich pazifistischer Gesinnung, enge Freundschaften und Geistesverwandtschaften entstanden. So ist es nicht verwunderlich, dass viele ehemalige Bausoldaten Wegbereiter der DDR-Friedensbewegung wurden. Namen wie Harald Bretschneider, Mitinitiator der Friedensdekade und Auftraggeber des Symbols "Schwerter zu Pflugscharen", und Hans-Jörg Weigel, Gründer des ersten DDR-weiten Friedensseminars in Königswalde, sprechen von einer Langzeitwirkung. Mit beiden eint mich eine tiefe Verbindung der Freundschaft und Zusammenarbeit. Und dass Rainer Eppelmann, ebenfalls ehemaliger Bausoldat, in den letzten Monaten der DDR als Minister für Verteidigung und Abrüstung Generäle entließ, ist schon ein "Treppenwitz" der deutschen Geschichte, ein Kuriosum.

Wir haben nicht in einer Nische gelebt

Natürlich hat mich auch mein Beruf als Pfarrer sehr geprägt. Worte der Bibel haben in vielerlei Hinsicht mein Denken und Handeln bestimmt - und tun es noch heute. Sätze wie "Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" (2. Timotheusbrief 1,7) und "Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen" (Matthäus 5,9) sind für mich nicht nur goldene, zeitlose Worte, sondern mitten hinein in bedrängende Situationen gesprochen. Die Seligpreisung - das Wort Jesu - war die Jahreslosung 1983, also für das Jahr der Hochrüstung mit SS 20- und Pershing-Raketen. Bei meiner Ablehnung jeglicher Waffen und jeder Armee bis heute ging es mir nicht um eine "reine Weste" oder ähnliches. Ich orientierte mich an dem Jesuswort (Lukas 9,55): "Der Menschensohn - Jesus - ist nicht gekommen, Menschenleben zu vernichten, sondern zu retten." Also: Leben erhalten und fördern, nicht bedrohen oder vernichten! Ohne die Bibel und ohne das Beispiel Jesu Christi hätte ich nicht so eindeutig meine Position gefunden.

Und was für ein guter Beruf war es, Pfarrer zu sein: nahe an den Menschen mit ihren Alltagsproblemen, Gemeinschaft mit vielen, die Möglichkeit, Demokratie einzuüben in einem diktatorischen Staat! Wie viele Pfarrer nach der Wahl zur Volkskammer im März 1990 in die Politik gegangen sind. Wie viele Zivilcourage gefördert und gelebt haben. Die geläufige Behauptung, die Kirche hätte in der DDR ein Nischen-Dasein geführt, ist unhaltbar. Natürlich konnten wir nicht uneingeschränkt in die Öffentlichkeit treten, abgesehen vom Olof-Palme-Marsch für einen atomwaffenfreien Korridor im Jahr 1987, wo wir erstmals mit eigenen Plakaten auf die Straße und zur Schlussveranstaltung auf den Dresdner Schlossplatz gehen durften. Erhard Eppler hat uns 1984 "getröstet": Nehmt es nicht so tragisch, wenn ihr eure Meinung nicht offen bekunden dürft. Bei euch schaffen schon einige tausend Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" Aufsehen, während in Westdeutschland 110.000 auf die Straße kommen müssen - wie bei der Menschenkette 1983 von Ulm nach Stuttgart -, damit es die Medien gebührend registrieren (Anm. d. Red.: An dieser Menschenkette haben sich ca. 300.000 Menschen beteiligt, die Strecke von Neu-Ulm nach Stuttgart ist 110 Kilometer lang). Aber wir waren oft präsent, zum Beispiel 1980 beim Komsomol-/FDJ-Treffen - hier in Karl-Marx-Stadt - mit Diskussionsangeboten in den Innenstadtkirchen, die zum Teil rege angenommen wurden. Wir waren präsent durch Kirchentage in Dresden und Leipzig, und Präsenz zeigten wir auch durch Junge-Gemeinde- und Friedensgruppen, die Anlaufpunkt für viele Nichtchristen waren.

"Immer dieses Abschieben der Verantwortung!"

Prägend für mein Engagement in der Friedensarbeit war ebenso das Nachdenken über Gewaltfreiheit. Mit Martin Luther King begann es in den 1960er Jahren. Sein Buch "Warum wir nicht warten können" und seine Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1964 mit dem Titel "Die neue Richtung unseres Zeitalters" wurden sogar im Union-Verlag gedruckt. Ein für mich zentraler Satz war darin: "Gewalt ist unzweckmäßig, weil sie eine Schraube ist, die im Untergang aller endet (…). Sie erzeugt Bitterkeit in den Überlebenden und Brutalität in den Zerstörern." Bestärkt wurde ich 1983 durch ein Seminar mit der aus Wien stammenden Hildegard Goss-Mayr, der Präsidentin des Internationalen Versöhnungsbundes, die über die Quäker eine Einladung in die DDR erhielt. Wenn das ZK der SED das mitbekommen hätte!

Die Worte des Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann kurz vor seinem Tod in einem "Spiegel"-Interview sind in den vergangenen Wochen oft erwähnt oder zitiert worden: "Der gewaltfreie Aufstand hat uns überrascht. Darauf waren wir nicht vorbereitet." In Goss-Mayrs Seminar ging es nicht nur um zivilen Ungehorsam gegenüber den Politikern, sondern auch um das konstruktive Programm. Die Suche nach gewaltfreien Positionen wurde immer bedeutsamer (was man ablehnt, weiß man sowieso schneller und präziser auszudrücken). Da habe ich noch Christa Wolfs Worte an einen Friedensengagierten in Freiburg/Baden in Erinnerung, der angesichts der Raketenstationierung 1983 resignierte: "Unter dem Druck der Gefahr wächst die Intensität des Nachdenkens, Suchens, Zusammenlebens (…). Was ignoriert und geleugnet wird, müssen wir schaffen: Freundlichkeit, Würde, Vertrauen, Spontaneität, Anmut, Duft, Klang, Poesie, das eigentümlich menschliche."

Positionen zu suchen, die hoffnungsvoll gelebt werden können, war mir überaus wichtig bei Vorträgen oder auch, wenn ich mit Diakonenschülern über "Seelsorge an Wehrpflichtigen" oder mit angehenden Pfarrern über "Friedensethik" diskutierte. Wiederum bezog ich mich auf Jesu Wort aus Lukas 9,55f.: Friedenserziehung heißt Mut zur Verweigerung (und zwar dort, wo Leben bedroht oder vernichtet wird), heißt Ablehnung der gewaltsamen Austragung von Konflikten; heißt Ablehnung der Waffe, der Hasserziehung und der Zivilverteidigung als drastische Verharmlosung der Kriegsfolgen, Friedenserziehung heißt zugleich, Positionen zu beziehen, um Leben zu erhalten: Dialogbereitschaft, Solidarität und Opferbereitschaft, "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer), praktisch Leben fördern, "Jahr für Gott", was heute freiwilliges soziales Jahr genannt wird, Mitarbeit in gesellschaftlichen Organisationen, z.B. im Gemeinderat, und Vergebungsbereitschaft.

Mit der Ermutigung zur Zivilcourage sah es allerdings bis Ende der 1970er Jahre nicht gut aus. Zu sehr wirkten sich die Erfahrungen von zwei Diktaturen nacheinander aus. Eltern sagten ihren Kindern nach ihren Erfahrungen im Dritten Reich: Fallt nicht zu sehr auf mit eurer Meinung! Und es waren wenige, die nicht "alles mitmachten", die sich nur konfirmieren ließen, die nicht mehr bei den Pionieren oder der FDJ waren, die den 1978 eingeführten Wehrunterricht der neunten Klasse ablehnten, die bei den "Wahlen" nicht hingingen oder die Kabine aufsuchten. Bei der Ablehnung der militärischen Ausbildung war es ähnlich: Man hatte Angst um die berufliche Entwicklung der Kinder.

Wenn ich bei Vorträgen oder Gesprächsrunden auf die Zivilcourage zu sprechen kam, begann ich gern mit einem Bonmot aus der Satirezeitschrift "Eulenspiegel": 100 Kilometer nördlich von Berlin liegt eine kleine Gemeinde, Boitzenburg. Dort steht ein sehr schönes altes Haus aus dem 17. Jahrhundert mit einem geschnitzten Spruch in einem der tragenden Balken: "Gott bewahre dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus." Inzwischen hat der Rat der Gemeinde dort seinen Einzug gehalten. Es steht also ein Schild darunter "Rat der Gemeinde Boitzenburg - Deutsche Volkspolizei". Einer hat das fotografiert und dem "Eulenspiegel" zugeschickt. Und der "Eulenspiegel" schrieb unter das veröffentlichte Bild: "Immer dieses Abschieben der Verantwortung!"

"Uniformierte und Uninformierte"

In den 1980er Jahren änderte sich die Situation. Die Frage nach Alternativen wurde lauter, auch durch die Solidarnosc-Bewegung im Nachbarland angestoßen. Der Druck, der durch die Forderung einer militärischen Erziehung von 0 bis 35 Jahren aufgebaut wurde - so das Thema einer wehrpolitischen Vorlesung an der Leipziger Universität -, ließ viele Eltern nachdenklich werden und nach anderen Möglichkeiten suchen. Nach 1980 war ich oft in Dresdner Kirchgemeinden unterwegs mit den Themen "Ob Frieden wird, das liegt an mir!" oder auch "Uniformierte und Uninformierte". Um Zivilcourage zu fördern, war mir ein Gedicht von Erich Fried mit dem Titel "Gründe" hilfreich: "Weil das alles nicht hilft / sie tun ja doch, was sie wollen / weil ich mir nicht nochmals die Finger verbrennen will / weil ich das lieber Berufeneren über lasse / weil man nie weiß, wie einem das schaden kann / weil jedes Schlechte vielleicht auch sein Gutes hat" - und noch sechs weitere Gründe, die er zugespitzt als Todesursachen bezeichnete. Mit den Jahren wuchs die Einsicht in die eigenen Möglichkeiten, und die Angst dominierte weniger. Zivilcourage wuchs, besonders auch bei jungen Leuten.

Das erlebte ich besonders beim Meißner Friedensseminar. In Sachsen hatten Friedensseminare ein besonderes Gewicht. Zwei Wochenenden im Jahr zogen sie DDR-weit viele Menschen an, besonders Jugendliche, die unter der massiven Werbung für das Militär litten. Das erste Seminar hatte ich 1973 in Königswalde, Kreis Werdau, mit aus der Taufe gehoben. 1975 begann ich in Meißen mit 15 Leuten. In den 1980er Jahren beteiligten sich 350 bis 400 Menschen an den Seminaren. Ich bin heute noch dem Vorbereitungskreis dankbar, der auf 15 Personen anwuchs und Ideen und Organisationstalent einbrachte. Und ich danke der Kirche, dass sie Vervielfältigung von wichtigen Informationen nicht bremste. Das "Seminar" wurde wirklich zu einer "Pflanzschule", wie es wörtlich übersetzt heißt. Themen aus dem christlichen und dem politischen Bereich standen im Mittelpunkt: "Krieg und Frieden im Blickwinkel des Marxismus-Leninismus", "Frieden im Neuen Testament", "wenn wir keine Feinde hätten, müssten wir sie erfinden", "Leben mit Konflikten", "Provokation zur Güte", "Pazifismus in der aktuellen Friedensdiskussion", "Gewaltfreiheit mit aller Gewalt". Spannend wurde es 1987 mit dem Thema "Neues Denken in der Politik!". Christlich und politisch, darum ging es uns immer. Als fester Bestandteil des Friedensseminars galt die "Ermutigungsrunde". Teilnehmer konnten berichten, was sie beim "Friedens schaffen ohne Waffen" versucht bzw. erlebt hatten, um anderen einen Anstoß zu geben. Ein holländischer Gast beschrieb, was er in Meißen erlebt hat: Inspiration, Ermutigung, Geselligkeit. Ja, wir versuchten auch immer, Frieden zu leben und zu feiern.

"… da wurde der Gesprächspartner sehr laut"

Beim Thema "Neues Denken in der Politik" vom 11./12. April 1987 möchte ich noch etwas verweilen. Einen Tag vor Beginn des Seminars wurde ich ins Landeskirchenamt bestellt. Ich erfuhr von Oberkirchenrat Hartmut Rau, dass der Vertreter für Kirchenfragen beim Bezirk Dresden kurzfristig verlangt hatte, das Thema abzusetzen. Das sei kein Thema für ein christliches Friedensseminar! Als Herr Rau erfuhr, dass wir am Sonntag über "Leben und Bleiben in unserer Gesellschaft" - bei den vielen Ausreiseanträgen auch ein Brennpunkt - nachdenken und predigen wollten, gab er kurzerhand dies als neues Thema weiter. So konnten wir uns am Samstag im Referat und in den Gruppengesprächen in aller Breite dem "Neuen Denken" widmen. Die Fragen für die Gruppen hatte der Friedenskreis Dresden/Johannstadt erarbeitet: 1. Ist in der DDR ein Demokratisierungsprozess im Sinne der in der UdSSR praktizierten Offenheit, Kritik und Selbstkritik notwendig und möglich? 2. Wer kann Träger einer solchen geistigen Erneuerung sein? 3. Wäre ich bereit, einen solchen von der Partei eingeleiteten Prozess durch Übernahme von Funktionen verantwortungsbewusst mitzutragen? 4. Wie können die Christen und die Kirche in der DDR den Geist der Offenheit schon heute praktizieren, und welche Möglichkeiten und Grenzen sehe ich dabei?

Erstmals hatten über 200 Teilnehmer eine Eingabe an Erich Honecker direkt geschickt. Wir dankten ihm, dass er sich um den Dialog auf hoher politischer Ebene bemühte, um Vertrauen zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zu fördern. Wir baten darum, sich auch für einen Dialog im Inneren einzusetzen. "Wir sind überzeugt, dass eine ständige öffentliche Volksaussprache im Geist der uneingeschränkten Wahrheitsfindung, Kritik und Selbstkritik auch bei uns notwendig ist (…)." Natürlich erhielten wir keine Antwort. Stattdessen folgte ein Eklat. Der Präsident des Landeskirchenamts, Kurt Domsch, und Hartmut Rau wurden zum Rat des Bezirks Dresden einbestellt. Sie hätten nichts getan, um das zu verhindern. Als Herr Domsch sagte: Bisher hieß es doch immer "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen", da wurde der Gesprächspartner sehr laut. Das sei ja das Letzte, dass die Kirchenleitung sich noch mit uns solidarisiere! Fünf Tage nach dem Seminar legte die Stasi-Bezirksstelle einen Maßnahmenplan vor: Der Referent sei aus der DDR "rauszuschmeißen" (so die Notiz am Rand), was Ende April 1987 auch von einem Tag zum anderen geschah; der Friedenskreis Dresden/Johannstadt sollte zerschlagen werden; bei mir wollte man "den innerkirchlichen Differenzierungsprozess" nutzen, mich also beim Landeskirchenamt anschwärzen. Ich bin heute noch froh, dass mir Hartmut Rau keine Auflagen machte, sondern uns Rückendeckung gab und uns das Friedensseminar wie geplant durchführen ließ.

"Lieber übernächtigt als überwacht"

Das Seminar kürzten wir später gern "MFS" ab, natürlich nicht "Ministerium für Staatssicherheit", sondern "Meißner Friedensseminar". Apropos Staatssicherheit: Zum Glück wussten wir nicht, wie stark wir beschattet wurden (Stoßseufzer: "Lieber übernächtigt als überwacht!"). Natürlich versuchte der Stasi-Apparat alles, um uns "feindlich-negative Kräfte" - so sein Jargon - zu bremsen. Ein Major schrieb 1985 eine Diplomarbeit zu dem "packenden" Thema: "Die politisch-operative Lageeinschätzung zum ‚Friedensseminar Meißen’ und Erfordernisse der politisch-operativen Bearbeitung seiner Organisatoren zur vorbeugenden Verhinderung und Zurückdrängung ihres feindlich-negativen Wirksamwerdens". In diesem Duktus - die Wortungetüme und Genitivverbindungen wurden aus dem Stil der "Prawda" entlehnt - geht es 75 Seiten lang weiter. Drei Friedensseminare gerieten ins Visier der "Studie". Beklagt wurde, dass das Recht auf Religionsausübung missbraucht würde (z.B. offene Fürbitte für inhaftierte Reserveverweigerer). "Diese Vorgehensweise lässt die Zielsetzung erkennen. Wenn auch verdeckt, die Jugendlichen in Konfrontation mit dem sozialistischen Staat zu bringen. (…) So wird die Gefährlichkeit, Demagogie und aufwieglerische politisch-ideologische Beeinflussung der Jugendlichen durch die reaktionären Vertreter der Kirche sichtbar." Es sollten dann Straftatbestände ermittelt werden. Der § 107 StGB - Zusammenschluss von Personen, die sich eine verfassungsfeindliche Tätigkeit zum Ziel setzen - wird oft erwähnt - bis hin zu "Maßnahmen der Zersetzung und Liquidierung feindlich-negativer Kräfte des ‚Friedensseminars Meißen’". Durch Inoffizielle Mitarbeiter sollten zu den Organisatoren Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden, bis dahin, dass man einen IM ins Theologiestudium lancieren wollte! Alles das hat Gott sei Dank nicht gegriffen.

Es freute mich im Nachhinein, in meinen Stasi-Unterlagen zu finden, dass ich als operativer Vorgang "Pazifist" beobachtet wurde. Besser konnten sie mein Anliegen nicht kodieren! Manchmal wurden sechs Inoffizielle Mitarbeiter nach Meißen beordert; das war ein riesiger Aufwand für das Ministerium für Staatssicherheit Da ich selbst nicht psychisch oder physisch geschädigt wurde, erinnere ich gerne an das afrikanische Sprichwort: Ein Floh macht einem Löwen oft mehr zu schaffen als ein Löwe einem Floh.

Ja, Sachsen hat eine besondere Rolle für die Friedensrevolution gespielt. So wurde auch jetzt bei den Feiern zum 9. November in Berlin die Vorreiterfunktion Sachsens wieder genannt. Aber meist fällt nur das Stichwort "Leipzig", wo am 9. Oktober 1989 der Durchbruch gegen das bedrohliche und Angst schürende SED-System gelang. Aber andere Orte wie Königswalde, Werdau, Zwickau, Meißen, Großhennersdorf, Zittau, Pirna und Löbau (Orte kurzzeitiger Friedensseminare) werden nicht oder zu wenig gewürdigt. Plauen, wo am 7. Oktober 1989 erstmals der Umschwung von der Konfrontation zum Dialog gelang, kommt langsam in den Blick.

Und Dresden!

Und Dresden! Als wenn es da weniger spektakuläre Ereignisse gegeben hätte als in Leipzig. Gerade von Dresden gingen entscheidende Impulse aus. Christof Ziemer, dessen Zivilcourage ich viel verdanke, sagte später auf einen Vorwurf, wir wären in Dresden zu vorsichtig gewesen: "Ich hatte keine besondere Intention, Dinge groß publik zu machen, d.h. mittels des Westfernsehens Dinge zu bewegen, was sehr häufig die Taktik der Berliner oder auch der Jenaer gewesen ist. Wir haben einen etwas leiseren Weg, aber mit längerem Atem angestrebt." Das war auch mein Bestreben: nicht so viel Action nach draußen, sondern Bewusstseinsänderung hin zu Zivilcourage und zu einem gewaltfreien Weg - und dabei viele geistliche Impulse aufnehmend. Am 13. Februar, dem Gedenklag an die Zerstörung Dresdens, stand bald nicht mehr nur ein Konzert des Kreuzchors im Mittelpunkt, sondern ein Gedenkgottesdienst, zu dem Tausende strömten - abwechselnd in der Kreuzkirche und in der Kathedrale. Mit der Friedensdekade von 1980 an wurde großes Gewicht auf Friedensgebete gelegt und in vielen Gemeinden in der DDR dazu eingeladen. Als 1983 in West und Ost Raketen stationiert wurden und manche Friedensbewegte resignierten, begannen wir in jenem Herbst mit einem unaufhörlichen Tag-Nacht-Gebet über zwei Monate, später dann während der Friedensdekade. Das sind nur einige Beispiele. Information und Gebet, Meditation und Aktion, wie es bei gewaltfreien Bewegungen bisher gehalten wurde, z.B. in den USA und auf den Philippinen: Tatsächlich konnten wir so einen langen Atem bekommen und behalten. Von Anfang an war das geistliche, spirituelle Element in unserer Arbeit unabdingbar.

Und drei Initiativen förderten von Dresden aus den Aufbruch aus den Kirchen, von der evangelischen Kirche angestoßen. 1980 riefen zwei Pfarrer und ein Superintendent aus Dresden zu einem "Sozialen Friedensdienst" (SoFD) auf. Kirchen sollten sich einsetzen, dass anstelle eines 18-monatigen bewaffneten oder waffenlosen Diensts in der Armee ein 24-monatiger Dienst in Alters- und Pflegeheimen möglich wurde. Über 5.000 Jugendliche schrieben an ihre Synoden und baten, sich dafür einzusetzen. Die Diskussion darüber wurde sofort gestoppt. ZK-Mitglied Werner Walde reagierte scharf ablehnend: "Die ganze DDR ist ein sozialer Friedensdienst!" Aber die vielen Eingaben nötigten die Synoden der acht Landeskirchen und auch die Bundessynode, sich danach über Jahre hinweg mit dem Friedensthema in verschiedenen Bereichen zu befassen: Frieden und Menschenrechte, Frieden und gemeinsame Sicherheit, Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung.

Schwerter zu Pflugscharen

Als zweites begann ebenfalls 1980 die Friedensdekade DDR-weit. Die acht Landesjugendpfarrer griffen den Vorschlag Schwedens auf, den Bußtag als Abrüstungstag zu gestalten, weiteten das Nachdenken, Diskutieren und Beten auf zehn Tage aus. Harald Bretschneider, der sächsische Landesjugendpfarrer, beriet sich mit Hansjörg Weigel, Friedensseminar Königswalde, und mir. Wir sprachen uns für das biblische Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" (Jesaja 2,2 bzw. Micha 4,3) als Symbol für die Friedensdekade aus. "Der gefährliche Schmied" - so der Titel einer Wanderausstellung zum 25. Jubiläum von "Schwerter zu Pflugscharen" - war ein Geschenk Nikita Chruschtschows an die Uno und ist bis heute im Park der Uno zu sehen. Harald Bretschneider war jahrelang Dorfpfarrer in der Nähe von Herrnhut gewesen. Er kannte die Druckerei der Brüdergemeinde und wusste, dass Vliesdruck als Textiloberflächenveredelung deklariert wurde und somit - anders als bei jedem Blatt Papier - keine Druckgenehmigung eingeholt werden musste. Er ließ 100.000 Buchzeichen drucken und im Jahr darauf 200.000, davon 120.000 der bekannten Aufnäher. Sie trafen die Sehnsucht vieler Jugendlicher. Die Aufnäher wurden uns zuletzt quasi aus der Hand gerissen. Jugendliche konnten so ihren Wunsch nach Frieden und Abrüstung in die Öffentlichkeit tragen, bis es die SED unterband. Lehrer und Polizisten verlangten, die Aufnäher von den Jacken zu entfernen. Wer dies nicht tat, musste Repressalien befürchten: Lehrverträge wurden gekündigt; manche durften das Abitur nicht ablegen, es kam gar zu Exmatrikulationen von Studenten. "Schwerter zu Pflugscharen" blieb das Symbol der DDR-Friedensbewegung und bis heute das Symbol der Friedensdekade.

Eine dritte bahnbrechende Initiative aus Dresden: die ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. 1983 bei der Weltkirchenkonferenz in Vancouver, Kanada, hatten DDR-Delegierte einen weltweiten "Konziliaren Prozess" zu diesen Überlebensfragen der Menschheit angeregt, der dann auch beschlossen wurde. 1986 kamen aus Dresden der Aufruf zur ökumenischen Versammlung und die Einladung nach Dresden. Es wurde wiederum die breite Basis einbezogen. Über 10.000 Unterschriften aus den DDR-Gemeinden regten an, welche Themen bearbeitet werden wollten. Am 13. Februar 1988, mit dem Gedenkgottesdienst zur Zerstörung Dresdens in der überfüllten Kreuzkirche, begann die Versammlung. Die aufrüttelnden "Zeugnisse der Betroffenheit" vergesse ich nicht. Welcher Mut bei den Verfassern, die Ungerechtigkeiten, die Militarisierung oder auch die Umweltsünden öffentlich zu machen! 150 Delegierte und ihre Berater erarbeiteten 11 Texte, die nach der zweiten Versammlung im Oktober in Magdeburg den Kirchgemeinden vorgelegt wurden. So ließ sich wieder von der Basis her Einfluss nehmen. Der Text "Mehr Gerechtigkeit in der DDR" sollte durch staatliche Intervention am Schlusstag an der Veröffentlichung gehindert werden. Aber die Delegierten ließen sich nicht einschüchtern, allen voran Bischof Hempel, der dieses Ansinnen gleich öffentlich machte. Welch erhebendes Gefühl, als alle 19 Kirchen- und Religionsgemeinschaften die Texte annahmen. Wenn es dann schien, als hätte der turbulente Herbst und das Ende der DDR die Umsetzung der Texte verhindert, so trügt dieser Eindruck. Viele der Delegierten und Berater wurden in den folgenden Monaten politisch aktiv. Die Texte fanden sich in verschiedenen Programmen der neu entstandenen Initiativen und Parteien im Herbst 1989 wieder. So ist eine direkte und schnelle Umsetzung der wichtigen Erkenntnisse möglich geworden.

Mir sei an dieser Stelle erlaubt, aus einigen damals zentralen Texten zu zitieren, in denen ich mein Anliegen besonders aufgenommen sah. So heißt es in einem grundlegenden Text: "(…) der gewaltfeie Weg des Friedens Christi und die schon erkennbare politische Vernünftigkeit gewaltfreier Konfliktregulierung weisen Kirchen und Christen vorrangig auf gewaltfreie Wege des Friedensdienstes. Als Grundorientierung in den Fragen des Friedens vertreten wir deshalb eine vorrangige Option (d.h. Verpflichtung) für die Gewaltfreiheit." Und in dem Text "Orientierung und Hilfen zur Entscheidung in Fragen des Wehrdienstes und der vormilitärischen Ausbildung" stehen die deutlichsten Worte, die den DDR-Kirchen in ihrer Gesamtheit jemals zum Thema Gewaltfreiheit gesagt haben - nach langem, zähem und teils hartem Ringen! "Das Evangelium zeigt uns den Weg Jesu als Weg der Liebe, für den die Gewaltfreiheit ein entscheidendes Kennzeichen ist. (…) Wer im Vertrauen auf diesen Weg in unserer Welt auf die Androhung und Anwendung von Gewalt verzichtet, bezeugt damit den unter uns schon gegenwärtigen Frieden Gottes. (…) Diesen Weg erkennt die Kirche als eine Gestalt der Nachfolge Jesu, die in ihrer Deutlichkeit von keiner anderen Entscheidung übertroffen wird." Und bei den Konkretionen, bei den einzelnen Entscheidungsmöglichkeiten - Dienst mit oder ohne Waffe, Totalverweigerung - wird die Wehrdienstverweigerung an erster Stelle genannt Es heißt dort: "Wehrpflichtige, die in der heutigen Situation Wehrdienst verweigern und ihre Entscheidung vom Evangelium her begründen, geben ein Zeugnis der Gewaltfreiheit. Sie handeln im Vorgriff auf eine zukünftige Weltfriedensordnung und leisten damit einen prophetischen Dienst"

Hätte Krenz von 92 Prozent gesprochen…

Hier klingt die rasante Entwicklung der politischen Ereignisse in den Jahren 1989 und 1990 schon an, beschleunigt durch den Wahlbetrug am 7. Mai 1989. Als Egon Krenz am Abend verkündete, 98,75 Prozent der Wähler hätten für die Einheitsliste der Nationalen Front gestimmt, wurde vielen schnell deutlich, dass es sich hierbei um einen gravierenden Wahlbetrug handelte. Erstmals war es gelungen, dass in über 1.000 Wahllokalen jemand von den Basisgruppen bei den Auszählungen der Wahlstimmen dabei war, und dass die einzelnen Ergebnisse ausgetauscht wurden. Hätte Krenz von einem 92-Prozent-Ergebnis gesprochen, hätten wir gesagt: Das glauben wir nicht, aber wir können das Gegenteil nicht nachweisen. So aber war der Betrug offenkundig. Was hatten wir vor der Wahl mit Gemeindemitgliedern diskutiert! Warum dauerte es Jahrzehnte, bis viele Leute in die Wahlkabinen gingen und nicht mehr gefaltete Zettel in die Urnen warfen? Es war die Angst, dass auf Listen hinter dem Namen der Kabinenbenutzer ein Kreuzchen gemacht wurde. Rentner hatten Angst, keine Genehmigung mehr für Reisen nach Westdeutschland zu erhalten. Studenten befürchteten eine Exmatrikulation wegen einer Lappalie und Berufstätige eine Notiz in ihrer Kaderakte. Nun wurde endlich die Angst überwunden.

Die Haltung der Leitenden in der Kirche gegenüber den Basisgruppen möchte ich aus meiner Sicht kommentieren: Das Verhältnis war nicht immer spannungsfrei, vor allem, wenn Vertreter der Gruppen "vorpreschten" und der Kirchenvorstand einer Gemeinde oder die Kirchenbehörde später die Vorwürfe der SED auf den Tisch bekamen. Aber wir erlebten oft Rückendeckung für unsere Vorhaben (wie z.B. Meißner Friedensseminar). Und Kirchen haben Einzelne immer vor staatlichen Stellen gedeckt und verteidigt. "Sie haben sich vor sie gestellt, ohne sich immer hinter sie stellen zu können." (Bischof Werner Krusche) Dass die Kirchen diesen Konflikt ausgehalten haben, ist eine große Gnade. So sind sie glaubhaft geblieben und haben Kredit auch bei Nicht-Christen gewonnen. Und sie haben über einen langen Zeitraum viel für eine demokratische Meinungsbildung getan. (Dass die Volkskammer nach der ersten freien Wahl im März 1990 "fromm" geworden ist - von den 400 Abgeordneten waren 22 Pfarrer! -, das liegt auch an der Vorarbeit in den Kirchen und Gemeinden.) Ganz wichtig für das Verhältnis von Gruppen und Kirchenleitung finde ich, dass während der ökumenischen Versammlung 1988/89 Vertreter der Kirchenleitungen und der Basis 15 Monate lang in Kommissionen zusammenarbeiteten, so dass kein Keil zwischen beide getrieben werden konnte. (Vorher hörte man manchmal an der Basis: "Ja, oben, bei den Staatsempfangen, gibt’s Cocktails und unten Magenbitter!"). Im Gegenteil: Die gegenseitige Wertschätzung wuchs. Man merkte, dass Bischöfe eine Gesamtverantwortung hatten, wenn sie etwas bremsten, und dass Basisdelegierte nicht "Chaoten" waren, sondern Experten und sensible Menschen. Bischof Johannes Hempel sagte im Frühjahr 1990 in Genf in einem Resümee: "Es gehört zu den wesentlichen Ergebnissen der ‚schweren Monate’ des Herbstes 1989, dass Kirchenleitungen die ‚Basisgruppen’ real brauchen, wenn sie gemeinsam Kirche Christi bleiben wollen."

Zuvor wurde nochmals Angst verbreitet, als Egon Krenz im Frühsommer 1989 nach dem Massaker in Peking auf dem "Platz des himmlischen Friedens" eine "chinesische Lösung" auch in der DDR für denkbar hielt. Da ist mir der Mut junger Leute unvergesslich, die beim Trommeln für China dabei waren oder bei anderen Demonstrationen, kurzzeitig verhaftet wurden und eine immense Ordnungsstrafe aufgebürdet bekamen. Auch hier bleibt mir die solidarische Haltung der Kirche in Erinnerung, wie zuvor schon bei den Fürbittlisten. (Wurden Verweigerer verhaftet, bekamen die Kirchengemeinden über viele Jahre ihre Namen mitgeteilt, damit in den Gottesdiensten für sie gebetet werden konnte.) Eine exorbitante Summe von 90.000 Mark als Ordnungsstrafe war ausgesprochen worden. Aber nach einem Aufruf der drei Dresdner Superintendenten sammelten die Kirchengemeinden in Dresden 130.000 Mark - und die beabsichtigte Einschüchterung verpuffte!

Weiter wurde die Entwicklung dadurch beschleunigt, dass wir wussten: Gorbatschow schickt keine russischen Panzer. (Die Breschnew-Doktrin, 1968 in Prag angewandt, war nach der Niederlage der Sowjets im Frühjahr 1989 in Afghanistan offenkundig außer Kraft gesetzt.) Und dann die offene Grenze und der Exodus vieler Ausreisewilliger über Ungarn! Im September diskutierten wir bei einem Fest von drei Gemeinden die Thesen des Magdeburger Bischofs Demke, die sogar in einer Kirchenzeitung abgedruckt waren: Was sich unbedingt ändern muss - was bleiben kann. Und eine Gruppe Erwachsener spielte frei nach Gebrüder Grimm: "Von einem, der hier bleibt, das Fürchten zu lernen".

Keine Gewalt! - gepredigt, erbeten und gelebt

Über die Friedensgebete, die nicht nur in der Leipziger Nikolaikirche Tradition hatten, ist viel geschrieben und berichtet worden. Mir haben sie auch entscheidend geholfen, Angst zu bewältigen und Menschen zum Sprechen zu befähigen. Kirchen waren in dieser Zeit fast der einzige Raum, in dem politische Gedanken ungestört entwickelt werden konnten. Und was für ein Glück, dass sich die Gebetsandachten in den Kirchen als Ausgangspunkte für Demonstrationen erwiesen. So konnte die Botschaft der Bergpredigt Jesu: "Keine Gewalt!" und "Liebet eure Feinde" vertieft werden und die Atmosphäre auf der Straße bestimmen. Keine Gewalt - das wurde gepredigt, erbeten und gelebt.

Das schnelle Ende des DDR-Systems hat mich dann doch sehr überrascht. Ich hatte im November den Aufruf mit dem Titel "Für unser Land" von Christa Wolf und Friedrich Schorlemmer mit unterzeichnet, der die Wandlung des Realsozialismus zu einem demokratischen Sozialismus gefordert hatte. Vielleicht lag es mit daran, dass ich kein Oppositioneller war, der das System insgesamt ablehnte, auch wenn ich wegen "P.U.T" ("Politischer Untergrundtätigkeit") beschattet wurde. Sicher schwang da die Erfahrung aus dem Sommer 1968 mit, vor dem Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei: das Erlebnis eines Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Den Sozialismus als Gesellschaftsordnung mit dem "vom Ich zum Wir" hatte ich nicht abgelehnt - da fand ich im Neuen Testament viele Anklänge. Aber mir war entgangen, dass "Sozialismus" inzwischen für große Teile der Bevölkerung zum Unwort wurde und dass ihre Augen bei "blühenden Landschaften" leuchteten. Durch eine Kur im November/Dezember 1989 war ich weit weg vom alltäglichen Geschehen. Wie war ich überrascht, als ich zum ersten Advent bei der Menschenkette quer durch die DDR Plakate mit der Aufschrift "Wir sind ein Volk" sah und die schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Emblem geschwenkt wurden. Dieser Umschwung ging mir zu schnell!

Ich erinnere mich an einen Gemeindeabend im Januar 1990, als wir uns in Vorbereitung auf die Wahl zur Volkskammer mit den einzelnen Parteien befassten. Ich war der einzige in der 15-köpfigen Gruppe, der eine Politik von Bündnis 90 oder der SPD vorschlug. Alle anderen meinten: "Aber Herr Pfarrer, das müssen Sie doch verstehen: Wir brauchen jetzt das Geld aus dem Westen, und das kommt nur von der CDU!" Ich sagte einige Monate später: "Die Diktatur des Proletariats haben wir ganz gut überstanden; mit der Diktatur des Geldes wird es schwieriger!" Auch nutze ich stets das Wort "friedliche Revolution" und nicht "Wende-, nicht nur deshalb, weil Egon Krenz diesen Begriff prägte und damit den Umbruch im Jahre 1989 verschleiern wollte, sondern weil ich die Situation damals noch immer als einen Beitritt zur Bundesrepublik betrachtete und nicht als eine wirkliche Wende.

Wie viele Hoffnungen haben sich nicht erfüllt: eine neue Verfassung (obwohl ein Entwurf erarbeitet worden war); eine neue Fahne, nicht mehr mit dem Raubvogel als Emblem, sondern mit "Schwerter zu Pflugscharen"; nie mehr Auslandseinsätze deutscher Soldaten, stattdessen drastische Reduzierung des Rüstungshaushaltes - wir waren nur noch "von Freunden umringt - zugunsten von Projekten der Zwei-Drittel-Welt. Nie wurden die von Industriestaaten zugesagten 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts an Entwicklungshilfe gezahlt. Heute steht Deutschland bei 0,3 Prozent!

Beim Zusammenschluss der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) und dem Bund Evangelischer Kirchen der DDR vollzog sich ein ähnlicher Beitrittsprozess. Die Forderungen der westdeutschen Kirchen wurden schnell durchgesetzt: Kirchensteuern durch Finanzämter einziehen; Religionsunterricht in den Schulen; Beitritt zum Militärseelsorgevertrag. Was blieb da im Blick auf die Nähe zur Gemeinde an Erfahrungen der Kirche in der DDR auf der Strecke (Soldatenseelsorge in den Gemeinden des Standorts; Christenlehre als Einübung in den Glauben vor Ort; ein eigenes Kirchensteuermodell usw.). Auf der anderen Seite will ich nicht vergessen, wie groß die Leistung war, zwei ganz unterschiedliche Systeme in kürzester Zeit zusammenzuführen. Ich hörte kürzlich, dass 30.000 Verordnungen in wenigen Monaten erlassen und umgesetzt wurden.

"Das wunderbare Jahr der Anarchie"

Es folgte "das wunderbare Jahr der Anarchie" 1990, so ein Buchtitel. Wir erlebten es in unserer Kirchgemeinde: Als wir Fördermittel für den Ausbau des Kirchturms beantragten, zwei Räume für die offene Jugendarbeit, mussten wir im Antrag zwei Seiten ausfüllen - ein Jahr darauf waren es 16 Seiten! Am meisten überraschte mich jedoch die Einschätzung der evangelischen Kirche in den Medien. Wurde sie Anfang 1990 als "Vorreiterin der friedlichen Revolution" ständig gelobt, so wurde sie noch im gleichen Jahr als Komplizin der Staatssicherheit diffamiert, verbunden mit der Behauptung, über die Hälfte der kirchlichen Mitarbeiter seien mit der Stasi liiert gewesen. Dass solcherart verzerrte Darstellungen öffentlich wurden, lag zu einem großen Teil an dem (damaligen) Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier, der innerhalb kurzer Zeit drei Bände zu den Ereignissen am Ende der DDR herausgab. Da er so schnell nicht an Archive der Landeskirchen herankam, zog er seine Schlüsse aus den Stasi-Akten, die er einsehen konnte, und vermengte "Dichtung und Wahrheit", weil er diese Akten für bare Münze nahm und nicht merkte, wie oft diese unselige Behörde falsche Meldungen kolportierte, um für die Oberen erfolgreich zu erscheinen. Meines Erachtens war die sächsische Landeskirche die erste, die alle ihre 1.050 aktiven Pfarrer überprüfen ließ. Das Ergebnis nach Bischof Hempel: ganze 25 Pfarrer, 2,5 Prozent, arbeiteten für die Stasi. Die Thesen Besiers verzerrten die Wirklichkeit völlig. Auch das überschäumende Lob zuvor war zu dick aufgetragen. Die evangelische Kirche war nicht "Vorreiterin", aber unter ihrem Dach und mit ihrer Unterstützung konnten die Gruppen die friedliche Revolution vorbereiten. So wurde sie über Jahre Kirche für das Volk, für getaufte und Atheisten, für Überzeugte und Zögerliche.

Mit der Einheit Deutschlands habe ich mich längst "ausgesöhnt". Wie viel ist inzwischen zusammengewachsen. Die Lebens- und Wohnqualität hat sich für viele entscheidend verbessert. Umweltschäden sind mit großen finanziellen Aufwendungen saniert oder minimiert worden. Als erschreckend erlebte ich dagegen die neue Militärpolitik. 1993 wurde von den Regierenden angestrebt, den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland wieder "salonfähig" zu machen, obwohl das Grundgesetz anderes beinhaltet Ich schrieb damals in einem Artikel: "Verteidigungsminister Rühe wirbt für seine Truppe: ‚Die Mission des Soldaten im 21. Jahrhundert heißt: schützen, helfen, retten!’ Fast möchte der verwunderte Leser fragen, ob die Bundeswehr eine Unterabteilung des Diakonischen Werks werden soll! Nein, keine Bange. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, von Rühe erlassen, sprechen deutlicher, fordern unter anderem den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt! - Frieden schaffen mit Waffen? Jesus Christus sagt es anders: Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen. Darum sollten wir das Vermächtnis Wolfgang Borcherts aufnehmen: SAG NEIN - zu Geist, Logik und Praxis der Abschreckung; SAG NEIN - zur Verharmlosung militärischer Einsätze; SAG NEIN - zum Vergessen, was Waffen anrichten, kurzfristig und langwirkend über Jahrzehnte."

Und dennoch kam 1994 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches für weltweite Einsätze im Nato-Bündnis grünes Licht gab. Ärgerlich war für mich dabei die eilfertige Zustimmung des EKD-Vizepräsidenten Hermann Barth. Jemand fragte: Ist es wieder so weit, dass die Kirche den "moralischen Senf für die militärische Wurst" liefert? Ich bleibe bei meiner entschiedenen Haltung, die das Militär ablehnt, und arbeite, seit es 1990 möglich wurde, aktiv im deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes mit. Damit will ich mich dafür einsetzen, dass die gelungene gewaltfreie Revolution im Jahre 1989 nicht als ein einmaliges Geschenk des Himmels oder als Überraschungscoup gesehen wird, sondern als bleibende Chance, Konflikte und Unrechtserfahrungen ohne Gewalt anzugehen.

Natürlich kenne ich die bei Militäreinsätzen oft und gern wiederholte Frage: Wo bleibt die Friedensbewegung? Abgesehen davon, dass man "aus einem Blitz keinen Dauerbrenner" machen kann, erlebte ich punktuell viel Ermutigung: der Protest vor den Irakkriegen 1990/91 wie 2003, und das weltweit. Die Irreführung der Bundeswehrspitze, als diese 1993 in der Sächsischen Schweiz Gebirgsjäger ausbilden wollte und die Bergsteiger alle in Frage kommenden Gipfel besetzt hatten. Das Aus für das "Bombodrom" in Wittstock 2009, nach jahrelangen Protestdemonstrationen und kreativen Unternehmungen der Bevölkerung, ganz zu schweigen von dem, was alltäglich erscheint und nur selten in den Medien gezeigt wird: Ehe- und Familienberatung, Streitschlichtungsmodelle in Schulen; die Möglichkeit der Ableistung eines freiwilligen sozialen bzw. ökologischen Jahres, seit kurzem auch weltweit; Aktionen gegen den NS-Ungeist der NPD; fairer Handel; Integration von Migranten und Asylbewerbern. Vieles klingt auch in der diesjährigen Friedensdekade an, unter dem Thema "Mauern überwinden", die am Buß- und Bettag ihren Abschluss findet.

Überhaupt sind Alternativen zu militärischer Präsenz wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. So freue ich mich, dass die Uno das Jahr 2009 zum "Jahr der Versöhnung" deklariert hat. Und wenn Kofi Annan im Vorfeld sagte: "Versöhnung ist die höchste Form des Dialogs", dann fühle ich mich wieder bestätigt: Versöhnung ist kein frommer Begriff, auch wenn das Wort im Neuen Testament vorkommt (2. Kor. 5,20), sondern ein hoch politischer. Die "Wahrheits- und Versöhnungskommission" in Südafrika unter Leitung des Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu hat uns vor 10 bis 15 Jahren die verschiedenen Schattierungen verdeutlicht. So wird bekräftigt, was mir vor 44 Jahren in Peenemünde klar wurde, wo im Zweiten Weltkrieg als "Wunderwaffen" V-Waffen entwickelt wurden. Unser V kann nicht, wie damals" die Abkürzung für Vernichtung oder Vergeltung sein, sondern nur für Versöhnung.

"Salz der Erde" und nicht "Marmelade ihres Landes"

Natürlich wünsche ich mir, dass die Kirchen weiterhin politisch tätig und auffällig bleiben -"Salz der Erde" und nicht "Marmelade ihres Landes" (Werner Krusche). Ich wünschte, dass sich die Kraft der Gewaltfreiheit überzeugender auswirkt im Zusammenleben der Menschen, in unserer Gesellschaft und international. Was ich dazu beitragen kann, will ich weiterhin tun, inspiriert von den fünf Sätzen Mahatma Gandhis:

Ich will bei der Wahrheit bleiben.

Ich will mich keiner Ungerechtigkeit beugen.

Ich will frei sein von Furcht.

Ich will keine Gewalt anwenden.

Ich will im anderen zuerst das Gute sehen.

Rudolf Albrecht ist Mitglied im Vorstand des Versöhnungsbunds, Der Text ist das Manuskript eines Vortrags, der am 17. November 2009 im Rahmen der von der TU Chemnitz durchgeführten dritten Ringvorlesung "1989/90 - 2009/10. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen - Akteure zwischen Konfrontation und Konzession" gehalten wurde.

Quelle: Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit
Nr. 27/28 III + IV / 2010, S. 55ff.

Veröffentlicht am

02. Dezember 2010

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