Mit Fehlern behaftete Würdigung des Zivilen Ungehorsams in Mutlangen von 1983-1987Von Michael Schmid Es gibt Bücher, die einen als Rezensenten in einen Konflikt bringen. Was tun, wenn das Thema des zu besprechenden Buches in der eigenen Lebensgeschichte eine herausragende Rolle spielte, aber beim Lesen immer mehr falsche Darstellungen und sehr fragwürdige Interpretationen ins Auge springen? Es handelt sich um Richard Rohrmosers Dissertation, in der er sich dem Zivilen Ungehorsam gegen die Atomrüstung im baden-württembergischen Mutlangen in den 1980er Jahren widmet. Inhaltsübersicht und Einleitung siehe Link zur LESEPROBE am Artikelende. Kaum hatte ich mit dem Lesen begonnen, gab es für mich die ersten Stolpersteine. Büchel in der Eifel wird als ein Beispiel genannt, an dem gegenwärtig Ziviler Ungehorsam im Mittelpunkt zahlreicher Proteste stünde. Dort fänden jedes Jahr "zum Teil wochenlange Protestaktionen im Stil des zivilen Ungehorsams gegen die letzten in der Bundesrepublik stationierten US-Atomwaffen" statt. Bemerkenswert sei, dass sich dazu ein breites friedenspolitisches Bündnis zusammengefunden habe, zu dem etwa Repräsentant*innen aus Gewerkschaften, Kirchengemeinden und dem Netzwerk Mayors for Peace gehörten. "Die Friedensaktivist*innen stammen demnach nicht nur aus dem linksalternativen Spektrum", schlussfolgert Rohrmoser, "sondern unter ihnen befinden sich ebenso Konservative wie beispielsweise der CDU-Politiker Peter Seyfried" (S. 12). Der ehemalige Bürgermeister von Mutlangen "beteiligt sich an dem zivilen Ungehorsam in Büchel als Repräsentant der Initiative Mayors for Peace", bekräftigt Rohrmoser nochmals ausdrücklich. (S. 13). Hoppla, wundere ich mich, der frühere Bürgermeister von Mutlangen war selber aktiv bei einer Aktion des Zivilen Ungehorsams? Nein, so erfreulich sein Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen war, Herr Seyfried hat sich in Büchel an einer Umrundung des Fliegerhorsts beteiligt. Das ist aber keine Aktion des Zivilen Ungehorsams! So drängt sich bereits auf diesen ersten Seiten die Frage auf, was der Autor eigentlich unter Zivilem Ungehorsam versteht. Theodor Ebert hat bereits vor über 50 Jahren ein Schema über die Methoden der gewaltfreien Aktionen entwickelt, das entsprechend des Grads des Eingriffs in die gesellschaftlichen Verhältnisse drei "Eskalationsstufen" enthält. "Protest" stellt die Stufe 1 dar, "legale Nichtzusammenarbeit" die Stufe 2 und die Stufe 3 "Ziviler Ungehorsam". Und unter "Zivilem Ungehorsam" werden dann gewaltfreie "Aktionen verstanden, bei denen die Akteure bestehende Gesetze und Anordnungen, die Unrechtsverhältnisse und Bedrohungen aufrechterhalten oder begünstigen, offen missachten." (Gernot Jochheim Gernot Jochheim, Die gewaltfreie Aktion. Idee und Methoden, Vorbilder und Wirkungen. Hamburg 1984, S. 195.) Obwohl sich Rohrmoser später dieser Definition von "Zivilem Ungehorsam" anschließt, hält er sich inhaltlich nicht daran. So führt er unter dem Begriff "Ziviler Ungehorsam" fälschlicherweise Aktionen an, die zwar im Rahmen von gewaltfreien Aktionen wichtig sein können, aber eben keinen Zivilen Ungehorsam darstellen. Das zeigt sich noch an verschiedenen weiteren Stellen des Buches. So zum Beispiel, wenn er sich auf einen Artikel des Spiegel aus dem Juli 1983 bezieht, in dem die Stimmung in der Bevölkerung von Mutlangen und Schwäbisch Gmünd sowie lokale Friedensaktivitäten beschrieben werden. Bei Rohrmoser ist dazu zu lesen: "Andererseits beschrieb der Artikel den zivilen Ungehorsam der Friedensbewegung: Die ‚Schweigekreise’ der Christlichen Arbeitsgemeinschaft Frieden (CAF) auf dem Schwäbisch Gmünder Johannisplatz jeden Freitagnachmittag, die in gespenstiger Lustlosigkeit veranstalteten ‚Die-Ins’ vor der Bismarck-Kaserne sowie die kurzzeitige Ausrufung der Stauferstadt zur ‚Atomwaffenfreien Zone’" (S. 75) Während die Aufzählung der Aktionen einschließlich der abwertenden Charakterisierung so im Spiegel zu lesen ist, wird sie von Rohrmoser so übernommen, dann aber von ihm verkehrt als "ziviler Ungehorsam der Friedensbewegung" eingeordnet, zumindest was Schweigekreise und "Atomwaffenfreie Zone" anbelangt, die eindeutig legale Aktionen sind. Schon deshalb drängt sich die Frage regelrecht auf, warum der Autor in einem Buch, das sich konkreten Aktionen des Zivilen Ungehorsams an einem bestimmten Ort widmet, nicht gleich am Anfang eine Begriffsdefinition vornimmt. Und diese dann stringent im weiteren Text anwendet. Protest von Mutlangen wird zu viel Bedeutung zugeschriebenMutlangen ging mit der "Prominentenblockade" vom September 1983 in die Geschichte ein. Nach der Stationierung von Pershing-II-Raketen im November 1983 gab es dort weitere Aktionen, teilweise auch gewaltfreie Blockadeaktionen. Und in den Jahren zwischen 1984 und 1987 wurde die Zufahrt zum Mutlanger Pershing-Depot regelmäßig blockiert - und von der Polizei ebenso regelmäßig geräumt. Schätzungen ergaben, dass sich dort in diesen Jahren insgesamt rund 10.000 Menschen an Blockadeaktionen beteiligten. So wurde Mutlangen zu einem Symbol des gewaltfreien Widerstandes gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Dies positiv zu würdigen, war vermutlich die Absicht von Richard Rohrmoser. Allerdings scheint er mir damit über das Ziel hinauszuschießen, was er alles "Mutlangen" zuschreibt. So wenn er zum Beispiel feststellt, "der kontinuierliche zivile Ungehorsam" habe "den Diskurs über die lange Zeit nicht substantiell kritisierte Militär- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik" aktiviert (S. 411). Seiner Meinung nach diskutierte "die bundesdeutsche Gesellschaft die Militär- und Sicherheitspolitik der Bundeswehr sowie des NATO-Verteidigungsbündnisses" nach den Protestkampagnen der 50er-Jahre gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen kaum mehr. Dabei unterschlägt Rohrmoser aber völlig die Ostermarsch-Bewegung der 1960er Jahre. Diese hatte sich in den Jahren nach ihrem Auftakt 1960 mit dreitägigen Ostermärschen und vielfältigen weiteren Aktivitäten zu einer regelrechten Massenbewegung entwickelt. Diese trat für atomare Abrüstung ein, es wurden zudem u.a. Forderungen nach Verhandlungen über eine atomwaffenfreie, militärisch ausgedünnte Entspannungszone in Mitteleuropa gestellt. Von der damaligen Ostermarsch-Bewegung wurde selbstverständlich die Militärpolitik von Bundesrepublik und NATO in aller Öffentlichkeit in Frage gestellt. Mehr zur Ostermarsch-Bewegung siehe z.B. "Vor 60 Jahren erster Ostermarsch in Deutschland" (2020) und Artikelsammlung zum Stichwort "Ostermarsch" . Nicht vergessen werden sollte ebenfalls die ab 1967 stark anschwellende Zahl an Kriegsdienstverweigerern, die indirekt oder auch ganz direkt die Bundeswehr in Frage stellten. Und schließlich die spätestens mit dem "NATO-Doppelbeschluss" von 1979 einsetzenden friedens- und sicherheitspolitischen Debatten und Aktionen einer immer größeren Zulauf erhaltenden Friedensbewegung mit ihren vielfältigen Aktionen. In allen diesen Zusammenhängen wurde die Militär- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik massiv "substantiell kritisiert" - also noch längst vor den ersten Aktionen in Mutlangen im Jahr 1983. Danach geschah das dann auch in Mutlangen, aber eben nicht nur und nicht in erster Linie dort, sondern im Rahmen der gesamten Friedensbewegung. Für wen könnte dieses Buch interessant sein? Damals beteiligten Menschen, die nochmals anhand eines Buches Erinnerungen an eigene Erfahrungen in Mutlangen aufkommen lassen wollen, kann ich es nicht empfehlen. Dafür geht dieses Buch viel zu vielen Details nach und ist durch seine Sprache nicht gerade leicht lesbar. Dies betrifft ebenso potentiell Interessierte aus nachfolgenden Generationen, die einen kurzen Einblick bekommen wollen, warum damals in den 1980er Jahren heftige Auseinandersetzungen um neue Atomwaffen entbrannten, in deren Folge sich über Jahre insgesamt viele tausend Menschen an Aktionen des Zivilen Ungehorsams in Mutlangen beteiligten. Für solche Personenkreise hätten die Zusammenfassungen, wie sie sich jeweils am Ende eines jeden Kapitels des Buches befinden, fast schon ausgereicht. Mit noch einigen Ergänzungen hätte dies dann ein leicht und gut lesbares Buch werden können. Und ebenso hätte es interessant sein können, die immer wieder erwähnten Interviews selber nachlesen zu können, die offensichtlich mit zahlreichen Menschen geführt wurden, die in irgendeiner Form einen Bezug zu Mutlangen und den dortigen Aktionen hatten. Was sagen sie heute, 35 bis fast 40 Jahre später? Für einen solchen Weg haben sich Autor und Verlag nicht entschieden. Sofern das Buch in der Wissenschaft aufgegriffen und damit weitergearbeitet werden sollte, dann ist zu wünschen, dass insbesondere die Schwächen und Fehler überwunden werden, von denen hier nur wenige exemplarisch aufgeführt worden sind. Richard Rohrmoser: "Sicherheitspolitik von unten". Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983-1987. Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag, 459 S., € 45,00, ISBN 978-3-593-51346-1.
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