“Wenn sie sagen ‘Friede und Sicherheit’ …”Kann man Frieden und Sicherheit anarchistisch denken?Von Ullrich Hahn Einleitender Impuls für die digitale Herbsttagung von "Church and Peace". Friedensausschuss der Quäker, Deutsches Mennonitisches Friedenskomitee und Versöhnungsbund vom 27.- 29. November 2020. Für das mir/uns gestellte Thema möchte ich vorausschicken: Frieden und Sicherheit setzen die Überwindung von direkter und indirekt wirkender struktureller Gewalt voraus. Mit gewaltsamen Mitteln lässt sich vielleicht ein Waffenstillstand herstellen, nicht jedoch Frieden und eine dauerhafte Sicherheit für die Menschen. Was das mit anarchistischem Denken zu tun hat, will ich in 3 Schritten erläutern: 1. Über die Gewaltförmigkeit des StaatesDas besondere Anliegen aller Anarchisten (die sonst, weil es keine oberste Lehrautorität gibt, sehr unterschiedliche Meinungen haben) ist die grundsätzliche Infragestellung des Staates wegen der ihm innewohnenden Gewalt. Dass diese Staatsgewalt keine Nebensache ist, sondern Wesensmerkmal des Staates, drückt der deutsche Soziologe Max Weber 1919 so aus: "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes… das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich mit Erfolg beansprucht." Das Gegenmodell der Anarchie setzt nicht auf die Macht in einem Territorium, sondern auf den freiwilligen Zusammenschluss von Menschen, die im Rahmen der Selbstverwaltung ihre eigenen Angelegenheiten in Verantwortung übernehmen und gegenseitige Hilfe praktizieren. Ziel ist ein geordnetes Zusammenleben in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Wesentlich ist für mich - nicht für alle Anarchisten - noch eine Differenzierung: Jedes Gemeinwesen, auch eine sich selbst verwaltende Stadt, benötigt eine gewisse Zahl von Ordnungsregeln für das Zusammenleben. Soweit die Zivilgesellschaft noch nicht in der Lage ist, diesen Regeln in Eigenverantwortung zu folgen, können Kontrollen und obrigkeitliche Maßnahmen zur Erfüllung legitim sein. Was aber schon jetzt ersatzlos abgeschafft werden kann und keine Daseinsberechtigung hat, auch nicht für eine Übergangszeit, sind die Auswüchse staatlicher Gewalt in Gestalt des Militärs, der Geheimdienste sowie der Polizei, soweit die letztere in Organisation und Bewaffnung als Herrschaftsinstrument eingesetzt oder bereitgehalten wird (z.B. kasernierte Bereitschaftspolizei und die Sondereinsatzkommandos). Zu beobachten ist, dass das Gewaltmonopol des Staates im Verlauf einer demokratischen Entwicklung nicht etwa ab- sondern im Umfang zunimmt und bei den einzelnen Trägern der Staatsgewalt, insbesondere der Polizei, zu Übergriffen tendiert. Die Geschichte der Staatsgewalt in der Bundesrepublik seit 1949 bis heute legt hiervon Zeugnis ab (Erweiterung der Kompetenzen, Verbindung mit Geheimdiensten, geheimdienstliche Ermittlungen durch die Polizei mit Telefonüberwachung, dem Abhören von Wohnraum, verdeckten Ermittlern usw., ganz zu schweigen von den erweiterten Einsätzen der ursprünglich "zur Verteidigung aufgestellten" Bundeswehr bis hin in ferne Länder und auch in den innerstaatlichen Bereich). 2. Über den Missbrauch des EigentumsNicht weniger unfriedlich als die Staatsgewalt wirkt das neoliberale, auf Profit ausgerichtete Wirtschaftssystem und die dadurch begünstigte Vermögensverteilung zwischen einer kleinen Geldelite von Multimillionären und Milliardären einerseits und Millionen Menschen andererseits (im Weltmaßstab Milliarden), die von fast jeder Teilhabe an den Gütern dieser Erde ausgeschlossen sind. Das vom Staat als Grundrecht geschützte Eigentum ist aber nur insoweit legitim, als es sich um die selbstgenutzten Güter handelt (Wohnung, Haus und Hof, Werkstatt, das selbst bewirtschaftete Land). Wo sich das private Eigentum darüber hinaus auf Land, Wohnungen, Fabriken etc. erstreckt, die zur Lebensgrundlage anderer Menschen gehören, verliert das Eigentum seinen freiheitlichen Charakter und wird im Gegenteil zum Herrschaftsrecht, regelmäßig auch verbunden mit Ausbeutung und damit Enteignung der unter dieser Herrschaft stehenden Menschen. Aus Sicht des Anarchismus gehören der Boden, das Land, das Wasser und alle Bodenschätze zu den Gütern dieser Erde, die allen Menschen gemeinsam gehören und deshalb nicht käuflich sind und nicht privatisiert werden dürfen (lat. privare = rauben). Diese Güter sind zu kommunalisieren und in andere Rechtsformen als dem Privateigentum zu überführen (Erbpacht, gemeinnützige Gesellschaften, Stiftungen…). 3. Über das Lassen der Gewalt und dem Beginnen des GemeinsamenIm Anfang steht die Anarchie für viele Menschen zunächst nur für den Traum einer gewaltfreien gerechten Gesellschaft. Träume können aber wirkungsmächtig sein: "… wenn viele gemeinsam träumen, so ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit" (s. auch der amerikanische Traum: vom Tellerwäscher zum Millionär, der dafür sorgt, dass viele kleine Leute den Reichtum der Milliardäre verteidigen, weil diese ihren Traum verkörpern). Das Beginnen ist Wesensmerkmal der Anarchie: nicht warten auf die große Revolution, nicht auf parlamentarische Mehrheiten, sondern "… obwohl wir wenige sind, gilt es zu beginnen; weil wir wenige sind, muss klein begonnen werden." (Gustav Landauer) Das heißt für uns: Schon jetzt die Gewalt in allen ihren staatlichen und wirtschaftlichen Formen nicht mehr legitimieren, auch selbst aus den ungerechten Beziehungen des Kapitalismus und der Geldwirtschaft auszusteigen, ohne sich aber aus der Gesellschaft zurückzuziehen, dem Unrecht zu widersprechen und zu widerstehen, vor allem mit dem zu beginnen, was wir uns unter einer gerechten Gesellschaft vorstellen. Wieder Gustav Landauer: "Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie sich Menschen zueinander verhalten und man überwindet ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält." Beispiele dafür gibt es schon jetzt zuhauf: solidarische Landwirtschaft, andere gemeinschaftliche Projekte (Mieter-Syndikat, Bürger-Energie, …), Car-Sharing, Reparatur-Cafés, öffentliche Bücherschränke, fairer Handel und kritischer Konsum… Für die Umgestaltung der Gesellschaft gibt es keinen Zeitrahmen; wichtig ist nur das Beginnen. Jede Generation wird sich wieder neu auf den Weg machen müssen. Anarchie hat außer einem Zeitplan auch kein Territorium, von dem man sagen könnte: schau, hier ist es, oder: dort herrscht sie schon, die Anarchie. Anarchie herrscht nicht. Aber man kann von ihr sagen: sie ist schon angebrochen, mitten unter uns. Quelle: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig . FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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