“Es ist ein Fehler, sich auf die Seite einer der kriegführenden Armeen zu stellen”Mit dem Motto "Stoppt das Töten in der Ukraine - für Waffenstillstand und Verhandlungen!" fand anlässlich des ersten Jahrestags des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar 2023 eine Mahnwache in Gammertingen statt. Mit über 20 Teilnehmenden war sie gut besucht. Michael Schmid ging in einem Redebeitrag auf die Vorgeschichte des Krieges, die Opfer des Krieges und das Risiko der Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg ein, forderte einen Stopp der Waffenlieferungen und Verhandlungen, und hielt es für wichtig, sich solidarisch vor allem an die Seite jener zu stellen, die jetzt in den Kriegsländern weiterhin auf die Gewaltfreiheit setzen. Mit Schweigeminuten brachten die Anwesenden ihr Mitgefühl und ihre Solidarität für die vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck. Katrin Warnatzsch trug den Text "Persönliche Empfehlung" von Hanns Dieter Hüsch vor, Gabriele Lang und Bernd Geisler gestalteten den musikalischen Rahmen. Veranstalter waren "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.", "Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Gammertingen" und der "Weltladen Gammertingen". Die Veranstaltung fand im Rahmen von Aktionen statt, zu denen ein Bündnis aus 18 Friedens-, Umwelt- und antifaschistischen Gruppen hat zu Aktionen aufgerufen hat (siehe hier ). Von Michael Schmid - Redebeitrag Der russische Angriff heute vor einem Jahr ist aus meiner Sicht eindeutig völkerrechtswidrig. Und er ist ein Verbrechen, so wie allerdings jeder Krieg ein Verbrechen ist. Diese Feststellung bedeutet aber nicht, dass alles nur schwarz/weiß ist. Denn der Westen trägt vor allem mit seiner NATO-Osterweiterung in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Teil an Verantwortung für die konfrontative Zuspitzung. 1989 und danach hat sich der Westen als triumphaler Sieger im Ost-West-Systemkonflikt gefühlt. Dieser Hang, sich zum Sieger und als überlegen zu erklären, ist seit jeher Grund für Demütigungen im ungleichen Verhältnis zum Osten. Vor allem wegen dieser Haltung wurde die ganz große Chance auf eine Gesamteuropäische Friedensordnung nicht ergriffen, wie sie der Generalsekretär der KPdSU und letzte Staatspräsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow mit seinem "Haus Europa" vorgeschlagen hat. Es wurden auch nicht Gorbatschows Vorleistungen auf Gewaltverzicht positiv gewürdigt. Den NATO-Staaten und ihrer Führungsmacht USA war nach Ende des Kalten Krieges die Fortexistenz dieses Militärbündnisses wichtiger, statt sich wie der Warschauer Pakt ebenfalls aufzulösen und eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands aufzubauen. Und entgegen den Zusagen an Gorbatschow, ihr Gebiet keinen Zentimeter Richtung Osten auszudehnen, ist das NATO-Territorium immer näher an die russischen Grenzen herangerückt worden. 2008 wurde dann der Ukraine eine Aufnahme in die NATO in Aussicht gestellt. Und dann wurde die Ukraine seit dem Sturz der Regierung 2014 insbesondere durch die USA, aber auch durch Großbritannien massiv aufgerüstet. Bei alledem waren die NATO-Staaten nicht bereit, russische Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen. Ansonsten hätte der russische Angriffskrieg mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden. Man stelle sich nur mal vor, was los wäre, Russland würde in Mexiko seine Truppen und Raketen an der US-Grenze stationieren. Völlig undenkbar! 1962 haben die USA wegen der sowjetischen Raketenstationierung auf Kuba sogar den 3. Weltkrieg riskiert. Nun tobt seit einem Jahr dieser Krieg in der Ukraine. Und leider ist kein Ende in Sicht. Dieser Krieg verursacht täglich Tod, unfassbares Leid und Zerstörung. Mit jedem Tag entfesselt sich auch die Logik der Gewalt weiter. Die Risiken bei weiterer Eskalation sind riesengroß! Das "Bulletin of the Atomic Scientists" symbolisiert mit den Zeigern seiner symbolischen "Weltuntergangsuhr" die Gefährdung der Menschheit und des gesamten Planeten. Am 25. Januar 2023 wurden jetzt die Zeiger von 100 Sekunden auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Dies ist der dramatischste Wert überhaupt seit Einführung der sogenannten "Weltuntergangsuhr" vor 75 Jahren. Sogar 1962, dem Jahr der Kubakrise, stand die Uhr "nur" sieben Minuten vor zwölf und Mitte der Achtzigerjahre, als Europa mit zigtausenden Atomsprengköpfen und atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen mit kürzesten Vorwarnzeiten vollgestopft war, gab es mit drei Minuten noch eine doppelt so lange Frist wie jetzt! Nach Ende des ersten Kalten Krieges konnten die Zeiger der Uhr auf entspannte siebzehn Minuten vor zwölf zurückgestellt werden! Jetzt also 90 Sekunden vor dem Abgrund! Die Atomwissenschaftler*innen sind der festen Überzeugung, dass die Menschheit derzeit in einer "noch nie dagewesenen Gefahr" lebt. Deshalb haben sie den Zeiger der Uhr unter Verweis auf die gestiegene Atomkriegsgefahr in der Folge des Ukrainekrieges, der anhaltenden Aufrüstung der Atomwaffenstaaten und der Erosion der nuklearen Rüstungskontrolle vorgestellt. Zudem sind infolge einer "frenetischen Suche" nach neuen Erdgasquellen auch die Treibhausgas-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe im vergangenen Jahr auf einen neuen Rekordwert geklettert, was die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter steigen lässt. Wie gesagt, ist kein Ende des Ukrainekrieges in Sicht. Und es ist ebenso wenig ein Ende oder bereits die höchste Stufe der Eskalation abzusehen. Im Zusammenhang mit anderen Krisen ist ein Niveau höchster Bedrohung für die gesamte Menschheit und den Planeten Erde erreicht. Teilweise dämmert es, dass dieser Krieg in der Mitte Europas das Potenzial für einen Dritten Weltkrieg hat! Statt sich dies bewusst zu machen, "tummeln sich", so drückt es die Journalistin Bascha Mika aus, "Pressevertreter:innen maulheldenhaft in Schützengräben, überschlagen sich bei der Forderung nach noch schwereren Waffen, treiben die Regierung wegen angeblicher Zögerlichkeit vor sich her und spotten über die Warnung des Friedensinstituts Sipri vor einem Atomkrieg." Ja, ich finde es zum Verzweifeln, welche Kriegseuphorie einem aus den großen Medien entgegenschallt. In dem einen Jahr seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind aus der Lieferung von anfänglichen Helmen als Unterstützung inzwischen Kampfpanzer der Marke Leopard 2 geworden. Eine "rote Linie" nach der anderen wird überschritten. Kaum hatte Kanzler Scholz jetzt im Januar die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine bekanntgegeben, ist die Kriegskarawane rhetorisch schon weitergezogen. Es dauerte nur wenige Stunden, schon wurde nach dem Motto "Nach der Waffenzusage ist vor der Waffenzusage" der Kanon erneut angestimmt: Nun braucht die Ukraine Kampfjets, Bomber, Langstreckenraketen, U-Boote und Kriegsschiffe. Wenn NATO-Staaten aber Waffen liefern, mit denen Angriffe tief hinein ins russische Territorium möglich werden, dann bekommt der Krieg nochmals eine ganz neue Qualität. Wie wird das in Moskau wahrgenommen, wenn westliche Waffen in Russland angreifen, zerstören, vernichten? Was würde die russische Führung dann noch abhalten, NATO-Staaten zu direkten Kriegsgegnern zu erklären? Ein Horrorszenario, sollte sich die Aussage von Außenministerin Baerbock bewahrheiten, die kürzlich im Europarat voller Eifer erklärte: "Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland." Kämpfen wir wirklich einen Krieg gegen Russland? Mit welchem Ziel? Träumen wir den Traum mit, der in Kiew von ranghohen Politikern geträumt wird, wonach das ukrainische Interesse die Auflösung Russlands sei und zudem die Entmilitarisierung Russlands, einschließlich der Abschaffung der russischen Atomwaffen. Wollen wir einen solchen Wahnsinnskurs weiter unterstützen und die Ukraine so lange mit Waffen vollpumpen, solange die ukrainische Führung dies möchte? Bis zum großen Knall? Nochmals: Die "Weltuntergangsuhr" steht nicht etwa fünf vor zwölf - ganze anderthalb Minuten trennen uns noch von der Totalkatastrophe! Der Journalist Jens Berger warnt zurecht: "Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht! Wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen. Sonst wachen wir nie wieder auf." Was also tun? Sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten dafür einsetzen, dass aus Deutschland und den NATO-Staaten nicht immer mehr und weiter reichende Waffen in die Ukraine geschickt und ukrainische Soldaten in unserem Land ausgebildet werden. Zudem sich dafür aussprechen, dass sich die Bundesregierung endlich für Verhandlungen stark macht, um den Krieg in der Ukraine beenden zu helfen. In der aktuellen Entwicklung gilt es friedenslogisch zu denken, d.h. alles zu tun, was zu einem baldigen Waffenstillstand führt. Hierzu bedarf es auch seitens des Westens eines konkreten Verhandlungsangebots. Hatte die Nato-Osterweitung erheblichen Anteil an der Vorgeschichte zum jetzigen Krieg, so könnte die Erklärung des Westens von einer Nato-Aufnahme der Ukraine abzusehen, Putin die notwendige Gesichtswahrung für ein Einlenken ermöglichen. Wir fordern also entsprechend unserem heutigen Motto: "Stoppt das Töten in der Ukraine - für Waffenstillstand und Verhandlungen!" (An dieser Stelle Unterbrechung der Rede mit Musik durch Gabriele Lang und Bernd Geisler - dann Schweigen, um Mitgefühl und Solidarität gegenüber vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck zu bringen) Nochmals die Frage: Was können wir tun? Lasst uns für einen Waffenstillstand und einen Lieferstopp von Waffen eintreten, für Diplomatie und für Verhandlungen. Während der Westen seine Kriegsziele diskutiert und auf einen langen Krieg einstimmt, werden anderswo Forderungen nach einem baldigen Ende der Kämpfe lauter - vor allem im Globalen Süden. Seit Brasilien angekündigt hat, eine Initiative für Frieden starten zu wollen; seit bekannt geworden ist, dass in Indien an Verhandlungskonzepten gearbeitet wird; seit klar ist, dass China einen Plan für eine politische Lösung präsentieren will und heute präsentiert hat, keimt Hoffnung auf. Wir sollten den Druck auf die Bundesregierung erhöhen, endlich eine Kurskorrektur vorzunehmen. Eine ganz aktuelle Petition, das "Manifest für Frieden", wendet sich an Bundeskanzler Scholz mit der Forderung, die Waffenlieferungen an die Ukraine jetzt zu stoppen und sich für Verhandlungen einzusetzen. Dieses von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte Manifest wurde innerhalb von nur 2 Wochen bereits von 630.000 Menschen unterzeichnet (zum "Manifest für Frieden" ). Einsetzen sollten wir uns ebenfalls für einen Stopp einer nur irrsinnig zu nennenden Aufrüstung Deutschlands bzw. für Abrüstung. Und dann sollten wir uns insbesondere an die Seite jener stellen, die die Logik des Krieges durchbrechen wollen, zum Beispiel durch zivilen Widerstand und gewaltfreie Aktionen; oder durch Desertion, Kriegsdienstverweigerung oder Militärdienstentziehung - in der Ukraine, Russland und Belarus. Es handelt sich dabei um Hunderttausende Menschen, die sich dem Kämpfen und Töten in diesem Krieg zu entziehen suchen. Allerdings gibt es für die meisten dieser Menschen keine legalen Zugangswege zu Asyl in Europa und Deutschland. PRO ASYL und Connection e.V. haben erst heute wieder deutsche Politiker*innen aufgefordert, ihren vollmundigen Versprechungen Taten folgen zu lassen. Alle Menschen, die sich dem Krieg entziehen möchten, müssen Schutz durch humanitäre Visa und Asyl finden. Wer möchte, kann hierzu auch eine Petition unterzeichnen, die an die EU geht und in der Schutz und Asyl für Deserteure und Verweigerer aus Russland, Belarus und Ukraine gefordert wird (zur Petition ) Was können wir noch machen, außer Petitionen unterzeichnen? Wir können z.B. Leserbriefe schreiben, Abgeordnete im eigenen Wahlkreis ansprechen, an Demonstrationen und Mahnwachen teilnehmen, Kirchengemeinden für eine klare Positionierung gewinnen. Jeder noch so kleine Beitrag in Richtung Frieden zählt. Ich möchte jetzt noch auf eine der größten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts hinweisen: Mahatma Gandhi. Er wurde vor 75 Jahren, am 30. Januar 1948, ermordet. Unter seiner Führung hatten sich Millionen von Menschen am Freiheitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft beteiligt. Und der größten Befreiungsbewegung des 20. Jahrhunderts gelang es, das koloniale Joch ohne Gewaltanwendung abzuschütteln. Gandhi hat bewiesen, welche Kraft der Gewaltfreiheit innewohnt. Meiner Meinung nach sind viele der Gedanken und Erfahrungen Gandhis heute noch sehr aktuell. Das vorherrschende politische Denken, so wie es uns heute ständig entgegenschallt, nimmt an, man könnte Mittel und Zwecke voneinander trennen, man könne also Gewalt mit Gewalt überwinden, Frieden durch Waffengewalt erreichen. Dieses Denken übersieht die Herausforderung, vor die uns Mahatma Gandhi gestellt hat. Seiner Erkenntnis nach gibt es nämlich einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel. Er hat darin ein Naturgesetz gesehen und hat immer wieder auf diesen Zusammenhang hingewiesen: "Es gibt ein Naturgesetz, dass nämlich eine Sache nur durch die Mittel verteidigt werden kann, durch die sie erworben wurde. Eine durch Gewalt erworbene Sache kann nur durch Gewalt verteidigt werden. Eine durch Gewaltfreiheit erworbene Sache dagegen kann nur durch Gewaltfreiheit verteidigt werden." (M.K. Gandhi) Entsprechend diesen Einsichten sollten wir uns darum bemühen, für Gewaltfreiheit und gewaltfreie Aktion als konstruktive Alternative zur Gewalt bei der Konfliktaustragung einzutreten. Und wir sollten uns weiter mit der Idee der Sozialen Verteidigung als eine konstruktive Alternative zur militärischen Verteidigung für die Austragung von Konflikten auf nationaler und internationaler Ebene befassen. Neuere Studien sehen gewaltfreien Widerstand und Aufstand doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Kämpfe. Am 18. März gibt es hierzu hier in Gammertingen eine Veranstaltung (siehe Soziale Verteidigung: Ohne Waffen - aber nicht wehrlos ). Übrigens gab es auch gewaltfreien zivilen Widerstand in der Ukraine gegen die russische Invasion. Wie ein Bienenvolk hat die ukrainische Gesellschaft spontan und mutig Hunderte von gewaltfreien Aktionen organisiert, von Aktionen des zivilen Ungehorsams bis hin zum Schutz und zur Evakuierung der Zivilbevölkerung. Eine Studie des baskischen Professors Felip Daza hat diesen gewaltfreien zivilen Widerstand in der Ukraine gegen die russische Invasion im vergangenen Jahr untersucht und belegt (siehe Studie: Ukrainischer gewaltfreier ziviler Widerstand im Angesicht des Krieges ). Doch die Trommeln des Krieges haben die öffentliche Debatte beherrscht und allmählich die Initiativen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung und zur Stärkung des Friedens verdrängt. In der Perspektive könnte ein massiver gewaltfreier ziviler Widerstand entscheidend sein, um die russische Besatzung zu beenden und den Prozess der Demokratisierung und des Ausbaus einer multikulturellen ukrainischen Identität voranzutreiben. Jedenfalls finde ich, wie schon gesagt, wichtig, uns solidarisch vor allem an die Seite jener zu stellen, die jetzt in den Kriegsländern weiterhin auf die Gewaltfreiheit setzen. Deshalb möchte ich mit einem kurzen Zitat aus der Erklärung der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung enden. Dort heißt es: "Es ist ein Fehler, sich auf die Seite einer der kriegführenden Armeen zu stellen. Es ist notwendig, sich auf die Seite des Friedens und der Gerechtigkeit zu schlagen. Selbstverteidigung kann und sollte mit gewaltfreien und unbewaffneten Methoden erfolgen. Jede brutale Regierung ist illegitim, und nichts rechtfertigt die Unterdrückung von Menschen und das Blutvergießen für die illusorischen Ziele der totalen Kontrolle oder der Eroberung von Territorien." (vollständig übersetzte Erklärung vom 21. Sept. 2022 ist hier zu finden: Friedensagenda für die Ukraine und die ganze Welt ). Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|