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Mein Schornsteinfeger und das Manifest

Ein Austausch über Weltkriegspolitik und Frieden am Montagmorgen

Von Peter Bürger

Am Montag nach der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierten Berliner Friedensdemonstration klingelt morgens unangemeldet der Schornsteinfeger an meiner Tür, um die Abgaswerte zu überprüfen. Als aufgeklärter Theologe halte ich verspielt und heiter am alten Aberglauben fest, denn in bedrückenden Zeiten ist es angeraten, nach guten Omen Ausschau zu halten: Der Schornsteinfeger bringt Glück!

Ob ich darüber jetzt ein paar Zeilen schreiben darf, habe ich ihn nicht gefragt. Deshalb heißt der Schornsteinfeger hier Jan, obwohl das nicht sein Name ist. Wir haben uns schon in der Vergangenheit ausgetauscht. Symbole in meiner Wohnung lassen erkennen, dass hier ein Christ und Pazifist wohnt. Ein kleines Bildnis von Karl Marx zeigt außerdem unmissverständlich in die linke Richtung.

Zuletzt haben Jan und ich uns vor der Pandemie ausgetauscht über den erschreckenden Aufstieg der neuen Deutschnationalen und Nazis, die sich trotz ihrer "Blut-und-Eisen-Geschichte" dreist als eine "Alternative für Deutschland" anpreisen. Seinen Namen wusste ich bis heute Morgen nicht. Aber seine Abscheu vor der - lange auch von Moskau aus unterstützten - rechten Pest war mir in bester Erinnerung.

Wenn Menschen sich dieser Tage sorgen, die aktuelle Politik könne weiter eskalieren in einen großen gesamteuropäischen oder weltweiten Krieg, finden sie ohne langes Vorgeplänkel zueinander. Jans Opa ist über 90 Jahre alt und versteht es nicht, dass der alte Konsens "Nie wieder Krieg!" nicht mehr gelten soll. Den Nachkommenden drohen bei Beibehaltung der aktuellen Kursrichtung wie ehedem riesige Leichenfelder, "geschmückt mit Siegesfahnen" (Eugen Drewermann) - sei es in nächster Zeit, sei es im weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts, das für die gesamte Menschheitsgeschichte alles entscheidet.

Den Schwätzern und Zynikern, die eine Lanze für das "Weiter so" brechen, fällt inzwischen nichts Besseres mehr ein als Argumente dieser Art: Mögliche Friedensverhandlungen Anfang 2022 - zur Verhinderung von einer Viertelmillionen Toten - hätten nach Aussage von Beteiligten ja nur eine etwa 50-prozentige Erfolgsaussicht gehabt. Das ist das reguläre Niveau! Die proklamierte Solidarität mit den Kriegsopfern vermag ich nicht zu erkennen.

Mit der Ukraine ist Jan besser vertraut als ich, denn er war schon in Odessa und an anderen Orten. Rechtsextremistische Runenzeichen an Bekleidungen mit Militärfarben hat er dort im Land mit eigenen Augen gesehen. Zu seinen Bekannten in Düsseldorf zählen Ukrainer, die ukrainisch oder russisch sprechen und seit längerer Zeit nicht mehr miteinander verkehren. Ob der neue Nationalflaggenkult den Menschen wirklich Gutes verheißt, das dürfe man bezweifeln.

Sehr direkt hat Jan mich heute gefragt, ob ich im Verlauf der letzten zwölf Monate denn auch Bekanntschaft gemacht hätte mit aggressiven Reaktionen auf Meinungsäußerungen, die nicht mit den Botschaften der großen Nachrichtensender übereinstimmen. In der Tat, aufgeladene aggressive Attacken habe ich - bis in die engste Umgebung hinein - mehr als einmal erlebt: allein schon, weil ich stets eine Friedenstaube an der Kleidung trage. In mehreren Fällen bin ich förmlich angegiftet worden, bevor ich überhaupt irgendein Votum abgegeben konnte.

Als über 60jähriger Christ, Schwuler und demokratischer Sozialist bin ich biographisch allerdings erprobt in Minderheitsrollen. Viele junge Linke, die im Neoliberalismus sozialisiert worden sind, tun sich hingegen offenbar schwer mit Nonkonformismus. Dafür schwenken manche heute - in meinen Augen ein wenig zu oft - Regenbogenfahnen, die ja längst zum Mainstream gehören. (Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich selbst zeige die Regenbogenfarben natürlich nicht nur auf der Friedensflagge, sondern auch als Votum für die Befreiung sexueller Minderheiten.)

Wenn endlich mal eine Gruppe der Friedensbewegung den Aufkleber "Ich bin Lumpenpazifist" herstellt, werde ich ihn sofort tragen. Noch nie in der Geschichte haben Pazifisten und Pazifistinnen die Welt in einen Abgrund gestürzt. Die Militaristen, diese Lumpen, haben es indessen immer - und immer wieder aufs Neue - getan. Ihre Gräberfelder in den patriarchal gesteuerten Jahrtausenden der Geschichte des homo sapiens kann kein Opfergedächtnis zählen.

Schornsteinfeger Jan wünscht sich eigene Kinder. Die Bedrohung des Lebens auf dem Planeten durch den menschengemachten Klimawandel ist für ihn ein wichtiges Thema. Er erinnert sich sehr gut daran, wie bei der letzten Parlamentswahl eine unglaublich tolle und umwerfende ökologische Transformation versprochen wurde. Jetzt betreiben die Urheber:innen eben solcher Wahlversprechen das genaue Gegenteil. In 100-Milliarden-Schritten sollen alle Mittel in die militärische Apparatur umgeleitet werden. Ich gebe kund, das sei in meinen Augen der größte Wahlbetrug in der Geschichte dieser Republik. Jan stimmt zu und beklagt, dass selbst Aktive der "Fridays for future" der allgegenwärtigen Militarisierung keinen Widerstand entgegensetzen wollen.

Jan befürchtet, dass die so notwendige Solidarität mit allen Flüchtlingen aus der Ukraine eine zerbrechliche Geschichte sein könnte, die vielleicht unter bestimmten Umständen schnell umkippt. Er zählt Migranten zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis, darunter auch Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Mehr als eine Millionen Menschen wurden infolge des 2003 mit planmäßigen Lügen eingeleiteten Angriffskriegs gegen den Irak ermordet. Jans Bekannte fragen angesichts der ins Auge springenden Schwerpunkte des Mediengeschehens, ob arabische Opfer nichts zählen, wenn die führende westliche Imperial-Macht unter der Flagge einer sogenannten "Freiheit" Urheber des Völkermordes ist. Ich erzähle ihm, wie auch ein Muslim hier in meiner Nachbarschaft die Ungleichheiten bei Opfergedenken und Flüchtlingssolidarität als Erweis von Rassismus empfindet.

"Regelbasierte Weltordnung" heißt das Zauberwort dieser Tage. Jan und ich, wir fragen uns, was für "Regeln" denn eine Welt ordnen, in der wenige hundert Individuen mehr Vermögen aufweisen als die ärmere Hälfte der gesamten Erdbevölkerung, in der bei Völkermorden zweierlei Maß genommen wird und in der Politiker:innen als zurechnungsfähig gelten, obwohl sie - trotz der nahen Klimakatastrophen-Szenarien - Milliardenmittel freigeben für den Betrieb von nuklearen Massenvernichtungstechnologien.

Jan, der AfD-Feind und Antirassist, wäre gerne am letzten Samstag nach Berlin gefahren, um das Anliegen von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zu unterstützen. Er versteht die Haltung der Vorstandsmehrheit der einzigen im Parlament vertretenen Antikriegspartei gegenüber dem erfolgreichen Manifest für Friedensverhandlungen nicht. Ich pflichte ihm bei, denn eben diese Kritik habe ich am vergangenen Freitag als Redner beim Gedenken für die Opfer des russischen Angriffskrieges, veranstaltet vom Düsseldorfer Bündnis gegen Hochrüstung, auch vorgetragen.

Als Internationalist gehöre ich übrigens zu den Kritikern des nationalen Paradigmas, das Sahra Wagenknecht seit einigen Jahren bevorzugt. Das hindert mich aber nicht daran, ihre Analyse des Krieges in der Ukraine und daraus folgende Vorschläge für einen Ausweg aus dem Massensterben richtig zu finden. Beunruhigend finde ich, wie wenig Mut zum klaren Widerwort ansonsten in der ehemaligen Antikriegsfraktion des Parlaments zu finden ist.

Nicht wenige Medien, auch sogenannte "linksliberale", wollen wissen, dass Antifaschisten wie Jan und ich auf Tuchfühlung gehen mit dem braunen Sumpf - und zwar, weil wir die von zwei Frauen ins Werk gesetzte Manifest-Bewegung gut finden. Was aber wird im Manifest vorgetragen? Lediglich die minimalsten Eckpunkte dessen, was man von einer bürgerlichen "feministischen Außenpolitik" erwarten müsste: nicht mehr und nicht weniger.

Vor der Verabschiedung teilt Jan noch mit, dass er ein aktuelles Interview mit dem US-Amerikaner Noam Chomsky angelesen hat. Es war in der Nacht in einem Online-Magazin erschienen. Solche Lektüre sei jenen jungen Leute empfohlen, die es für emanzipatorisch halten, sich dieser Tage mit der NATO anzufreunden. Es gibt keine guten Militärimperien, das galt 2003 und das gilt 2023. Um die Massenmordpolitik der Moskauer Regierung anzuprangern, muss man sich nicht gemein machen mit der ultimativen Militärmacht auf dem Globus.

Ein Düsseldorfer Schornsteinfeger hat mir heute Gutes ins Haus gebracht, nämlich die Zuversicht, dass der erneuten rasanten Militarisierung in deutschen Landen Aufklärung entgegenhalten werden kann, und dass namentlich selbstherrliche Kriegspolitikerinnen aus Düsseldorf sich auf einen kräftigen Gegenwind einstellen müssen. Für Menschen wie Jan und für alle Medien, die nonkonformen Stimmen gegen den Strom Raum geben, empfinde ich Dankbarkeit.

Wer die letzten drei Jahrzehnte nicht verschlafen hat, weiß, dass die interessengeleitete militärische Heilslehre die höchste Stufe der Irrationalität ist und noch niemals ein einziges proklamiertes Heilsversprechen eingehalten hat. Außer Leichenbergen, Tränen und astronomischen Rüstungsprofiten vermag sie rein gar nichts hervorzubringen. Es ist zu spät auf der Erde für ein Festhalten an der Militärreligion. Das weiß eine Mehrheit der Menschen. Die großen Nachrichtenredaktionen hierzulande werden es auf Dauer nicht ignorieren können.

Weblink:

  • Das "Manifest für Frieden" vom 10.02.2023 hat schon über 730.000 UnterzeichnerInnen (Stand: 03.03.2023). Hier unterzeichnen:  "Manifest für Frieden"

Veröffentlicht am

03. März 2023

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