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Yurii Sheliazhenko: Frieden in der Ukraine: Die Menschheit steht auf dem Spiel

Von Yurii Sheliazhenko - Rede am 24. Februar 2023 beim Webinar des Internationalen Friedensbüros "365 Days of War in Ukraine: Prospects Towards Peace in 2023"

Liebe Freundinnen und Freunde, viele Grüße aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine.

Wir treffen uns heute an dem entsetzlichen Jahrestag des Beginns einer groß angelegten russischen Invasion, die meinem Land enormes Leid, Tod und Zerstörung gebracht hat.

In diesen 365 Tagen lebte ich in Kiew, unter russischem Bombardement, manchmal ohne Strom, manchmal ohne Wasser, wie viele andere Ukrainer, die das Glück hatten zu überleben.

Ich hörte Explosionen vor meinen Fenstern, meine Wohnung wurde vom Einschlag der Artillerie im Fernkampf erschüttert.

Ich war enttäuscht über das Scheitern der Minsker Vereinbarungen und der Friedensverhandlungen in Belarus und der Türkei.

Ich habe erlebt, wie die ukrainischen Medien und die öffentliche Meinung immer mehr von Hass und Militarismus besessen waren. Sogar noch mehr als in den vergangenen neun Jahren des bewaffneten Konflikts, als Donezk und Luhansk von der ukrainischen Armee bombardiert wurden, so wie Kiew im letzten Jahr von der russischen Armee bombardiert wurde.

Trotz Drohungen und Beleidigungen habe ich offen zum Frieden aufgerufen.

Im Internet, in Briefen an ukrainische und russische Beamte, in Aufrufen an die Zivilgesellschaften und in gewaltfreien Aktionen forderte ich einen Waffenstillstand und ernsthafte Friedensgespräche und bestand vor allem auf dem Recht, das Töten zu verweigern.

Dasselbe taten meine Freundinnen und Freunde sowie Kolleginnen und Kollegen von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.

Wegen der geschlossenen Grenzen und der grausamen Jagd auf Wehrpflichtige auf der Straße, in Verkehrsmitteln, in Hotels und sogar in Kirchen, hatten wir, die ukrainischen Pazifistinnen und Pazifisten, keine andere Wahl, als direkt vom Schlachtfeld aus zum Frieden aufzurufen! Das ist nicht übertrieben.

Eines unserer Mitglieder, Andrii Vyshnevetsky, wurde gegen seinen Willen eingezogen und an die Front geschickt. Er verlangt vergeblich die Entlassung aus Gewissensgründen, da die Streitkräfte der Ukraine sich weigern, das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu respektieren. Die Verweigerung wird bestraft, und wir haben bereits Gefangene aus Gewissensgründen wie Vitalii Alexeienko, der sagte, bevor die Polizei ihn wegen seiner Weigerung zu töten ins Gefängnis steckte: "Ich werde das Neue Testament auf Ukrainisch lesen und um Gottes Gnade, Frieden und Gerechtigkeit für mein Land beten."

Vitaliy ist ein sehr couragierter Mann, der so mutig war, für seinen Glauben einzustehen, ohne zu versuchen, zu fliehen oder dem Gefängnis zu entgehen, denn ein klares Gewissen gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Aber solche Gläubigen sind selten, und die meisten Menschen schätzen ihre Sicherheit eher pragmatisch ein - und sie haben Recht.

Um sich sicher zu fühlen, darf das eigene Leben, die Gesundheit und der eigene Wohlstand nicht in Gefahr sein, und es dürfen keine Sorgen um die Familie, die Freunde und den gesamten Lebensraum bestehen.

Früher dachten die Menschen, dass die staatliche Hoheitsgewalt mit der ganzen Macht der Streitkräfte ihre Sicherheit vor gewalttätigen Eindringlingen gewährleistet.

Heute wird viel über Souveränität und territoriale Integrität geredet. Das sind Schlüsselwörter in der Rhetorik von Kiew und Moskau, Washington und Peking und anderen Hauptstädten in Europa, Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien.

Präsident Putin führt seinen Angriffskrieg, um die Souveränität Russlands vor der NATO zu schützen, dem Herrschaftsinstrument der US-Hegemonie vor seiner Haustür.

Präsident Zelensky fordert und erhält von den NATO-Ländern alle möglichen tödlichen Waffen, mit denen Russland besiegt werden soll, das, wenn es nicht besiegt wird, als Bedrohung für die ukrainische Souveränität wahrgenommen wird.

Die Leitmedien des militärisch-industriellen Komplexes überzeugen die Menschen davon, dass mit dem Feind nicht zu verhandeln ist, wenn er nicht vor den Verhandlungen besiegt wird.

Und die Menschen glauben, dass die Souveränität sie vor dem Krieg aller gegen alle, wie es Thomas Hobbes ausdrückte, schützt.

Aber die Welt von heute unterscheidet sich von der Welt des Westfälischen Friedens, und die feudale Vorstellung von Souveränität und territorialer Integrität wird den dreisten Menschenrechtsverletzungen nicht gerecht, die von allen möglichen Machthabern durch Krieg, pseudodemokratische Kriegstreiberei und durch offene Tyrannei begangen werden.

Wie oft habt ihr schon von Souveränität und wie oft von Menschenrechten gehört?

Wo sind die Menschenrechte verloren gegangen, wenn wir das Mantra über Souveränität und territoriale Integrität wiederholen?

Und wo haben wir den gesunden Menschenverstand verloren? Denn je mächtiger eine Armee ist, desto mehr Angst und Ressentiments löst sie aus und verwandelt Freunde und Neutrale in Feinde. Und keine Armee kann einem Kampf lange aus dem Weg gehen, sie ist begierig darauf, Blut zu vergießen.

Die Bevölkerung muss verstehen, dass sie eine gewaltfreie öffentliche Verwaltung braucht, keine kriegerische Souveränität.

Die Menschen brauchen soziale und ökologische Nachhaltigkeit und keine autarke territoriale Integrität mit militarisierten Grenzen, Stacheldraht und bewaffneten Männern, die gegen Migranten Krieg führen.

Heute wird Blut in der Ukraine vergossen. Aber die derzeitigen Pläne, den Krieg jahrelang und jahrzehntelang zu führen, könnten den ganzen Planeten in ein Schlachtfeld verwandeln.

Wenn Putin oder Biden sich sicher fühlen, weil sie auf ihren Atomwaffenbeständen sitzen, habe ich Angst vor ihrer Sicherheit, und Millionen von vernünftigen Menschen haben ebenfalls Angst.

In einer sich rasch polarisierenden Welt hat der Westen beschlossen, Sicherheit in Kriegsprofiten und dem Anheizen der Kriegsmaschinerie durch Waffenlieferungen zu sehen, und der Osten hat sich dafür entschieden, mit Gewalt das zu nehmen, was er als seine historischen Territorien ansieht.

Beide Seiten haben "Friedenspläne", um sich alles, was sie wollen, auf extrem gewaltsame Weise zu sichern, und dann die andere Seite dazu zu bringen, das neue Kräfteverhältnis zu akzeptieren.

Doch den Feind zu besiegen, ist kein Friedensplan.

Es ist kein Friedensplan, sich umstrittenes Land anzueignen oder die Angehörigen anderer Kulturen aus dem öffentlichen Leben zu entfernen und nur unter der Bedingung zu verhandeln, dass dies akzeptiert wird.

Beide Seiten entschuldigen ihr kriegerisches Verhalten mit der Behauptung, dass es um Souveränität geht.

Doch ich muss feststellen, dass heute etwas Wichtigeres als die Souveränität auf dem Spiel steht.

Unsere Menschlichkeit engl. "humanity" = Menschlichkeit / Menschheit  steht auf dem Spiel.

Die Fähigkeit der Menschheit, in Frieden zu leben und Konflikte ohne Gewalt zu lösen, steht auf dem Spiel.

Frieden bedeutet nicht, den Feind auszurotten, er bedeutet, aus Feinden Freunde zu machen, er bedeutet, sich an eine weltweite menschliche Geschwisterlichkeit und die universellen Menschenrechte zu erinnern.

Außerdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Regierungen und Machthaber in Ost und West durch militärisch-industrielle Komplexe und Großmachtambitionen korrumpiert sind.

Wenn die Regierungen nicht in der Lage sind, Frieden zu schaffen, dann ist es unsere Pflicht, dies als Zivilgesellschaften, als Friedensbewegungen zu tun.

Wir müssen uns für Waffenstillstand und Friedensgespräche einsetzen. Nicht nur in der Ukraine, sondern in allen Kriegen der Welt.

Wir müssen für unser Recht eintreten, sich dem Töten zu verweigern, denn wenn alle Menschen sich weigern zu töten, wird es keine Kriege geben.

Wir müssen praktische Methoden für ein friedfertiges Leben, gewaltfreies Führungsverhalten und Konfliktmanagement lernen und lehren.

An den Beispielen des Täter-Opfer-Ausgleichs und einer umfassenden Ablösung von Rechtsstreitigkeiten durch Mediation können wir Fortschritte in Bezug auf gewaltfreie Ansätze für die Justiz erkennen.

Wir können Gerechtigkeit ohne Gewalt erreichen, wie Martin Luther King sagte.

Wir müssen ein System der Friedensförderung in allen Lebensbereichen aufbauen, als Alternative zur destruktiven militarisierten Wirtschaft und Politik.

Unsere Welt ist krank von fortwährenden Kriegen; diese Wahrheit sollten wir unbedingt anerkennen und aussprechen.

Diese Welt muss mit Liebe, Wissen und Weisheit, mit konsequenter Planung und Friedensaktivitäten wieder in Ordnung gebracht werden.

Lasst uns die Welt gemeinsam zum Guten wandeln.

Videoaufzeichnung des Webinars des Internationalen Friedensbüros "365 Days of War in Ukraine: Prospects Towards Peace in 2023" vom 24.02.2023. Die Rede von Yurii Sheliazhenko beginnt ab Minute 19:40.

Quelle:  World BEYOND War - 01.03.2023. Originalartikel: Peace in Ukraine: Humanity Is at Stake . Übersetzung: Michael Schmid.

Fußnoten

Veröffentlicht am

07. März 2023

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