Ukrainischer Gewaltfreier Widerstand gegen den KriegBuchbesprechung: Filip Daza SierraVon Christine Schweitzer In einer in Kreisen der internationalen gewaltfreien Bewegung vielbeachteten Studie hat der katalanische Friedensforscher Filip Daza Sierra Zivilen Widerstand untersucht, der in der Ukraine gegen den russischen Angriff und Besetzung geleistet wurde. Die Untersuchung deckt den Zeitraum der ersten vier Monate, von Februar bis Juni 2022, ab. Daza und sein Team haben 235 gewaltfreie Aktionen identifiziert und dazu auch 55 Interviews geführt. Bei der Kategorisierung der Aktionen hat sich Daza an Gene Sharps Unterteilung von gewaltfreier Aktion in Protest (symbolische Aktionen), Nichtkooperation und was er "gewaltfreie Intervention" nannte, orientiert. Mit Letzterem ist nicht das gemeint, was im deutschen Sprachraum gewöhnlich so bezeichnet wird, nämlich das Eingreifen in Konflikte anderenorts mit gewaltfreien Mitteln. Sharp nennt "gewaltfreie Intervention" das direkte proaktives Eingreifen in das Projektgeschehen, z.B. durch die Schaffung von Parallelstrukturen. In der Ukraine gehörten zu Protesten u.a. Demonstrationen und das Zeigen der ukrainischen Farben. (Heute, im Winter 2022-23, gibt es in den besetzten Gebieten die sog. "gelben Bänder", mit denen Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie mit der Annexion durch Russland nicht einverstanden sind.) Nichtzusammenarbeit trat ab Ende März mehr in den Vordergrund. Ein Schwerpunkt hier war der Bildungssektor, in dem Lehrer*innen sich erfolgreich gegen russische Versuche zur Wehr setzten, ihre Curricula dem russischen Schulsystem anzupassen. (Ein Vergleich zu dem Widerstand der norwegischen Lehrer*innen gegen Nazi-Deutschland ist dabei durchaus zulässig.) Auch bei der Durchführung der Referenden und der Verwaltung der besetzten Gebiete kam es vielfach zu Nichtzusammenarbeit durch die Beamt*innen. "Gewaltfreie Intervention" umfasste anfänglich gewaltfreie Blockaden der vorrückenden Panzer - wodurch diese in manchen Fällen gestoppt werden konnten - und später u.a. die Schaffung von Flucht- und Hilfskorridoren aus den besetzten Gebieten in die freien Teile der Ukraine. Das Monitoring von Kriegsverbrechen ist ein weiterer Schwerpunkt in dieser Kategorie. Geographisch gesehen fanden die meisten Aktionen in den besetzten südlichen Oblasten (Kherson und Saporischschja) statt. Öffentliche Aktionen gab es am Anfang der Besatzung; sie gingen dann aber - wohl aufgrund der russischen Repression mit Festnahmen und Folter, Entführung von Aktivist*innen - stark zurück. Das ist aber nicht identisch mit der Aufgabe des Widerstands, er wandelte lediglich sein Gesicht und wurde weniger sichtbar. Daza beurteilt den Zivilen Widerstand in der Ukraine als durchaus effektiv. Er habe dazu beigetragen, dass Russland seine politischen Ziele, die Beherrschung der Menschen in den besetzten Gebieten, nicht erreicht habe. Er trug bei zu:
Daza weist darauf hin, dass der Zivile Widerstand von der großen Mehrheit der Aktivist*innen eher als Ergänzung denn als Alternative zu militärischem Widerstand gesehen wird. So informierten (und informieren) Zivilist*innen das Militär über Positionen der russischen Armee und über Kollaborateure oder führen Sabotageakte durch. (Das dürfte, so könnte angemerkt werden, auch den Beobachtungen über Zivilen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im 2. Weltkrieg entsprechen, die in der Literatur ausführlich dokumentiert sind.) Interessant ist auch der historische Rückblick des Autors. Er weist darauf hin, dass die Tradition Zivilen Widerstands nicht mit dem Aufstand gegen Präsident Janukowitsch 2014 begann, sondern schon vor 100 Jahren, nämlich 1917, mit dem Versuch der Schaffung von anarchistischer Selbstverwaltung in Teilen der Ukraine, die erst mit der sowjetischen Machtübernahme 1922 zu Ende ging. Die Studie endet mit zehn Empfehlungen des Autors an den zivilen Widerstand, die hier nicht aufgelistet werden können. U.a. gehört dazu, den Widerstand in den besetzten Gebieten mehr zu unterstützen. Die Studie enthält einen Anhang, der alle identifizierten Aktionen auflistet. Sie ist allen empfohlen, die sich für Zivilen Widerstand in der Ukraine interessieren! Daza Sierra, Filip (2022) Analysis of trends, impacts and challenges of nonviolent action in Ukraine between February and June 2022, International Catalan Institute for Peace (ICIP), International Institute for Nonviolent Action (Novact), German Friedrich-Schiller-University Jena and German peacebuilding NGO Corridors - Dialogue through Cooperation, 55 Seiten, als PDF verfügbar u.a. hier: https://novact.org/wp-content/uploads/2022/10/ENG_VF.pdf Die Studie wurde von Andreas Zumach ins Deutsche übersetzt und kann hier heruntergeladen werden: "Gewaltfreier ziviler Widerstand in der Ukraine im Angesicht des Krieges" Christine Schweitzer ist u.a. Redakteurin des Friedensforums. Die an ein paar Stellen in Klammern gesetzten zusätzlichen Informationen stammen aus einem Webinar, das Anfang Dezember die rumänische NRO Patrir mit Daza und zwei Mitarbeiter*innen einer ukrainischen und einer internationalen Organisation (Nonviolence International) durchführte. Quelle: FriedensForum 2/2023. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Christine Schweitzer. Hinweis: Vortrag: Gewaltloser Widerstand in der Ukraine - Möglichkeiten und GrenzenAnslässlich des ersten Jahrestags des Angriffskrieges organisierte die „Initiative Friedensstadt Freiburg“ am 22. Februar in Freiburg die Veranstaltung "Gewaltloser Widerstand in der Ukraine: Möglichkeiten und Grenzen". Stefan Maaß, Friedensbeauftragter der Evangelischen Landeskirche in Baden, stellte die Studie Filip Daza Sierra vor. Er sprach über die Möglichkeiten und die Grenzen gewaltfreien Widerstands nach einem militärischen Angriff. Eine Videoaufzeichnung des Vortrags ist unter diesem Link aufrufbar:
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