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Leo Tolstoi zum Komplex “Staat-Kirche-Krieg”

Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus

Von Tolstoi-Friedensbibliothek

Der jetzt erschienene zweite Sammelband der Reihe B des Editionsprojektes ‘Tolstoi-Friedensbibliothek’ ist der Trias "Staat - Kirche - Krieg" gewidmet. Erschlossen werden Texte aus drei Jahrzehnten. Sie sind z. T. noch weniger bekannt als die religiösen (bzw. theologischen) Grundwerke von Leo N. Tolstoi (1828-1910) und angesichts fehlender Antiquariatsangebote zumeist nur als ziemlich teure Nachdrucke oder gar nicht mehr erhältlich. Das Buch enthält u.a. folgende Schriften Tolstois: Ernste Gedanken über Staat und Kirche (Cerkov’ i gosudarstvo, 1879) - Patriotismus und Christentum (Christianstvo i patriotizm, 1894) - Sinnlose Hirngespinste (Bessmyslennye mectanija, 1895) - Patriotismus oder Frieden (Patriotizm ili mir?, 1896) - Cathargo delenda est (1898) - Patriotismus und Regierung (Patriotizm i pravitel’stvo, 1900) - Muss es denn wirklich so sein? (Neuzeli eto tak nado?, 1900) - Eines ist Not (Edinoe na potrebu, 1905) - Es ist Zeit, zu begreifen (Pora ponjat’, 1909).

Schon als junger Mann bestreitet Tolstoi kategorisch, der Staat als Betreiber von Totmachmaschinen könne ein Hüter von Moral sein. (Im letzten Lebensjahr wird er dann erneut vor einem "Dschingis Khan mit Telegraphen" warnen.) In seiner ‘Sinnkrise’ der 1870er Jahre erahnt der Dichter so etwas wie ein ‘Lehramt der Armen’ und versucht deshalb, sich wieder der volkskirchlichen Praxis zu nähern. Ein Religionsunterricht, in dem seine Kinder Katechismus-Paragraphen über erlaubte Tötungsakte (Hinrichtungen, Krieg) lernen sollen, führt schneller als alle anderen Bedenken zum Abbruch der Annäherungen an die Priesterkirche.

Zu Beginn des unheilvollen 20. Jahrhunderts wendet sich Tolstoi mit folgender Botschaft an seine Menschengeschwister: "Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft". Patriotismus ist in seinen Augen Sklaverei: ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden.

Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem einen Kirchenbau, welcher die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und die Ermordung von Menschen im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt. Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen ‚christlichen’ Institutionen ohne jede Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden.

Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums. Hier pflichtet der russische Denker sogar dem sonst wenig geschätzten Friedrich Nietzsche bei und zeichnet sich durch eine Vehemenz aus, die uns - je nachdem, wo wir beheimatet sind - in Erstaunen oder Erschrecken versetzt. Noch ohne Kenntnis der auf allen Sendern theologisierten Kriegsgewalt im ‘Menschenschlachthaus 1914-1918’ vertritt er schließlich - besonders nachdrücklich in den Traktaten Muss es denn wirklich so sein? (1900) und Eines ist Not (1905) - die These, es seien weder soziale Befreiung noch Frieden möglich, solange die traurigen Staatskirchen- und Klerikergebilde fortbestehen: Erst wenn diese gotteslästerliche "falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und … jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören."

In seinem Lesezyklus für alle Tage (Krug čtenija, 1904-1906) möchte Leo N. Tolstoi, der sich in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus nicht mit editorischen Tugenden hervortut, seine Freude an den Sprach- und Lebenszeugnissen anderer mit uns teilen. Wieso kennt kaum jemand die scharfsinnige Kritik der Staatsmacht aus der Feder des sechszehnjährigen Etienne de La Boëtie (1530-1563) oder die Entlarvung des blasphemischen Kriegskirchenkomplexes schon durch den tschechischen Laienreformator Peter von Chelčický (ca. 1390-1460)? Abhilfe soll geschaffen werden durch Lesebücher im Dienste des Lebens. Die populäre Vermittlung historischen Grundwissens über den Pazifismus der Alten Kirche war den zeitgenössischen Zensoren allerdings schon zu viel des Guten.

Projektseite: www.tolstoi-friedensbibliothek.de (Alle Publikationen sind hier in digitaler Form kostenfrei abrufbar)

Der neue Buchband:

Leo N. Tolstoi: Staat - Kirche - Krieg. Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus. (= Tolstoi-Friedensbibliothek, Reihe B, Band 2; Hg. Peter Bürger).Norderstedt: BoD 2023. (ISBN: 9783734763014; Paperback, 320 Seiten; Preis 12,99 Euro).

Leseprobe und Bestellmöglichkeit hier beim Verlag: https://www.bod.de/buchshop/staat-kirche-krieg-leo-n-tolstoi-9783734763014

Veröffentlicht am

29. März 2023

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