Wie funktioniert Soziale Verteidigung?Haltung, Methoden, Wirkungsweisen Erweiterte Fassung eines Beitrags in Friedensforum 2/2023 .Von Martin Arnold Tschechoslowakei, 21.-27. 8. 1968 Politische Reformen führten 1968 in der Tschechoslowakei zu einem "Sozialismus mit menschlichem Gesicht", dem "Prager Frühling". Doch am 21. August sollte "der Sozialismus gerettet", die größere Freiheit gewaltsam beendet werden. Panzer aus der Sowjetunion und anderen ‚sozialistischen Bruderländern’ fielen in das Land ein. Die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand gegen die Invasion machte das Radio sofort bekannt. Einige Kompanien landeten im Wald statt in Prag: Straßenschilder waren verdreht - GPS gab es noch nicht. Und Einheimische stellten sich ihnen in den Weg. Und sie redeten mit ihnen: "Die Meinungen des Volks sind jetzt in der Politik gefragt! Wir reden mit, öffentlich und auch in offiziellen politischen Sitzungen! Nicht mehr die Partei bestimmt jetzt unsere Bürgermeister, sondern wir alle wählen sie! Sozialismus geht auch mit Freiheit!" Die Soldaten wurden von solchen Ideen angesteckt - nach drei Tagen mussten sie ausgewechselt werden. Jahre später erzählte mir ein junger Mann in der DDR, dass er zu den ausgetauschten Soldaten gehörte. An den Zielorten angelangt, hinderte ziviler Widerstand die Invasoren, die politische Macht zu übernehmen - bis er abgebrochen wurde. Der Abbruch führte zur Rücknahme der Reformen. Doch solange Widerstand geleistet wurde: eine Woche, war er erfolgreich. Denn jede Herrschaft ist auf Gehorsam angewiesen. Während die Bevölkerung möglichst normal weiterlebte, gehorchte sie den Invasoren nicht. Wie Soziale Verteidigung (SV) funktioniert, ist an diesen Ereignissen erkennbar. Doch zunächst einige Worte zur Einordnung. Bedrohungen abwendenWie können wir - kollektiv oder einzeln - auf Bedrohungen oder Angriffe reagieren? Manchmal ist Flucht möglich, manchmal (zeitweise) Unterwerfung klug, manchmal Widerstand. Für das Widerstehen gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten: a. Schädigung der Angreifenden ("Gewalt") soll bewirken, dass diese nicht mehr angreifen können. Wie? Angriffsmittel wegnehmen oder zerstören; Angreifende kampfunfähig machen oder töten. b. Ziviler Widerstand soll bewirken, dass die Angreifenden nicht mehr angreifen wollen. Wie? 1. "Den Gegner zum Freund gewinnen", d.h. zur Mitwirkung an der Überwindung des Konflikts; ihn so, z.B. auf Verbundenheit oder im Gewissen ansprechen, dass die Angriffsmotivation schwindet: "Vertrauen aufbauen und Paroli bieten" (B. Bläsi); Dialog. 2. Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand: keine Unterstützung; Ressourcen, auch Angriffsmittel, entziehen; nicht gehorchen. Für das Verhalten bei Bedrohung gibt es unendlich viele Methoden. In der Gandhi-Tradition beschrieb G. Sharp 198 Aktionsformen wie Demonstration, Guerillatheater, Sit-in, Boykott, Streik, Fraternisierung mit Soldaten, Embargo usw. Und es werden immer neue erfunden, etwa Bewerfen von Scheiben vor berühmten Gemälden mit Kartoffelbrei, dies kommentieren, alles filmen und auf Twitter veröffentlichen (20 Millionen Klicks in wenigen Tagen). Angesichts neuer, u.a. digitaler Techniken, auch im Militär, ist es erforderlich, für Soziale Verteidigung neue Methoden zu entwickeln. Viele Ansätze dazu gibt es bereits im Krieg in der Ukraine. Beispielsweise wurden in Russland die staatlichen Maßnahmen gegen Informationen über den Krieg in der Ukraine dadurch unterlaufen, dass Berichte darüber in Online-Partnersuche-Plattformen verbreitet wurden (vgl. auch https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/014655.html ). Grundelemente zivilen WiderstandsZwei Einsichten sind für Haltung und Methodik sowie Wirkung und Erfolg grundlegend: A. Unterscheidung von Tat und Täter. Menschen ("Täter"), die einen Missstand stützen ("Tat"), können wirksam darauf angesprochen werden, ihre Unterstützung abzubauen. Denn alle Menschen möchten eigentlich zum Guten beitragen und können dies. Diese in uns allen schlummernde Fähigkeit nannte Gandhi Satjagrah: Kraft aus Wahrheit und Liebe, Gütekraft, Kraft der Gewaltfreiheit. Was jeweils das Gute ist, darüber kann es Streit geben. Aber dass Menschen zu töten nicht gut ist, wissen alle. Innerhalb Organisationen gibt es wie im Innern des einzelnen Menschen oft Zweifel an der Richtigkeit vor allem brutaler Tätigkeiten. Zweifel schüren, sodass ‚Sicherheitskräfte’ nicht mehr wunschgemäß ‚funktionieren’ oder sich gar offiziell vom Befehlsgeber lossagen, ist ein sehr wirksames Mittel des gewaltfreien Vorgehens. Wenn sie nicht mehr gehorchen, wird Herrschaft schwierig, auch Diktatur wie 1986 in den Philippinen, sie nannten es "Würde anbieten": https://t1p.de/PeoplePower . Zu dieser Haltung gehört auch, jederzeit und unter allen Umständen, auch z.B. nach Massakern, zum Dialog auch mit den politisch verantwortlichen Personen bereit zu sein. B. Herrschaft braucht Gehorsam. Darum kann sie in dem Maße geschwächt werden, wie diejenigen, die beherrscht werden sollen, Gehorsam und Zusammenarbeit verweigern. Bei Widerstand gegen Herrschaftsversuche ist mit Unterdrückungsmaßnahmen zu rechnen. Soziale Verteidigung gegen einen Gegner, der bereit ist zu töten, kann deshalb die gleiche Bereitschaft erfordern, das Leben einzusetzen, wie sie von Soldaten gefordert wird - mit dem Unterschied, dass niemand bedroht wird und keine Bedrohungsgefühle zu Aggression führen. Wirkungsweisen Sozialer VerteidigungWas vom 21. - 27. 8. 1968 in der Tschechoslowakei geschah, war unvorbereiteter, dennoch in seiner kurzen Zeit effektiver Ziviler Widerstand. Soziale Verteidigung als Sonderfall davon gegen Militärs braucht normalerweise Vorbereitung, um effektiv zu sein. Ihre Hauptwirkungselemente sind trotzdem in vielen Beispielen spontanen zivilen Widerstands erkennbar. 1. Psychische (mentale) Wirkungselemente 1.1 Informationen und Stärkung des Zusammenhalts sind besonders gegen Repressalien wichtig. Täglich um 12 Uhr zeigten 1968 Massen auf der Straße durch Lärm mit Töpfen und Deckeln ihre Entschlossenheit zum Widerstand nach außen und nach innen. Das Radio informierte. Mit der Einnahme des Senders war zu rechnen, rechtzeitig wurde ein Untergrundsender aufgebaut und ein weiterer in Österreich, unerreichbar für die Invasoren. In Ägypten wurden 2011 für diese Ziele vor allem Facebook und Twitter genutzt. 1.2 Mit den Invasoren reden. In Prag umringten Menschenmassen die Panzer. Sie luden Soldaten als potenzielle Freunde ein, am Abbau der Missstände (Invasion und Diktatur) mitzuwirken: "Fahrt nach Hause, führt dort freiheitlichen Sozialismus ein!" Auch in Ägypten solidarisierten sich Soldaten auf dem Tahrir-Platz gegen die Diktatur. Gegenbeispiel: In nationalistischer Verblendung wurden 1923 im Ruhrkampf weder Soldaten vor Ort angesprochen noch auf Regierungsebene ein Dialog mit den Invasoren angestrebt. Dies und weitere Gründe führten trotz anfänglichen Erfolgs (s. 2.2) zum unrühmlichen Abbruch des Widerstands. 1.3 Dritte können manchmal helfen. Der Ruhrkampf-Konflikt wurde durch den Dawes-Plan aus den USA überwunden. 2. Physische Wirkungselemente 2.1 "Dynamische Weiterarbeit": Um Soziale Verteidigung über längere Zeit durchführen zu können, muss die Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten werden. 2.2 Aktive "Nichtzusammenarbeit": keine Unterstützung; Ressourcen, auch Angriffsmittel, entziehen; nicht gehorchen. Am 21.8.1968 stoppten kleine Gruppen auf der Straße Panzerkompanien, u.a. verdrehte Straßenschilder verzögerten den Vormarsch nach Prag um einen ganzen Tag. Im Ruhrkampf verzögerte der "passive Widerstand" die Kohlelieferungen erheblich: Eisenbahner und Bergleute streikten und legten den Bahnverkehr lahm, indem sie Bolzen aus Lokomotiven unter ihrem Bett versteckten, Schienen am Berg mit Schmierseife rutschig machten, sodass die Lokomotiven nicht mehr vorankamen, usw. In den ersten drei Monaten kam so weniger Kohle in Frankreich an als vorher in zehn Tagen. Ein Beispiel starker physischer Wirkung zeigt der Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920, bei dem Militärs die Weimarer Republik beenden und das Kaiserreich wieder aufrichten wollten. Der größte Generalstreik der deutschen Geschichte behinderte die Machtübernahme der Putschisten. Wasser und Gas, Telefon und elektrisches Licht funktionierten nicht. Regierungsbeamte gehorchten dem "neuen Reichskanzler" nicht. Nach vier Tagen floh er ins Ausland. Die gewählte Regierung kehrte aus Stuttgart nach Berlin zurück und konnte weiterarbeiten. SummaDurch Soziale Verteidigung wird militärische Machtübernahme oder Herrschaft praktisch unmöglich oder wirtschaftlich bzw. politisch so teuer, dass sie aufgegeben wird. Der Friedensforscher Dr. Martin Arnold, Essen, meldete sich nach der Schule zur Bundeswehr und verweigerte als Soldat aufgrund eines Sinneswandels den Kriegsdienst. Seitdem beschäftigt er sich mit der Frage: Wie ist es möglich, gewaltbereiten Kollektiven oder Einzelnen ohne Drohung oder Gewalt wirksam entgegenzutreten? Er hat Berichte von solchen Ereignissen gesammelt: https://kraftderguete.blogspot.com/ und die Wirkungsweise beschrieben: www.martin-arnold.eu FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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