Panorama-Fahrt über das Meeresgrab: Bitte wegschauen?Von Elisabeth Voß Wer eine Zeitung abonniert hat - so ganz old-fashioned als Papierausgabe - bekommt regelmäßig Werbebeilagen. Kürzlich fiel mir ein unbeschrifteter Umschlag entgegen, darin ein Angebot mit erheblichem Preisnachlass für Leser:innen: "7 Tage exklusive Studienreise Rhodos & Ägäis" und "8 Tage Erholung im exklusiven 4-Sterne-Hotel auf Rhodos". Der Schnäppchenpreis macht sofort misstrauisch, denn in der profitorientierten Marktwirtschaft gibt es nichts geschenkt. Aber es soll hier nicht darum gehen zu fragen, wie seriös so ein Lockangebot ist, zu dem weitere Leistungen gegen Aufpreis angeboten werden und in dessen Rundfahrten Besuche bei Firmen eingebaut sind, wo die meist älteren Reisenden - wie bei den berüchtigten Kaffeefahrten - genötigt werden, zu überteuerten Preisen einzukaufen. Auch die Frage nach der Legitimität von Flugreisen wird hier nicht gestellt, stattdessen soll es um die gespaltenen Wirklichkeiten des Reiseziels gehen. Als "Insel des Sonnengottes" wird Rhodos angepriesen. Die Insel gehört zu Griechenland und liegt im Ägäischen Meer nahe der Türkei. Die Altstadt von Rhodos ist Unesco-Weltkulturerbe. Eine "Panoramafahrt entlang der Küste" soll die Reisenden nach Lindos bringen, das "als die Perle von Rhodos gilt". Am vierten Tag der Reise "genießen wir eine traumhafte Panorama-Überfahrt im modernen Katamaran" in die Türkei, nach Marmaris. Moderner Katamaran oder SchlauchbootWährend Tourist:innen traumhaft und sicher das Meer überqueren, werden andere unter Lebensgefahr zu dieser Reise gezwungen. Ein Betroffener berichtet*, wie 24 Menschen ausgeraubt, geschlagen und nördlich von Rhodos zurückgedrängt wurden: "Wir waren mit 24 Personen und drei Kindern auf einem Schlauchboot unterwegs, und drei Kilometer vor der griechischen Küste ging unser Motor aus. Wir alarmierten die griechische Küstenwache. Als sie kamen, verprügelten sie uns, nahmen uns unsere Telefone und unsere persönlichen Gegenstände ab und beleidigten und beschimpften uns. Sie schrien: ‚Wir wollen euch nicht, wir bekommen Geld von der EU, um euch ertrinken zu lassen, warum kommt ihr hierher?’ Dann zerstörten sie unser Boot, und wir trieben unter großer Gefahr dahin. Später kam die türkische Küstenwache. Wäre sie 30 Minuten später gekommen, wären wir ertrunken und schon tot gewesen." Am achten Reisetag soll es von der Türkei zurück nach Rhodos gehen, wieder mit einer Panorama-Überfahrt. Die touristisch Reisenden beziehen auf der griechischen Insel ihr "exklusives 4-Sterne-Hotel in unmittelbarer Strandnähe" und können einen wunderbaren Erholungsurlaub verbringen. Andere werden nicht so freundlich empfangen: "Um Europa zu erreichen, fuhren wir von Bodrum auf die griechische Insel Rhodos. Ich bin 17 Jahre alt und habe zwei Freunde, M. und G. Auf Rhodos kamen wir in einer Stadt namens Soroni an. Dort wurden wir von der Polizei verhaftet. Ich bemerkte die Abzeichen mit der Aufschrift ‚Hellas’ auf ihren Uniformen. Ich sagte einem von ihnen auf Englisch, dass ich Asyl beantragen möchte und dass ich minderjährig bin. Sie brachten uns zu einer Kirche in der Nähe des Meeres. Ich wusste nicht, wo der Ort war, weil sie unsere Telefone beschlagnahmt hatten. Sie beruhigten uns: ‚Wir werden euch ins Lager bringen.’ Aber das war ein Trick. Wir warteten bis zum Abend, und dann übergaben sie uns der Küstenwache. Diese setzte uns auf dem Meer aus. Wir trieben zwei Tage ohne Telefone, ohne Essen und Wasser dahin." Solidarität gegen den Krieg Europas2012 wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet "für ihre jahrzehntelange Verbreitung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa". Dieselbe EU, die heute meint, mit Waffenlieferungen an die Ukraine "westliche Werte" verteidigen zu müssen. Die EU, die seit Jahren - auch schon lange vor 2012 - an ihren Außengrenzen einen Abschreckungskrieg gegen flüchtende Menschen führt. Allein in den zwei Jahren von März 2020 bis März 2022 "wurde das Alarm Phone in 141 Notsituationen alarmiert, bei denen es zu direkten Angriffen, Inhaftierungen oder Toten in der ägäischen Region kam". Das Alarm Phone ist ein selbstorganisiertes Callcenter in Europa und Nordafrika. 200 Aktivist:innen nehmen Anrufe von Flüchtenden auf dem Mittelmeer und von besorgten Angehörigen entgegen. Ihre unbezahlte Arbeit haben sie am 11. Oktober 2014 begonnen. "Seither sind unsere Schichtteams rund um die Uhr erreichbar und haben ca. 5.000 Booten in Seenot geholfen, die sich auf einem der verschiedenen Seewege nach Europa befanden: über das Mittelmeer, über den Atlantik zu den Kanarischen Inseln und seit 2022 auch über den Ärmelkanal von Frankreich nach England. Auf einigen der 5.000 Boote befanden sich nur fünf bis zehn Personen, überwiegend waren es jedoch 30 bis 80 Personen, häufig mehr als 100 und in wenigen Fallen sogar mehr als 500 Menschen." Das Alarm Phone konnte Tausenden das Leben retten, aber die Aktivist:innen werden ebenso "am Telefon Zeug:innen, wie tausende Menschen verschwunden und ertrunken sind". Viele, die sich engagieren, haben selbst eine Flucht überlebt. "Das ist versuchter Mord"Am 2. Januar 2020 starben zahlreiche Menschen, die mit einem Boot vom türkischen Fethiye nach Rhodos fahren wollten. Das Alarm Phone war vom Freund einer Reisenden informiert worden, konnte das Boot aber nicht erreichen. Auf ihrer Website berichten die Aktivist:innen: "Ein Vater, der bei diesem Schiffsunglück zwei Söhne verloren hatte, hoffte bis zuletzt, dass sie gerettet würden. Seine Söhne hatten ihm vor ihrer Abfahrt gesagt, dass sie hoffen, nach ihrer Ankunft in Europa das Silvesterfeuerwerk in der Türkei von Griechenland aus zu sehen. … eine schreckliche Tragödie, die mindestens 14 Menschen das Leben kostete und unzählige trauernde Angehörige und Freund:innen zurückließ. Dieses Unglück ist für die Mehrheit der Menschen aus dem Globalen Norden nicht sichtbar und vielleicht nicht einmal relevant." Bei einer sicheren Katamaran-Fahrt über das Mittelmeer kann es vielleicht vorkommen, mit einer solchen Tragödie konfrontiert zu werden. Vielleicht kommen in Urlaubsorten flüchtende Menschen an, vielleicht werden Tote an Land gespült. Manchmal ist so etwas den Medien zu entnehmen. Offensichtlich gibt es heute wieder lebenswertes und nicht lebenswertes Leben, geschichtsvergessen und mit erschütternder Grausamkeit. ( Rabe Ralf Juni 2021, S. 18 ). Viel zu oft bleibt das unsichtbar und ungehört. "Europa, deine Toten", so überschrieben die Herausgeberinnen Kristina Milz und Anja Tuckermann ihr Nachwort zu dem Buch "Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste" (Hirnkost Verlag 2018, Rabe Ralf Februar 2019, S. 26 ). Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2023 soll eine Neuauflage erscheinen. "Der Krieg gegen Menschen auf der Flucht ist auch in der Ägäis und auf dem Landweg zwischen der Türkei und Griechenland eine alltägliche Realität. Beide Regierungen, die griechische und die türkische, benutzen flüchtende Menschen als Pfand in ihren militaristischen und nationalistischen Machtspielen. Griechische Pushbacks finden schon seit geraumer Zeit statt, doch seit März 2020 sind sie zur Regel geworden. Selbst Menschen, die bereits auf griechischen Inseln an Land gegangen sind, werden auf kleine Rettungsinseln gezwungen und in türkischen Gewässern ausgesetzt. Sprechen wir aus, was das ist: versuchter Mord."
Elisabeth Voß ist freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft. Mehr Infos auf ihrem Blogg: http://www.elisabeth-voss.de/ Quelle: Pressenza - 22.04.2023. Dieser Artikel erschien in der Ausgabe April/Mai 2023 der Berliner Umweltzeitung Rabe Ralf . Er ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreiten und vervielfältigen werden. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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