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Der 11. September in Chile

Persönliche Erinnerungen und Ausblick 50 Jahre nach dem Militärputsch

Von Isabel Lipthay

Am 10. September 1973 ging ich in einem aufgewühlten Santiago de Chile zu Bett. Ich war Journalismus-Studentin und sang im Chor der Technischen Universität, zu dem auch Víctor Jara, Inti Illimani und Quilapayún gehörten. Mit diesem Chor nahmen wir an internationalen Festivals teil und vertraten die sozialistische Regierung Allende, wir reisten von Norden nach Süden und sangen für Kinder, Bergarbeiter und kamen sogar bis nach Puerto Williams.

Ich erlebte diese drei Jahre Chile der Unidad Popular intensiv zwischen Studium, Universitätsbesetzungen, Freiwilligenarbeit bei der Maisernte, Demonstrationen, lateinamerikanischen Liederfestivals mit Silvio Rodríguez und Pablo Milanés aus Kuba, der Peña de los Parra mit Isabel und Ángel, Kindern von Violeta Parra, Víctor Jara, Patricio Manns, Musiker*innen der Bewegung des Neuen Chilenischen Liedes. Filmfestivals, bei denen Politik und soziale Gerechtigkeit das zentrale Thema waren. Eine Kultur des Muralismus, die die Wände Chiles eroberte und einen neuen Stil in der lateinamerikanischen Wandmalerei prägte.

Ich, die ich aus dem idyllischen Puerto Varas kam, mit meinen Vulkanen und meinem See, war in Santiago Teil dieses wunderbaren Flusses von Veränderungen seit den Wahlen von 1970 mit Allende und der Unidad Popular, wo Kupfer verstaatlicht wurde, wir die Agrarreform erlebten, Arbeiter*innen nachts an den Universitäten studierten, der "Zug der Kultur" Musiker*innen und Theatergruppen durch ganz Chile brachte, Bücher sich sehr preiswert verbreiteten, Kinder täglich kostenlos einen halben Liter Milch erhielten …

Im Verborgenen planten die Vereinigten Staaten mit Nixon, Kissinger und der CIA gemeinsam mit der chilenischen Oligarchie, der reaktionären Presse und Militärs den Putsch. Der Streik der von der CIA bezahlten Lastwagenfahrer brachte die Lebensmittelversorgung im Land zum Erliegen. Ich erlebte es auf der Baustelle, für die mein Vater als Bauleiter zuständig war: In der Nähe der Silobaustelle in Malloco wurden Hunderte von Lastwagen angehalten, umringt von bewaffneten Männern, damit sie KEINE Lebensmittel ins ganze Land lieferten …

Ich lebte in einer WG von neun Personen in Ñuñoa, zusammen mit Chilen*innen, US-Amerikaner*innen, einer Kanadierin, einem Kolumbianer, Schweizer*innen und Argentinier*innen. Die ganze Welt beobachtete diesen unglaublichen politisch-sozio-kulturellen Prozess, der so gewaltig war.

Der erste Putschversuch im Juni 1973

Wir sahen den ersten Putschversuch im Juni 1973 im Zentrum von Santiago, Soldaten, die aufeinander schossen, einige von ihnen waren Allende-Anhänger, die anderen Putschisten. Ich sah einen mit Zeitungen bedeckten Körper und ein Gehirn an der Wand, dahinter einen Panzer, Schüsse … Wir sind von dort geflohen! Später erfuhren wir, dass es sich bei der Leiche um den Kameramann Leonardo Henrichsen handelte, der seinen eigenen Tod gefilmt hatte …
In dieser Nacht gingen wir zu Tausenden auf die Straße, um den gescheiterten Putsch zu feiern, Allende und seine Minister*innen sahen uns von der Tribüne von La Moneda betrübt an, sie wussten, was kommen würde, wir, das Volk, nicht …

Obwohl die Musiker*innen in ihren Liedern es bereits prophezeiten. Víctor Jara sang in "Manifiesto" (Manifest):

"Dass der Gesang seinen Sinn behält/ wenn in den Adern dessen/ der singend sterben wird/ die Wahrheit zuckt".

In "Stürme des Volkes" sang Víctor Jara mit Inti Illimani:

"Schon wieder wollen sie beflecken/ mein Land mit Arbeiterblut/ die, die von Freiheit sprechen/ und schmutzige Hände haben …"

Das kraftvollste Lied war das von Sergio Ortega, das immer noch auf der ganzen Welt gesungen wird, so wie es heute die Frauen aus Iran singen:

"¡El pueblo unido/ jamás será vencido!"
("Die vereinte Bevölkerung/ wird niemals besiegt!")

So schlief ich am 10. September 1973 ein: mit dem Bewusstsein, dass Chile unser Land war, in dem wir gemeinsam jeden Tag die Veränderungen schrieben, während auf den Straßen Gewalt zwischen Links und Rechts herrschte, während mein eigener Bruder zur ultrarechten Organisation "Patria y Libertad" gehörte …

Am 11. September 1973 wachte ich in der Frühlingssonne auf, ich trampte zur Universität, im Auto hörte man nur Marschmusik. Hubschrauber flogen am Himmel, ich trampte nach Hause, ich weckte alle auf, wir hörten das Radio, die ergreifende Rede von Allende, wir liefen zu einem "cordón industrial" (von Arbeiter*innen selbstverwalteten Industriebereich), die Arbeiter*innen waren in ihren Fabriken, um sie ohne Waffen zu verteidigen … Wir sahen die Angst einflößenden Kriegsflugzeuge über uns hinwegfliegen, den furchtbaren schwarzen Rauch, der aus La Moneda aufstieg … Stumm sahen wir die Demokratie sterben, diese große Utopie, die sich nun in Blut, Schreie, Folter, Verschwindenlassen, Tod, Exil verwandelte …

Der schreckliche Tod von Allende, Victor Jara, Neruda, so vieler Frauen, Männer und Kinder, getrennte Familien, die Geheimpolizei, der auch mein Bruder angehörte, erfüllte das Land mit Gewalt, Angst, Schweigen. Bis sich die chilenische Bevölkerung in den 17 Jahren der grausamen Diktatur Pinochets mehr und mehr erhob, mit dem "Canto Nuevo""neuer Gesang" = die oppositionelle musikalische Bewegung unter der Diktatur. sang, seine Angst verlor, demonstrierte und es schaffte, zu einer sogenannten "Demokratie" zurückzukehren. Aber die Geschichte erzähle ich ein anderes Mal …

Ausblick

Im Jahr 2019 war der soziale Ausbruch ein kurzer Traum mit einer Blutspur und Hunderten von erblindeten Augen Bei den Protesten ab Oktober 2019 wurde gezielt auf die Augen der Demonstrierenden geschossen, mehr als 450 blieben auf einem oder beiden Augen blind., dem Entwurf der schönsten Verfassung der Welt mit Anerkennung der indigenen Völker und der sexuellen Diversität, lebendigem Feminismus, sozialer Gerechtigkeit in allen Bereichen, der Wahl des jungen Linken Gabriel Boric zum Präsidenten.

Und heute? Erneutes Zittern um diese zerbrechliche Demokratie, die inmitten von Hass, Fake News und der zu allem bereiten chilenischen Ultrarechten zu zerbröckeln scheint.

Aus Sicht meiner 40 Jahre Münster, meiner geliebten Familie, dem "Duo Contraviento" mit Martin, dem Schreiben, Freund*innen und Solidaritätsgruppen im ganzen Land, dem Besuch von Schulen, leiste ich weiter Erinnerungsarbeit, damit sowohl in Chile als auch in Deutschland gilt: NIE WIEDER!

Isabel Lipthay ist eine chilenische Autorin, Musikerin und Journalistin, die unter der Diktatur im Kulturbereich gearbeitet hat. Nach ihrer Haft kam sie 1983 nach Deutschland. 1986 gründete sie mit Martin Firgau das Duo Contraviento. Sie unterrichtet Spanisch und geht als Zeitzeugin in Schulen. Kontakt/Infos: www.contraviento.de

Quelle: graswurzelrevolution 481 september 2023.

Fußnoten

Veröffentlicht am

24. September 2023

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