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Vor 40 Jahren: Die Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm 1983

Von Michael Schmid

Am 12.12.1979 hatte die NATO einen "Doppelbeschluss" gefasst. Sie kündigte die Stationierung der neuen atomaren Mittelstreckenwaffen Pershing II und Cruise Missiles für Ende 1983 als "Nachrüstung" an, wenn zuvor Verhandlungen über einen Abbau von sowjetischen atomaren Mittelstreckenwaffen scheitern sollten.

Dieser NATO-Beschluss hatte unmittelbar eine bisher nicht dagewesene Mobilisierung der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und in Westeuropa ausgelöst. In der "Nachrüstung" wurde aufgrund völlig neuer Qualitäten der Pershing II und Cruise Missiles eine enorm sich steigernde Atomkriegsgefahr gesehen. Es wurde ein "Atomares Schlachtfeld Europa" (Buchtitel von Nigel Calder) befürchtet. Um diese drohende Gefahr abzuwenden, gründeten sich neben bereits bestehenden Initiativen und Organisationen eine Vielzahl neuer. Die Friedensbewegung wuchs zu einer in Westdeutschland nie zuvor gekannten Bewegung an, die einen bunten Strauß mit vielfältigen, kreativen Aktivitäten und Aktionen entfaltete, z.B. Informationsveranstaltungen und -stände, Unterschriftensammlungen und Friedensgottesdienste, Großdemonstrationen und gewaltfreie Blockadeaktionen vor Atomwaffenstellungen. Zudem wurden politische Konzepte entwickelt, mit denen eine intensive öffentliche Debatte über Abrüstung und Friedenspolitik angestoßen wurde.

Nachdem Verhandlungen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion 1982 gescheitert waren, steigerten sich im Jahr 1983 die Aktionen der Friedensbewegung nochmals deutlich, um die geplante Stationierung neuer atomarer Mittelstreckensysteme durch die NATO zu verhindern. Der "heiße Herbst" wurde u.a. eingeleitet mit der gewaltfreien "Prominentenblockade" vom 1. bis 3. September in Mutlangen. Für den Herbst war eine Aktionswoche geplant mit großen "Volksversammlungen für den Frieden" in Bonn, Berlin, Hamburg sowie für Süddeutschland.

In Ulm wurde im Juni 1983 in einer Aktionskonferenz beraten, welche Aktionsform im Herbst in Süddeutschland stattfinden sollte. Von den 1.000 teilnehmenden Menschen favorisierten die einen eine traditionelle Großdemonstration in Stuttgart, die anderen wollten eine gewaltfreie Massenblockade bei den Wiley-Barracks in Neu-Ulm machen, wo neue Pershing II-Atomraketen stationiert werden sollten. Diese beiden Gruppierungen blockierten sich gegenseitig. Am Ende des ersten Beratungstages stand die Aktionskonferenz vor einer Spaltung. In diese völlig verfahrene Situation brachte der Karlsruher Ulli Thiel von der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) den Vorschlag einer neuen Aktionsform ein, die bisher an ein paar wenigen anderen Orten in sehr viel kürzerer Form bereits angewandt worden war: eine Menschenkette. Und zwar eine Menschenkette über 108 Kilometer zwischen der US-amerikanischen Einsatzzentrale EUCOM in Stuttgart und den Wiley-Barracks in Neu-Ulm. Damit sollten die beiden bisher vorgeschlagenen Aktionsformen verbunden werden. Vor Beginn der Kettenbildung sollten die Wiley-Barracks blockiert werden und nach der Menschenkette sollten Großkundgebungen in Stuttgart und Neu-Ulm stattfinden. Damit war ein Weg für eine gemeinsame Aktion gefunden, auch wenn manche Ulli Thiel mit seinem Kompromissvorschlag für einigermaßen verrückt hielten.

Am 22. Oktober 1983 war dann der Erfolg riesengroß. Die längste Kette, welche die Friedensbewegung jemals zustande brachte, konnte nicht nur lückenlos gebildet werden, sondern über weite Strecken gleich mehrfach. Aus den mindestens benötigten 100.000 Menschen für diese Aktion waren schließlich rund 400.000 geworden. Hunderttausende reichten sich von 12.40 Uhr bis 13 Uhr die Hände, schlossen damit die Kette und verbanden den Raketenstandort Neu-Ulm mit dem EUCOM in Stuttgart. Damit diese herausragende Aktion überhaupt gelingen konnte, war zuvor eine organisatorische Meisterleistung von Menschen unterschiedlicher Organisationen erforderlich, die sich monatelang im Stuttgarter "Aktionsbüro Herbst `83" engagiert hatten. Den größten Verdienst dieses historischen Ereignisses rechne ich aber dem 2014 verstorbenen Ulli Thiel zu!

Vor 40 Jahren, am 22. Oktober 1983 gingen bei der Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm und bei den weiteren Großdemonstrationen in anderen Städten weit mehr als 1,3 Millionen Menschen in Westdeutschland gegen das atomare Wettrüsten auf die Straße. Trotz dieser und weiterer beeindruckenden Aktionen der Friedensbewegung billigte der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 den sogenannten NATO-Doppelbeschluss und genehmigte die Stationierung neuer Atomwaffen in der Bundesrepublik Deutschland. Nur wenige Tage später, ab 25. November 1983, trafen die ersten Atomraketen in Mutlangen ein.

Die Stationierung von Pershing II-Raketen und Cruise Missiles wurde von einem großen Teil der zuvor engagierten Menschen als eine Niederlage der Friedensbewegung angesehen, die zu vielfacher Resignation führte. Dennoch gab es in den Jahren zwischen 1983 und 1987 vielerlei Aktionen der Friedensbewegung, u.a. zahlreiche Aktionen des gewaltfreien Zivilen Ungehorsams vor den Stellungen von Atomwaffen in Mutlangen, Heilbronn, Hasselbach und anderswo.

1985 wurde mit Michail Gorbatschow ein Reformer zum Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt und damit zum De-facto-Herrscher der Sowjetunion. Begünstigt wurde diese Wahl unter anderem dadurch, dass es im Westen eine Friedensbewegung gab. Dies betonte zum Beispiel Georgi Arbatow, ZK-Mitglied, Leiter des Moskauer Instituts für USA-Forschung und Berater aller sowjetischen Generalsekretäre von Breschnew bis Gorbatschow, 1986 bei einem Symposium in Washington: "Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen." Gorbatschow selber hatte 1996 in einem Fernsehinterview mit Franz Alt in der ARD gesagt: "Nur mit Hilfe der westlichen Friedensbewegung konnte ich meine Abrüstungs-Politik gegen die Hardliner im Kreml durchsetzen."

Im Dezember 1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag. Dieser hatte zum Inhalt, dass sowohl die neuen Atomwaffen, deren Stationierung ab 1983 vielfach als große Niederlage der Friedensbewegung angesehen wurde, wieder abgezogen und verschrottet wurden, als auch alle weiteren landgestützten atomaren Mittelstreckensysteme mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern in Ost und West.

Folgt man der Einschätzung von Arbatow und Gorbatschow, dann war die westliche Friedensbewegung der 1980er Jahre letztlich sehr erfolgreich! Sie hat mit ihren Aktivitäten dazu beigetragen, dass Gorbatschow an die Macht kam und ihm dann die wichtigste militärische Abrüstung aller Zeiten, sowie eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, zu verdanken ist.

Die aufsehenerregende Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm war eine sehr bedeutsame Aktion der damaligen Friedensbewegung. Der 40. Jahrestag am 22. Oktober 2023 ist Anlass, nochmals an diese riesige Volksversammlung zu erinnern.

Hinweise zu Videos über die Menschenkette 1983:

Weitere Hinweise:

Veröffentlicht am

21. Oktober 2023

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