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Geheime Mächte oder reale Verhältnisse?

Von Georg Rammer

Angst vor dem Erstarken der Partei AfD treibt die Bundesregierung und die Parteien um. Sie bilden deshalb zusammen mit den Leitmedien eine Einheitsfront, um den drohenden Siegeszug der rechtsextremen Konkurrenz einzudämmen. Bislang ohne Erfolg. Das hat Gründe.

Wahlprognosen in Bund und Ländern geben in der Tat Anlass zur Sorge. Längst zittert die Rechtspartei nicht mehr um den Einzug in die Parlamente; sie kann gelassen abwarten und zusehen, wo sie den ersten oder "nur" den zweiten Platz belegt. Doch wer erwartet, dass Politiker, Wissenschaftler und Medien nach Gründen für diesen Trend suchen, etwa die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im neoliberal radikalisierten Kapitalismus analysieren und überzeugende Gegenstrategien entwickeln, täuscht sich.

Sofern überhaupt nach Ursachen gesucht wird, bedienen viele das fast schon rassistisch anmutende Klischee von der Ossi-Mentalität, die durch die DDR-Diktatur geprägt worden sei. Altbundespräsident Joachim Gauck verortet das rechte Wahlverhalten in der Prägung der DDR-Menschen durch die lange politische Ohnmacht (natürlich nicht nach 1990) und die starke Bindung an autoritäre Führung (vor 1990). Die grüne Bundestagsvize Katrin Göring-Eckardt mutmaßt, die Ostdeutschen seien irgendwo in der Diktaturverherrlichung hängengeblieben.

Solche Äußerungen und die dahinterstehenden Einstellungen sind ignorant und überheblich; sie betreiben in der Konsequenz das Geschäft der AfD. Die Urteilenden lassen sich in ihrem Dünkel nicht einmal durch Ergebnisse des Politbarometers für September irritieren, die die AfD als zweitstärkste Partei ausweist - und zwar für ganz Deutschland. Und wie schaffen es solche Politfunktionäre, die Augen davor zu verschließen, dass in den meisten Ländern der EU rechte bis faschistische Parteien die Macht erobern oder erheblichen Einfluss haben: in Italien, Spanien, Frankreich, Österreich, Finnland, Schweden, Slowakei, Griechenland …?

Wenn jetzt die Festtagsreden zum "Tag der deutschen Einheit" verklungen sind, kann man daran erinnern: "Die skandalöse Enteignung des Ostens ist weiter tabu", wie David Goeßmann die Lage zusammenfasst. Er weist auf die Bilanz der Publizistin Daniela Dahn hin, einst Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs, wonach sich die Zahl der bundesdeutschen Millionäre mit der "Wiedervereinigung" auf über eine Million verdoppelte, während im Osten die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg. "Immer lief es darauf hinaus, den Interessen von westdeutschen Bankern, Unternehmern, Agrarinvestoren, Managern, Politikern und Kultureliten Vorrang vor den Bedürfnissen der Bürger im Osten einzuräumen." Die Gewinner haben die Macht übernommen, schreiben die Geschichte und verachten die Verlierer.

Eine andere Art überheblicher Voreingenommenheit lassen auch Umfragen erkennen, die derzeit breite Publizität erfahren. Nach einer Studie zum Thema "rechtspopulistisches Weltbild" ("Demokratie-Monitoring" der Universität Hohenheim) glaubt jeder Vierte, die Politik sei von "geheimen Mächten" gesteuert; jeder Fünfte meint, Massenmedien würden die Bevölkerung "systematisch belügen". Diese Wortwahl gibt die Befragung vor und interpretiert Zustimmung als rechtes Weltbild. Die meisten Befragten würden wohl nicht über geheime Mächte faseln; allerdings erleben sie, dass sich ihre Lebensverhältnisse verschlechtern und sie dagegen ohnmächtig sind. Sie machen die Erfahrung, dass ein Heer von Konzern- und Banken-Lobbyisten Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt, dass EU-Gesetze zu wichtigen Themen unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen werden. Sie hören von Geheimverträgen, die die EU-Kommissionschefin von der Leyen ohne Mandat per SMS mit dem Pharmariesen Pfizer abgeschlossen hat, von der Milliarden-Kungelei von Bänkern und Politikern bei CumEx, und sie kennen auch zahlreiche Politiker mit lukrativer Anschlussverwendung in der Wirtschaft. Verschwörung, geheime Mächte - oder reale Verhältnisse, deren Kritik zur geistigen Verwirrung gestempelt wird?

Wollten Umfragen wirklich erfassen, wie die Menschen denken und fühlen, müssten die Fragen ihre Lebensrealität berücksichtigen, etwa so: Halten Sie die Kluft zwischen Arm und Reich für vereinbar mit dem sozialen Rechtsstaat? Werden die Interessen der Bevölkerung an einer gut funktionierenden Daseinsvorsorge (Gesundheit, Wohnen, soziale Sicherung) von den Regierenden umgesetzt? Finden Sie es richtig, dass Konzerne Einfluss auf politische Entscheidungen und Gesetze nehmen? Nehmen Ihrer Ansicht nach Medien ihre Aufgabe der Kontrolle der Mächtigen ausreichend wahr?

Antworten auf solche Fragen könnten nicht nur über Meinungen Aufschluss geben, sondern auch über die Ursachen des europaweiten Anwachsens rechter Gruppen. Diese greifen manchmal reale Probleme der Leute auf, bieten aber menschenfeindliche Ideologien und weiter spaltende neoliberale Rezepte als Lösung. Wenn aber Politiker Kritik an undemokratischer Machtkonzentration mit Rechtspopulismus gleichsetzen, deren Scheinlösungen sie teilweise sogar kopieren, bestärken sie die Verhältnisse, die zum Erstarken autoritärer, teils faschistischer Kräfte führen.

Derzeit findet ein Überbietungswettbewerb bei der Bekämpfung der Flüchtlinge statt der Fluchtursachen statt. Menschenverachtende rechtsextreme Ideologie wird nicht humaner, wenn sie von bürgerlichen Parteien kopiert wird und als Grundlage der EU-Außenabschottung dient. Nach Angaben des UNHCR ist die Zahl der Todesopfer auf dem Mittelmeer von Anfang Januar bis September auf über 2.500 gestiegen. Seit 2014 starben auf der Flucht über das Mittelmeer und durch die Sahara etwa 34.000 Menschen. Die Zahl der Flüchtlinge weckt in Deutschland Ängste, zumal die elementare Versorgung der Bevölkerung ohnehin nicht gewährleistet ist, sich spürbar verschlechtert und Lösungsversprechen der Koalition noch mehr soziale Ungleichheit schaffen. Mit dieser berechtigten und nachvollziehbaren Angst gewinnt die AfD Zulauf - und die Politiker in Bund und Ländern versuchen, ihr das Thema streitig zu machen, indem sie, wie auch die EU-Politik, Grundrechte abschaffen und jede Menschlichkeit aufgeben, um Menschen von der Flucht abzuhalten und ein Leben hier unmöglich zu machen.

Das Thema ist bekanntlich komplex und kann angemessen nur durch Beseitigung der Fluchtgründe wie Kriege, Ausbeutung, ungerechte Handelsverträge und aufgezwungene neoliberale "Strukturanpassungsprogramme" gelöst werden. Dazu Ex-Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Gerd Müller (CSU!) 2016: "Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen. Diese Spannungen entladen sich. Dann ist egal, was wir hier festlegen. Die Menschen werden uns nicht fragen, ob sie kommen können."

Auffallend bleibt, dass die politisch Verantwortlichen ein anderes Thema der AfD zwanghaft meiden, obwohl seine Behandlung den Bedürfnissen großer Teile der Bevölkerung entsprechen würde: Friedensverhandlungen, um den Krieg in der Ukraine beenden zu können. In den letzten Monaten hatte die AfD mehrere Initiativen ergriffen, um dem Schlachten in dem Stellvertreterkrieg ein Ende zu bereiten, hatte sich im Bundestag gegen militärische Hilfen für die Ukraine und für Friedensverhandlungen mit Moskau und die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 ausgesprochen. Erst kürzlich trat die AfD-Fraktion für sofortige Friedensverhandlungen unter OSZE-Vermittlung ein. Eigentlich wären Bundesregierung und Parteien verpflichtet, Friedensinitiativen nicht den Rechtsextremen zu überlassen.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 20/2023. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

09. November 2023

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