Ein Land blutet aus
Von Jens Berger
500.000 neue Soldaten.
Das ist die Forderung
der ukrainischen Militärführung an die Regierung. In den ersten Kriegswochen betrug das Durchschnittsalter der ukrainischen Streitkräfte 30 Jahre.
Heute liegt es bei 44
, neue Rekruten sind nicht selten bereits im Rentenalter. Eine ganze Generation wurde ausgelöscht und ein Ende ist nicht abzusehen. Die USA und ihre europäischen Verbündeten "verteidigen die westlichen Werte" in diesem Stellvertreterkrieg bis zum letzten Ukrainer. Wer ein Herz für die Ukraine und ihre Söhne hat, kann nicht anders, als jetzt auf eine sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und auf eine Aufnahme der Verhandlungen mit Russland zu drängen. Dabei geht es nicht "nur" um menschliche Schicksale, sondern auch um die Zukunft der Ukraine. Ein Kommentar von Jens Berger.
Um die Art des Krieges in der Ukraine zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die offiziellen Zahlen der getöteten Zivilisten.
Nach aktuellen Zahlen
des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte sind in den nunmehr fast zwei Jahren nach der russischen Invasion etwas mehr als 10.000 Zivilisten ums Leben gekommen. Darunter mehr als 560 Kinder. Keine Frage – jedes einzelne dieser Opfer ist ein Opfer zu viel. Man kann diese Zahlen aber auch ins Verhältnis setzen, um sie einzuordnen. In zwei Monaten Krieg in Gaza sind
mit rund 20.000
bereits rund doppelt so viele Zivilisten ums Leben gekommen wie in der Ukraine in zwei Jahren – jedes zweite Opfer in Gaza ist übrigens ein Kind. Bereits diese Zahlen legen nahe, dass der Krieg in der Ukraine – anders als der Krieg in Gaza – kein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, sondern ein klassischer Abnutzungskrieg ist, bei dem vor allem Soldaten ihr Leben lassen müssen.
Wie hoch dabei die militärischen Verluste beider Kriegsparteien sind, ist unbekannt. Die Schätzungen liegen je nach dem Interesse der Schätzenden dabei weit auseinander. Man muss wohl davon ausgehen, dass sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite seit Beginn der Invasion zwischen 100.000 und 300.000 Soldaten gefallen sind – die Zahl der Verletzten, Verkrüppelten und Traumatisierten dürfte sogar noch weitaus höher sein.
Im zweiten Kriegsjahr ist der Krieg in der Ukraine zu einem Stellungs- und Abnutzungskrieg geworden. Die mit großem Tamtam vom Westen angekündigte "Sommeroffensive" scheiterte an den gut befestigten und verminten russischen Linien. Eine "Winteroffensive" der Russen dürfte ihrerseits an den sicherlich ebenfalls gut befestigten und verminten ukrainischen Linien auch keine Aussicht auf Erfolg haben. Wir haben eine Situation, in der es mal ein paar Kilometer in diese und mal ein paar Kilometer in die andere Richtung geht. Jeder Kilometer ist dabei mit dem Blut hunderter oder tausender Gefallener erkauft. Parallelen zur Westfront im Ersten Weltkrieg liegen förmlich auf der Hand.
500.000 neu mobilisierte ukrainische Soldaten werden daran nichts ändern. Auch Russland verfügt über Reserven und wird diese – wenn es nötig ist – mobilisieren und in die Schützengräben werfen. Das Einzige, was sich dadurch ändert, ist die Zahl der Verletzten, Verkrüppelten, Traumatisierten und Toten.
Russland und die USA haben es in der Hand, diesen Wahnsinn zu stoppen. Und gerade auf westlicher Seite sollten diejenigen, die vorgeben, ein Herz für die Ukraine zu haben, sich besonders dafür einzusetzen, schnellstmöglich Friedensverhandlungen zu führen. Und dabei geht es nicht einmal "nur" um die Opfer, die nur durch einen baldigen Waffenstillstand und einen kommenden Frieden verhindert werden können.
Schon vor der russischen Invasion hatte die Ukraine mit einem Durchschnittsalter von 41,8 Jahren einen sehr hohen Altersdurchschnitt und mit 1,25 eine der weltweit niedrigsten Geburtenraten. In den letzten 25 Jahren ist die Gesamtbevölkerung von 50,9 Millionen im Jahre 1996 auf 41,4 Millionen im letzten Jahr gesunken. Nach der Invasion haben weitere 6,3 Millionen Menschen das Land
verlassen
– hauptsächlich Frauen und Kinder, aber vor allem in den ersten Wochen auch sehr viele Männer, die über die nötigen Fähigkeiten oder halt das nötige Kapital verfügten, um sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen. Wie viele nach dem Krieg zurückkehren werden, ist offen.
Wenn der Ukraine schon jetzt Männer im klassisch wehrfähigen Alter ausgehen, kann man nur mit Sorge in die Zukunft schauen. Wer soll das Land wieder aufbauen? Kinder und Greise? Wenn nun auch die Älteren an der Front verheizt werden – wer soll die kommende Generation ausbilden? Der Krieg ist nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine demographische Katastrophe. Je länger er dauert, desto hoffnungsloser ist die langfristige Perspektive für das Land.
Ginge es dem Westen um die Ukraine, müssten die politisch Verantwortlichen dies sehen und auf einen baldigen Frieden drängen. Doch um die Stellvertreter geht es in Stellvertreterkriegen ja meist nicht. Wer soll den Wahnsinn also stoppen? Die Ukrainer selbst? Die Wähler in den USA? Die Deutschen werden es jedenfalls sicher nicht sein. Wir haben uns ja mit der Situation abgefunden und haben offenbar keine Probleme damit, die Ukraine zu opfern, und geben ihren Söhnen ein Schießgewehr in die Hand, während wir sie zur Schlachtbank führen.
Quelle:
NachDenkSeiten
- 20.12.2023.