Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Leonardo Boff: Das Ende aller Dinge

Von Leonardo Boff

Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, ziehen wir gewöhnlich Bilanz über den Verlauf des Jahres mit seinen Licht- und Schattenseiten. Diesmal verzichten wir auf diese Aufgabe und fragen uns etwas wirklich Radikales: Wie wird das Ende aller Dinge aussehen?

Wir wissen, wann das Universum begann, vor etwa 13,7 Milliarden Jahren. Können wir wissen, wann es enden wird, wenn überhaupt? Die Antwort hängt von der Wahl des Hintergrunds ab, die wir treffen. In den Wissenschaften über das Universum und die Erde gibt es heute zwei vorherrschende Tendenzen: die quantitative und lineare Sichtweise sowie die qualitative und komplexe Sichtweise.

Die erste Sichtweise stellt die sichtbare Materie (5 %) und die dunkle Materie (95 %), die Atome, die Gene, die Zeit, den Raum und die Geschwindigkeit des Energieverbrauchs in den Mittelpunkt. Sie begreift das Universum als die Summe der real existierenden Wesen.

Die zweite, qualitative, betrachtet die Beziehungen zwischen den Elementen, die Art und Weise, wie Atome, Gene und Energien strukturiert sind. Es reicht nicht aus, zu sagen: Dieser Fernseher besteht aus solchen und solchen Elementen. Was ein Fernsehgerät ausmacht, ist die Organisation dieser Elemente, die mit einer Energiequelle und einer Bildaufnahme verbunden sind. In diesem Verständnis besteht das Universum aus allen Beziehungen.

Jede dieser Optionen geht von etwas Realem und nicht von etwas Imaginärem aus und entwirft ihre Vision von der Zukunft des Universums.

Die quantitative Sichtweise besagt, dass wir uns in einem Universum befinden, das ein geschlossenes System ist, das sich jedoch ständig ausdehnt und durch die vier fundamentalen Kräfte - Gravitationskraft, elektromagnetische Kraft, schwache Kernkraft und starke Kernkraft - ausgeglichen wird. Wir wissen nicht, ob sich das Universum immer weiter ausdehnt, bis es sich völlig auflöst, oder ob es einen kritischen Punkt erreicht und beginnt, sich wieder auf seinen Ausgangspunkt zusammenzuziehen, der sehr dicht an Energie und konzentrierten Teilchen ist. Dem anfänglichen Big Bang (der großen Explosion) würde der abschließende Big Crunch (der große Zusammenbruch) gegenüberstehen.

Es spricht jedoch nichts dagegen, dass unser heutiges Universum die Expansion eines früheren Universums ist, das sich zusammenzog. Es wäre wie ein Pendel, das auf unbestimmte Zeit zwischen Ausdehnung und Rückzug hin und her schwingt.

Andere stellen die Hypothese auf, dass das Universum weder eine vollständige Expansion noch einen vollständigen Rückzug kennt. Es würde wie ein unermessliches Herz schlagen. Es würde Zyklen durchlaufen: Wenn die Materie einen bestimmten Verdichtungsgrad erreicht, würde sie sich ausdehnen; wenn sie dagegen einen bestimmten Verfeinerungsgrad erreicht, würde sie sich in einer ewigen Bewegung von endlosem Hin und Her zusammenziehen.

In jedem Fall hat das Universum nach diesem quantitativen Verständnis aufgrund des universellen Gesetzes der Entropie ein unvermeidliches Ende. Diesem Gesetz zufolge nutzen sich die Dinge unwiederbringlich ab: Unsere Häuser verfallen, unsere Kleidung zerreißt, wir verbrauchen unser Energiekapital, bis wir es ganz aufgebraucht haben, und dann sterben wir. Die Galaxien zerfallen in riesige Nebel, unsere Sonne wird in 5 Milliarden Jahren den gesamten Wasserstoff verbrannt haben, in weiteren 4 Milliarden Jahren dann das gesamte Helium. In diesem unheilvollen Zwielicht wird sie alle Planeten um sich herum, einschließlich der Erde, verbrannt haben. Und ihr Ende wird in einem Weißer Zwerg bestehen.

Mit anderen Worten, wir alle, das Universum, die Erde und jeder einzelne von uns, gehen unaufhaltsam auf den thermischen Tod zu, ein Szenario der Dunkelheit in einem praktisch leeren Raum, durchzogen von verlorenen Photonen und Neutrinos. Ein totaler Zusammenbruch aller Materie und aller Energie. Ein unglückliches Ende aller Dinge.

Aber ist dies das letzte Wort, erschreckend und hoffnungslos? Gibt es nicht eine andere mögliche Lesart der Entwicklung des Universums, die unseren Wunsch zu leben und alles im Sein zu belassen befriedigt?

Ja, es gibt eine solche Lesart, die sich nicht auf die Quantitäten, sondern auf die Qualitäten des Universums stützt, die durch den Fortschritt der verschiedenen zeitgenössischen Wissenschaften ans Licht gebracht wurden. Sie hat drei Mutationen hervorgebracht, die unsere Sicht der Realität und ihrer Zukunft verändert haben.

Die erste war die Relativitätstheorie von Einstein in Verbindung mit der Quantenmechanik von Heisenberg und Bohr. Sie machen uns klar, dass Materie und Energie gleichwertig sind. Im Grunde wäre alles Energie, die immer in Feldern strukturiert ist, wobei die Materie selbst eine kondensierte Form von Energie ist. Das Universum wäre ein unaufhörliches Spiel von Energien, die aus der Hintergrund-Energie (Quanten-Vakuum oder Abgrund, aus dem alles Existierende stammt) ausbrechen und in ständiger Wechselwirkung zueinanderstehen, so dass alle Wesen entstehen.

Die zweite, aus der ersten abgeleiteten Erkenntnis, war die Entdeckung des probabilistischen Charakters aller Phänomene. Jedes Wesen stellt die Konkretisierung einer Wahrscheinlichkeit dar. Aber selbst wenn dies der Fall ist, enthält es in sich selbst noch andere Wahrscheinlichkeiten, die ans Licht kommen können. Und wenn sie zum Vorschein kommen, dann im Rahmen der folgenden Dynamik: Ordnung - Unordnung - neue Ordnung. So wäre das Leben in einer Zeit hoher Komplexität der Materie entstanden, weit entfernt vom Gleichgewicht (in einer Situation des Chaos), die sich selbst geordnet hat und eine neue Ordnung einleitete, die Nachhaltigkeit und die Fähigkeit zur Selbstreproduktion erlangte.

Die dritte, die integrale Ökologie, begreift und artikuliert die unterschiedlichsten Ebenen der Wirklichkeit, indem sie sie als Hervorbringungen des einzigartigen und immensen kosmogenen Prozesses betrachtet, der allen Wesen im Universum zugrunde liegt. Sie hat einen systemischen, pan-relationalen und offenen Charakter in Richtung immer komplexerer Formen, die geordnet sind und immer höhere und bewusstere Sinne hervorbringen können. Dies wäre der Pfeil der Zeit und der Zweck des Universums: nicht einfach den Sieg des Stärkeren (Darwins Anpassungsfähigkeit), sondern die Verwirklichung der Virtualität auch des Schwächeren (Swimme).

Diese drei Stränge bieten uns eine andere Vision von der Zukunft des Lebens und des Universums. Ilya Prigogine hat die Existenz dissipativer Strukturen aufgezeigt, die Entropie abbauen, einfacher gesagt, die Müll in eine neue Energiequelle anderer Ordnung verwandeln. In diesem Verständnis befindet sich das Universum noch in der Entstehung, denn es ist noch nicht geboren. Es ist offen, selbstorganisierend, kreativ, expandierend, schafft Raum und Zeit. Der Pfeil der Zeit ist unumkehrbar und mit einem Ziel aufgeladen. Wohin werden wir gehen? Wir wissen es nicht. Er deutet auf die Existenz eines großen Anziehungspunktes hin, der uns in die Richtung seiner selbst zieht.

Wenn in dem System, das die Quantität und das geschlossene System bevorzugt, die Entropie vorherrschte, funktioniert hier, in dem offenen System, das die Qualität betont, die Syntropie, d. h. die Fähigkeit, Unordnung in eine neue Ordnung, Müll in eine neue Energie- und Lebensquelle zu verwandeln. So entsteht zum Beispiel aus dem Abfall der Sonne (aus den von ihr ausgesandten Strahlen) fast alles, was auf der Erde existiert.

Diese Vision steht mehr im Einklang mit der inneren Dynamik des Universums. Es bewegt sich vorwärts und schafft die Zukunft. Das Leben strebt danach, sich auf jede erdenkliche Weise fortzusetzen. Unsere dauerhafteste Sehnsucht ist es, länger und besser zu leben. Der Tod selbst wäre eine intelligente Erfindung des Lebens selbst, um sich von den raum-zeitlichen Grenzen zu befreien und das Spiel der Beziehungen von allem mit allem fortsetzen zu können und sich einer absoluten Zukunft zu öffnen.

Deshalb macht das Leben diese Reise von der Zeit in die Ewigkeit, um dort seinen Weg der Zukunft und der Expansion fortzusetzen. In einer theologischen Vision à la Teilhard de Chardin ist dies der Zeitpunkt, an dem wir, wie er sagte, "implodieren und explodieren" in der Höchsten Wirklichkeit, die alles geschaffen hat. Alle Wesen werden ihr Ende kennen, nicht als Ende, sondern als ein erreichtes Ziel. Was ist das Ziel aller Wesen? Ihr Ende, ihre volle Verwirklichung zu erreichen und so in die Arme von Gott-Vater-und-Mutter zu fallen und ein Leben zu leben, das keine Entropie mehr kennt, sondern nur noch die immer offene und endlose Zukunft.

Und dann wird es das reine Selbst in der strahlenden Pracht seiner Herrlichkeit sein.

Leonardo Boff ist Autor von: "De dónde vengo" El universo, la vida, el espíritu y Dios, Animus/Anima, Petrópolis 2022; con el cosmólogo Mark Hathaway, El Tao de la Liberación, una ecología de la transformación, Orbis Books, NY, Vozes, Petrópolis. Trotta, en español.

Quelle:  Traductina , 30.12.2023.

Veröffentlicht am

31. Dezember 2023

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von